Jenny
Hi!«, sagt sie strahlend und breitet in einer Geste, die uns alle einschließt, die Arme aus. Willkommen in unserer Runde.
Sie taucht einfach so auf. Innerhalb von nur fünf Sekunden hat sie Gestalt angenommen, vollständig, endgültig, tödlich.
Und nach einem kurzen Moment der Unschlüssigkeit und der diffusen Überraschung treten wir beiseite und lassen sie herein. »Du siehst toll aus!«, ruft sie und wirft links und rechts von meinen Wangen Küsse in die Luft.
Ich weiß noch genau, wie ihr glänzendes rotes Haar, das sie in einem glatten, perfekt geschnittenen Bob trug, im Schein der bunten Discolichter zu pulsieren schien. Sie trug einen schwarzen Lederrock, nicht zu kurz, aber genau richtig, um ihre langen, glatten Beine in den eleganten, wadenhohen Lederstiefeln noch länger wirken zu lassen. Ihre Absätze waren mindestens zehn Zentimeter hoch. Schon auf den ersten Blick war sie der Alptraum jeder liierten Frau.
Ich glaube, es waren die Stiefel, die zuerst Mikes und Stevies Blicke auf sich zogen, aber vielleicht blieben sie auch an der schwarzen Spitzenweste hängen, die sich eng um ihre vorwitzige Brust schmiegte. Sie bewegte die Hüften leicht zu den Bässen der Musik und ließ ein Julia-Roberts-Lächeln aufblitzen, so als freue sie sich aufrichtig, uns zu sehen.
Keiner wusste, wer sie war.
Sie kam mir bekannt vor, irgendwie. Ich hatte das Gefühl, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Sie hingegen kannte Cora und mich ganz eindeutig, denn sie umarmte uns so stürmisch wie alte Freundinnen und rief etwas, das wie »Lizzy, du siehst fantastisch aus« klang, über den unablässig aus den riesigen Boxen dröhnenden Lärm hinweg.
Und nachdem sie unsere Arme unter ihre eigenen geklemmt hatte, als wären wir ungezogene Kinder, konnte natürlich niemand mehr fragen: Entschuldigung, aber wer bist du eigentlich? Das ging einfach nicht.
Da stand sie also mitten unter uns, kannte meinen Namen und hatte ihren Arm um Coras Schulter gelegt. Sie grüßte Stevie mit einem Winken, rief »Ich bin Jenny« und zwängte sich ins Zentrum des Vierecks, das wir gebildet hatten. Und plötzlich konnten wir uns nicht mehr unverblümt nach ihrem vollen Namen erkundigen oder ihr die anderen Fragen stellen, die uns auf der Zunge brannten. Sie war ein unbeschriebenes Blatt, das wir erst in diesem Moment und allen, die noch folgen sollten, mit Inhalt füllten, in das wir unbewusst unsere auf sie gemünzten Erwartungen und Befürchtungen projizierten.
Weil uns nichts anderes einfiel, sagten wir hallo und machten Bemerkungen darüber, wie schrecklich voll es doch sei, in der Hoffnung, dass sie sich bald langweilte und zu ihren eigenen Freunden zurückkehrte, wo auch immer sie stecken mochten. Aber diesen Gefallen tat sie uns nicht.
Während weiter Banalitäten ausgetauscht wurden, musterte sie Mike und Stevie prüfend und anerkennend von Kopf bis Fuß und schenkte jedem der beiden ein strahlendes Lächeln. Wir fragten sie, ob sie das Charlie’s mochte und die Musik und ob sie öfter herkäme. »Um Himmels willen, so gut wie nie!«, antwortete sie und erzählte von einer total abgefahrenen kleinen Szenebar auf der Cannon Street, die viel mehr ihr Fall sei.
Diese Antwort hatte ich erwartet. Das vergeblich um Coolness bemühte Charlie’s war wohl der letzte Ort, der »ihr Fall« gewesen wäre. Es stieß mir zwar sauer auf, es zuzugeben, aber sie wirkte viel zu glamourös und rockstarmäßig für unseren alten Lieblingsclub. Auch wenn sich hier inzwischen einiges getan hatte, war das Charlie’s längst nicht hip genug für jemanden, der so voller Selbstvertrauen, so raffiniert, so ungeniert überschwänglich auftrat wie Jenny an diesem Abend.
Zu meiner grenzenlosen Überraschung behauptete Stevie, er kenne die Bar. Stevie, der Burberry-Hemden trug und am liebsten im Pub um die Ecke saß, weil »man sich dort wenigstens beim Denken zuhören kann«. Mit einer Ungezwungenheit, bei der einem ganz schlecht wurde, stürzten sich die beiden in eins dieser »Ist-die-Tanzfläche-nicht-winzig-und-sehen-die-Toiletten-nicht-aus-wie-in-einem-Raumschiff?«-Gespräche, die sofort jeden ausschließen, der noch nie dort gewesen ist.
Ich konnte ihