»Traumtag« in der Redaktion

Am nächsten Tag hatte ich einen dieser bizarren, abgefahrenen Arbeitstage, an denen so viele tolle Storys in die Redaktion flattern, dass der Chefredakteur bei der Planung des Seitenlayouts fast einen Orgasmus bekommt. Solche Tage gibt es gelegentlich. Zufälliges, Fatales und Makabres fügt sich zu den unwirklichsten Geschichten des menschlichen Lebens zusammen. Und des Sterbens.

Wenn man diese Geschichten erfinden würde, würde sie einem keiner glauben. Oft fehlen selbst uns Journalisten die Worte, um sie zu beschreiben, deshalb betrachten wir das Schreiben in solchen Fällen als Prozess, an dessen Ende ein bestimmtes Produkt herauskommen muss. So fällt es am leichtesten.

Das ist wie Malen nach Zahlen: Das gedruckte Wort wird nach vorgegebenem Muster produziert, Schattierungen und Fakten, Farbe und Kommentare werden zu ungefähr gleichen Teilen zusammengemischt. Man betrachtet die Tatsachen, sucht sich einen Aufhänger und arbeitet Blickwinkel und Schwerpunkt aus. Das ist vielleicht keine Kunst, aber durchaus Kunstfertigkeit, man braucht Geschick und Präzision, damit die Wörter passen. Sorgfalt ist dabei von größter Bedeutung, auch wenn eine kleine Ausschmückung hier und da der grundsätzlichen Aufrichtigkeit, mit der man an die Sache herangeht, erst die nötige Struktur verleiht. Was am Ende herauskommt, ist ein mehr oder weniger originalgetreues Abbild eines Vorfalls, Unfalls oder Verbrechens, eines gelebten oder verlorenen Lebens.

Dieses Abbild ist natürlich nicht immer schmeichelhaft oder gar vollständig. Keine Chance, vorher die Lage abzuschätzen, sich die Krawatte zurechtzurücken und zu lächeln. Abgebildet wird ein Stillleben, nicht das echte Leben. Was auch immer den Lesern suggeriert wird – das, was sie sehen, ist weder die Wahrheit noch die Echtzeit noch die Realität. Es ist ein sorgfältig konstruierter Eindruck, aus einem bestimmten Blickwinkel, in einem bestimmten Licht. Ein Ausschnitt, ein kurzes Zitat.

Das muss so sein. Die Medien verkünden keine Neuigkeiten, sie generieren sie, indem sie gewisse Vorkommnisse heraussieben, sie zurechtstutzen, Prioritäten setzen, sie zu einem veränderlichen Produkt formen, das ihnen ihre Leser, Zuschauer oder Zuhörer immer wieder abkaufen.

Hier ein Abriss meines Arbeitspensums an diesem Tag:

In einer städtischen Wohnsiedlung starb ein Mann an einem Herzinfarkt. Nicht weiter erwähnenswert, bis auf die Tatsache, dass der Arzt beim besten Willen nicht wusste, wie er den Mann aus dem Haus und in den Leichenwagen transportieren sollte. Er wog mehr als dreihundert Kilo. Die Feuerwehr musste die Fensterfront des Hauses ausbauen und die besudelte Leiche (der Mann hatte die Kontrolle über sämtliche Körperfunktionen verloren) mit einer speziellen Seilwinde heraushieven. Zehn Männer mühten sich zwei Stunden lang damit ab, ihn in den Wagen zu laden. Er war vierunddreißig und hatte Zwillingstöchter, die an diesem Tag acht Jahre alt wurden.

In dem reizenden Vorort Splott wurde eine Rentnerin von einem Auto überfahren und starb. Ihr Sohn war drei Jahre zuvor auf derselben Straße von einem Auto erfasst und getötet worden, und von diesem Unfall hatten wir noch Fotos im Archiv.

In einer Straße in Grangetown wurde eine Frau vergewaltigt. In Cathays erhängte sich ein Mann. Im Zentrum ereigneten sich zwei weitere Autounfälle.

Rund zehn Kilometer vom Zentrum entfernt starb ein Mann in seiner Badewanne, nachdem ein elektrisches Heizgerät von der Badezimmerwand gekracht, am Badezimmerschränkchen abgeprallt und ins Wasser gefallen war.

In Llandaff hängte sich ein Mann an seinem Treppengeländer auf. Er wohnte in einem dreistöckigen viktorianischen Haus, und es war ein langer Sturz durchs Treppenhaus. Sein Kopf wurde sauber vom Körper getrennt und rollte unter die Treppe, wo er zwanzig Minuten lang lag, bis die Polizei ihn zwischen den dort abgestellten Straßenschuhen fand.

Bizarres, Herzergreifendes, Prosaisches, Entsetzliches, abgehandelt an einem einzigen Arbeitstag. Routine.

Das sagte ich der Lebensgefährtin des fetten Mannes natürlich nicht, als ich mit meinem Notizblock auf dem Gehweg stand und sie mich eindringlich bat, ihm seine Würde zu lassen. Ich sagte ihr nicht, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. Ihr sanfter Riese würde für immer überdimensionaler Gegenstand des Mitleids und der Faszination sein. Mehr nicht.

In neuneinhalb Stunden besuchte ich drei polizeilich abgesperrte Schauplätze und zwei Privatwohnungen, sprach mit zwei trauernden Angehörigen, zwei Polizisten, einem Stadtrat, vier Nachbarn und einem Müllmann. Ich schrieb die Aufmacher für drei Seiten und schaffte alle Abgabetermine in letzter Minute. Es war ein langer Tag.

Und natürlich tickte hinter all dem in jeder Minute des Tages eine größere Story in meinem Kopf, eine bessere Story, mit Figuren, die mir näherstanden. Eine Story, zu der auch ich inzwischen gehörte, in der ich eine Hauptrolle spielte, die ich immer weniger zu kontrollieren vermochte.

Ich hätte also ausnahmsweise gut auf einen Anruf von Mike verzichten können, als ich um halb acht endlich die Redaktion verließ. Ich fühlte mich leer wie ein ausgeblasenes Ei, und durch meinen Kopf ratterte eine Million Wörter, schnell wie ein Repetiergeschütz. Es kostete mich schon Mühe, auf dem Weg zum Auto einen Fuß vor den anderen zu setzen.

»Sie scheint das alles für ein Spiel zu halten«, sagte er eine halbe Stunde später fassungslos und brach auf meinem Sessel fast in Tränen aus. Er war vorher noch nie allein in meinem Wohnzimmer gewesen, und dieses Bild, dieser Gedanke war beinahe zu viel für mich. Mike in seinem grauen Büroanzug und schwarzen Lederschuhen. Mike, dessen Hände ineinander verschränkt auf dem Tisch lagen, direkt vor meiner Nase. Mike, der mit mir sprach.

Wenn man die Weltzeit in ihrer Gesamtheit betrachtete, war seit diesem Morgen nur ein hauchdünner Zeitabschnitt vergangen, aber dieser Tag, dieser kopflose Mann … ein kopfloser Mann, verdammt noch mal! Es reichte. In meinem Inneren hatte sich ein Riss gebildet, durch den pfeifend die Leere hereinwehte.

Ich beobachtete, wie die kleine Ader über Mikes linker Schläfe mit erstaunlicher Geschwindigkeit pulsierte. Er hyperventilierte fast. In der einen Woche seit unserer verhängnisvollen Pubbegegnung mit dem schönen James schien Cora endgültig implodiert zu sein.

Mike berichtete, dass sie sich bereits zweimal geweigert hatte, zur Schule zu gehen, und am Dienstag im Tesco Metro fast verhaftet worden wäre, weil sie eine Kassiererin, die sich geweigert hatte, ihr weiteren Wodka zu verkaufen, wüst beschimpft und mit Schokoriegeln aus dem Regal neben der Kasse beworfen hatte. Von all dem hatte ich nichts mitbekommen. Cora hatte mir zwar in den letzten Tagen eine Reihe von Nachrichten hinterlassen – manche wütend, manche weinerlich –, aber ich war zu beschäftigt und zu beleidigt gewesen, um sie anzurufen.

»Sie hat gedroht, dass sie zur Polizei geht und erzählt, was an dem Abend passiert ist. Sie sagt, sie kann nicht mit der Schuld leben, es gewusst zu haben. Was gewusst zu haben, Herrgott noch mal? Lizzy, ich glaube, sie will mich bestrafen für diese Nacht. Für Jenny. Für das, was ich ihrer Meinung nach getan habe. In ihren Augen bin ich schuld daran, dass sie leidet, und deshalb soll ich jetzt genauso leiden.«

Er stieß einen tiefen, gequälten Seufzer aus und ließ den Kopf in die Hände sinken. »Ich erkenne sie überhaupt nicht wieder. Sie ist so anders. Sie ist immer nur wütend und glaubt mir überhaupt nichts mehr. Wenn ich nur fünf Minuten zu spät von der Arbeit komme, macht sie mir schon alle möglichen Vorwürfe. Ich weiß, dass sie meine Sachen durchsucht. Außerdem denkt sie, dass wir beide uns hinter ihrem Rücken treffen und uns gegen sie verschwören. Sie ruft ein halbes Dutzend Mal pro Tag im Büro an. Sie trinkt zu Hause Alkohol. Der Arzt hat ihr Tabletten gegeben, aber sie nimmt sie nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Als ich heute um halb sechs nach Hause kam, hatte sie getrunken. Seit Stunden, wie es aussah. Sie ist wieder nicht zur Schule gegangen.« Er zögerte einen Moment, als versuchte er zu entscheiden, ob er noch mehr zu sagen hatte oder nicht.

Verdammt noch mal, Mike, brüllte eine Stimme in meinem Kopf. Was kann ich dagegen tun? Sie ist deine Frau!, hätte ich am liebsten gesagt. Aber die Worte blieben mir im Mund stecken, und ich starrte über den Tisch zu Mike hinüber, der weiter seinen unaufhaltsamen Monolog abspulte.

»Sie hat Whiskey getrunken oder so was. Mitten am Tag! Dann haben wir angefangen, uns deswegen zu streiten oder wegen etwas anderem, ich weiß es nicht mehr genau. Und plötzlich fängt sie an zu weinen, und ehe ich michs versehe, hat sie einen Becher nach mir geworfen!« Er hob die Haare an, die ihm in die Stirn hingen, und zeigte mir einen großen roten Striemen, der sich allmählich lila färbte. »Einen Becher, verdammt noch mal! Sie hätte mir das Auge ausschlagen können! Ich ertrage diese Scheiße einfach nicht mehr.«

Auf meinem unendlich weit entfernten Aussichtspunkt auf der anderen Seite des Couchtischs war ich entsetzt, wenngleich auf seltsame, gleichgültige Weise, aber auch beeindruckt. Das blutige Abzeichen, das Coras neu entdecktem Zorn eine physisch greifbare Form verlieh, übte eine eigenartige Faszination auf mich aus. Sie hatte gut gezielt. Geistesabwesend streckte ich die Hand aus, um mit den Fingern über den Striemen zu fahren. Ich wollte das dunkelviolette Fleisch berühren, wollte die Wunde fühlen, die erste greifbare Wahrheit seit langem. Aber Mike wehrte die Geste ab und packte mit plötzlicher Heftigkeit mein Handgelenk, bevor er sich zusammenriss, tief einatmete und seine Hand auf meine legte.

»Hörst du mir überhaupt zu, Lizzy?« Er brach ratlos ab und schien den Tränen nahe.

»War es Tee oder Kaffee?«, erkundigte ich mich. Aus der großen Distanz, mit der mein Verstand unser Gespräch beobachtete, wirkte diese Frage vernünftig.

»Was?«

»In dem Becher. Cora trinkt weder Tee noch Kaffee.«

»Lizzy! Was spielt das denn für eine Rolle? Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll!« Er stieß einen so schweren Seufzer aus, dass er damit das ganze Zimmer zum Wackeln brachte. »Was stimmt nicht mit uns?«

Mit uns? Was meinst du mit uns? Von der Tatsache einmal abgesehen, dass du ein rückgratloser Passiv-Aggressiver bist, der sich weigert, für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen, ist deine Frau auch noch eine Irre, die dir einen Mord anhängen will, den du, wenn ich so recht darüber nachdenke, tatsächlich begangen haben könntest, während ich vermutlich eine unmoralische Manischdepressive bin, weil ich darüber nachdenke, sie umzubringen. Meintest du das?

Das waren meine Gedanken, die ich natürlich nicht aussprach. (Weil ich darüber nachdenke, sie umzubringen? Hatte sich das wirklich in meinen beinahe unterbewussten Gedankenfluss gemogelt? Wo zur Hölle war das hergekommen?)

»Lizzy? Lizzy, was sollen wir tun?«, flehte Mike.

In der nächsten Sekunde wurde mir bewusst, dass er meine Hand so schmerzhaft quetschte, als hinge sein Leben davon ab. Auf einmal konnte ich förmlich spüren, wie sich Knochen und Blut seiner Hand langsam mit mir verbanden, wie sie mit mir verschmolzen, mich zurückholten von der anderen Seite der tiefen, trennenden Kluft. Dieser Vorgang faszinierte mich derart, dass ich den Blick nicht von seiner Hand abwenden konnte, von seinem heruntergekauten Daumennagel, den drei Sommersprossen neben dem kleinen Netz aus Falten am Daumenansatz, von seinen kräftigen Fingern.

Ich konzentrierte mich aufs Atmen und merkte, dass er mich verwirrt anstarrte, während ein Ausdruck von Besorgnis in seine Augen trat.

Nach mehreren Sekunden sagte ich: »Ich rede mit ihr. Aber nicht heute Abend. Heute kann ich nicht reden. Auch nicht denken. Morgen. Bleib heute Nacht bei Stevie. Aber vorher isst du mit mir zu Abend. Ich habe Pizza und Wein. Ich brauche Wein. Viel Wein.«

Er nickte.

Also wurde die Pizza in den Ofen geschoben und der Wein eingegossen, ohne dass wir noch mehr dazu hätten sagen müssen. Während wir vor dem Fernseher aßen und tranken und dabei plauderten, als wartete dort draußen keine Welt voller Probleme und Streit auf uns, herrschte ungetrübter Friede. Irgendwann fiel ich in einen traumlosen, warmen Schlummer. Als ich aufwachte, war ich mit meiner alten Strickjacke zugedeckt, und auf der Sofalehne lag ein kleiner Zettel: »Danke, dass du immer für mich da bist, Kuss, Mike.« Ich starrte lange auf den Zettel.

Der Schlag kam aus heiterem Himmel. Niemand hatte mich je zuvor ins Gesicht geschlagen, und der Knall war so laut, dass ich eine halbe Sekunde lang glaubte, er komme von außerhalb des Zimmers. Während Cora mit schreckgeweiteten Augen die Hand zurückzog, breitete sich hitzige Röte auf meiner Wange aus. Ich merkte, dass mein Mund offen stand, und klappte ihn wieder zu. Ich war so perplex, dass ich gleichzeitig gegen einen plötzlichen Lachreiz und das Verlangen ankämpfen musste, so fest ich konnte zurückzuschlagen. Das hätte allerdings fatale Folgen haben können, denn so heftig wie mein Blut kochte, hätte ich sie vielleicht zu Tode geprügelt, wenn ich meinen Händen freien Lauf gelassen hätte. Unwillkürlich machte ich einen Schritt auf sie zu, und sie wich ängstlich zurück.

Unser Gespräch am Abend nach Mikes Besuch war von der ersten Minute an schlecht gelaufen.

»Hat er dich geschickt? Wo ist er?«, hatte Cora gefragt, bevor die Tür noch ganz offen war. »Ich vermute, er hat dir erzählt, ich hätte die Nerven verloren oder so was. Weil natürlich alles meine Schuld ist. Bei Michael ist immer alles die Schuld der anderen, nicht wahr?«

Sie roch stark nach Alkohol und hatte offensichtlich geweint. Nachdem ich eingetreten war, nahm sie Kurs auf die Küche, kämpfte vergeblich mit der Kindersicherung einer Pillendose und knallte sie auf die Küchenablage, als wollte sie sie zur Unterwerfung zwingen. Ich nahm ihr die Dose aus der Hand und las das Etikett. Oh mein Gott: Valium.

»Wogegen nimmst du die, Cora? Du bist ganz offensichtlich betrunken. Versuchst du etwa, dich umzubringen?«

»Das würde dir so passen, oder? Wäre das nicht sowieso die einfachste Lösung für dich? Und eine gute Story noch dazu. Aber von guten Storys hast du bestimmt die Nase voll fürs Erste, oder Lizzy?«

»So interessant wärst du jetzt auch wieder nicht, Cora. Es sei denn, es würde herauskommen, dass du eine Affäre mit Catherine Zeta-Jones hattest.« Ich versuchte, die Sache mit einem Witz herunterzuspielen und ging zum Herd, um Wasser aufzusetzen. »Ich mache dir einen Kaffee, soll ich? Willst du was essen?« Ich schnappte mir das Brotmesser und begann mit geschäftiger Sachlichkeit, an einem Laib Brot herumzusägen.

»Kaffee, na klar. Kaffee ist ja für alles die Lösung. Mein Leben zerbricht, und alles, was du mir zu bieten hast, ist Kaffee? Lizzy, die immer auf alles eine Antwort weiß? Lizzy, die immer alles unter Kontrolle hat, und Kaffee ist alles, was dir einfällt? Du hast ganz schön nachgelassen.«

»Du zerbrichst, Cora, nicht dein Leben. Ich weiß nicht, warum du so fest entschlossen bist, dein Leben auch noch zugrunde zu richten.« Ich steckte die Brotscheiben in den Toaster und machte den Kühlschrank auf.

»Schau an. Als könntest du kein Wässerchen trüben. Es ist doch immer dasselbe. Du musst dich ja wirklich sehr überlegen fühlen. Cool, gelassen, kompetent und ach so wunderschön. Alle hören dir zu, wenn du redest, ist es nicht so, Lizzy? Aber du hörst mir nicht zu.«

»Es ist schwer, jemandem zuzuhören, der so besoffen ist wie du in letzter Zeit. Was versuchst du mir mitzuteilen, Cora? Bitte sag’s mir! Ich kann keine Gedanken lesen.«

»Das weißt du nur zu gut. Du willst es bloß nicht zugeben.«

»Wir reden hier über Jenny, nicht wahr? Cora, warum kannst du es nicht einfach auf sich beruhen lassen? Das ist ein Jahr her. Sie ist tot. Sie ist tot. Selbst wenn es stimmen würde, was du Mike und ihr unterstellst, was macht das jetzt noch für einen Unterschied? Ihr beide seid zusammen, hier und jetzt. Warum ist das nicht genug?« Ich merkte, dass ich meine Wut kaum noch unter Kontrolle hatte.

Cora starrte ungefähr zehn Sekunden in die grenzenlose Weite des Kühlschranks und kämpfte gegen die Tränen an.

»Weil ich es wissen muss. Ich muss wissen, ob sie … ob sie es … es macht nämlich sehr wohl einen Unterschied … den entscheidenden Unterschied. Was, wenn er … damals … er war betrunken. Du weißt nicht, wie es ist, wenn er betrunken ist. Wie er dann sein kann. Oh, warum sind wir nur nach Cardiff zurückgekommen?«

»Du redest sinnloses Zeug«, fuhr ich sie an und knallte die Kühlschranktür zu. Ich war am Ende mit meiner Geduld.

»Das verstehst du nicht. Du verstehst es einfach nicht.«

»Ich verstehe nicht, warum du ihm einen Becher an den Kopf geworfen hast. Wie sollte er deiner Meinung nach darauf reagieren?«

»Deswegen hat er dich gebeten herzukommen?«

»Ja, hat er. Verständlicherweise. Um dich zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen. Er kapiert nicht, warum du die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen kannst.«

»Auf sich beruhen? Du lässt sie doch auch nicht auf sich beruhen, oder? Du nutzt sie aus, um Karriere zu machen, verdammt! Dieses ganze Zeug, das du in der Zeitung schreibst, die Tränen, der Herzschmerz, die arme leidende Familie. Für dich hätte es gar nicht besser laufen können, nicht wahr? An uns verschwendest du keinen Gedanken, daran, was es mit uns anstellt, mit mir anstellt!«

»Mit dir hat das doch überhaupt nichts zu tun! Es ist nur eine Story, eine erfundene Story für die Zeitung. Man füllt damit die Seiten, das ist alles, und dieses ganze Herzschmerz-zeug gehört eben dazu. Wenn ich es nicht geschrieben hätte, hätte es ein anderer geschrieben. Das weißt du genau.«

»Schon, aber hätte derjenige es auch nur halb so gut gemacht wie die atemberaubende, unendlich begabte Elizabeth? Für dich ist es die Eintrittskarte zur BBC, nicht wahr? Sag bloß, ich ruiniere dir deinen großen Traum? Ich und meine armselige Ehekrise? Tickt sie so, deine dreckige kleine Fantasie? Es könnte noch viel dreckiger werden, Lizzy, wenn die Leute wüssten, was du getan hast. Dass du diesen Typen dafür bezahlt hast, dass er die Klappe hält. Ich bin nicht so dumm, wie du denkst. Ich bin nicht so naiv und bescheuert. Ich weiß, dass du bis zu deinem hübschen Hals in der Sache mit drinsteckst. Da können dich keine großen blauen Augen der Welt wieder rausholen. Du hast verschwiegen, dass sie in dem Club war, selbst als du schon wusstest, dass sie tot ist. Du hast verschwiegen, dass Mike sie kannte. Du hast dir das Schweigen dieses Mitwissers erkauft. Du hattest recht, als du gesagt hast, dass es weniger darum geht, wie es war, als darum, wie es aussieht. Und, wie sieht es jetzt aus? Nichts zu verbergen? Wie schnell würde sich dein geheiligter BBC-Traum wohl in Luft auflösen, wenn jemand die Katze aus dem Sack ließe und verraten würde, wie viele Lügen du erzählt hast? Und wozu? Warum das alles? Was hast du zu verbergen?«

»Cora«, warnte ich sie, »nimm dich in Acht. Was du da sagst, ist äußerst unklug. Mike ist dein Mann, er ist derjenige, den es am schlimmsten erwischen würde. Willst du wirklich mit dem Finger auf ihn zeigen? Willst du, dass ihn die Polizei eines Verbrechens für schuldig hält, das er nicht begangen hat? Was ich getan habe, habe ich getan, um ihn und dich zu schützen, und wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich ein bisschen mehr Dankbarkeit erwartet.«

Ihre Augen blickten glasig ins Leere, aber ich spürte, wie ihr Zorn unter der Oberfläche brodelte. Während ich mich zu einem harten, scharfkantigen Eiszapfen herunterkühlte, schwoll Cora zu voller Orkangewalt an.

»Dankbarkeit?! Dankbarkeit?! Du hast es nicht für mich getan, Elizabeth. Es ging nie um mich, nicht wahr? Du musst mich wirklich für total bescheuert halten. Das hast du immer schon getan. Aber du irrst dich.«

»Mir kommst du schon ziemlich bescheuert vor, Cora«, sagte ich kaltblütig und gelassen. »Wenn er vorher noch keine Affäre hatte, dann sucht er sich jetzt bestimmt eine. Wer würde das nicht tun?«

Das war grausam von mir, ich weiß.

In diesem Moment passierte es. Es war kein damenhafter Filmklaps, beherrscht und ohne viel Wut dahinter, sondern ein schonungsloser, ungraziöser, voll durchgezogener Hieb mit der Handfläche.

Es dauerte eine Minute, bis ich mich damit abgefunden hatte, dass sie es tatsächlich getan hatte. Jeder Teil meines Körpers war zur Faust geballt. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder zurückschlagen sollte oder beides. Der Moment der Entscheidung dehnte sich aus, es herrschte fassungsloses Schweigen. Cora, deren Wut sich in einer Flut von Tränen auflöste, brach es als Erste.

»Oh Lizzy, es tut mir so leid! Ich weiß nicht, warum ich … ich weiß nicht, was ich mir … Bitte, Lizzy, vergib mir! Es tut mir so wahnsinnig leid.«

Aber ich konnte mich weder bewegen noch etwas entgegnen. Ich merkte, dass ich plötzlich wieder das Brotmesser in der Hand hatte und es in einer fest geballten, weißen Faust vor mir ausstreckte. Ich hatte es auf die Ablage gelegt, als ich auf den Toast gewartet hatte. Coras Augen wanderten von der Klinge zu meinem Gesicht und wieder zurück, während mein Blick die entgegengesetzte Richtung einschlug. Der ganze Raum hielt die Luft an.

Du könntest es einfach tun, sagte eine winzige Stimme links hinten in meinem Gehirn.

Was könnte ich?

Es tun. Es wäre Selbstverteidigung.

Warum?

Denk dran, wie einfach alles wäre.

Aber wie würde es aussehen?

Sie hat Depressionen, nimmt Antidepressiva, ist paranoid. Sie hat dich angegriffen, du musstest dich verteidigen. Jeder würde es verstehen. Sie hat ihren eigenen Mann angegriffen.

Aber das ist doch lächerlich, oder? Das könnte ich nicht. Es wirklich tun. Dafür würde ich nie eine plausible Erklärung finden.

Vielleicht schon, wenn du auf die richtige Weise lächeln und es auf die richtige Weise erzählen würdest. Und dann denk dran, was alles möglich wäre …

Ich blieb unbeweglich stehen, eine Ewigkeit. Auf Coras Gesicht zeichnete sich jetzt echte Angst ab. Sie erkannte, dass meine Unbeweglichkeit und mein Schweigen nur Tarnung für etwas waren, mit dem ich tief in meinem Inneren rang. Meine weißen, krampfhaft um das Messer geschlossenen Fingerknöchel bezeugten, wie fest mich der Gedanke im Griff hatte.

Erst das Geräusch von Mikes Schlüssel im Türschloss durchschnitt das unsichtbare, bis zum Zerreißen gespannte Band der Zeit, und der brennende Schmerz des Zurückschnappens öffnete mir die Augen für das Theaterstück, das wir beinahe aufgeführt hätten. Als ich Mikes Schritte hörte, machte ich reflexartig einen Schritt nach hinten, legte das Messer neben den Laib Brot auf die Küchenanrichte und zog mich, als er die Tür öffnete, in Richtung Herd zurück, wo ich mich von Cora wegdrehte und mein Gesicht in Ordnung brachte, meine Stimme.

»Was ist hier los?« Verwirrt von unserem Schweigen blickte er zwischen Cora und mir hin und her. Ich drehte mich um und sagte hallo.

»Lizzy, deine Lippe blutet. Was ist passiert?«

»Ich habe mir draufgebissen«, sagte ich ruhig. Ohne nachzudenken war mir eine plausible Lüge eingefallen, ein weiterer Reflex. Coras Mund stand immer noch offen, und es gelang ihr nur mit Mühe, ihn zu schließen. Wieder blickte er zwischen uns hin und her.

»Was ist hier passiert? Habt ihr beide euch jetzt etwa auch gestritten? Oh, bitte nicht! Bitte nicht, ja? Kein Streit mehr. Bitte, Cora, ich halte das nicht aus.«

Sie flüchtete sich in seine Arme, aus Angst vor mir oder aus Reue.

»Ich liebe dich. Ich liebe dich«, schluchzte sie, und er hielt sie fest und streichelte ihr übers Haar.

»Lizzy?«

»Wir streiten doch gar nicht«, versicherte ich glaubhaft. »Wir kochen gerade Tee, und ich habe ihr von einem meiner Artikel von heute erzählt. Keine schöne Geschichte. Es geht um einen geköpften Mann, und ich hätte vielleicht nicht ganz so anschaulich werden dürfen. Cora, gib mir doch mal die Küchenrolle rüber, ja? Und die Marmelade, ich bin am Verhungern!«

Ich sollte vielleicht klarstellen, dass ich nicht wirklich eine Stimme in meinem Kopf gehört hatte – jedenfalls nicht wie eine Schizophrene, die tatsächlich Stimmen hört, die nicht ihre eigenen sind. Bei mir war es lediglich mein Verstand, der verschiedene Optionen abwog, sie hinterfragte, Vorschläge machte.

Trotzdem war es bereits das dritte Mal, dass ich darüber nachgedacht hatte, sie umzubringen.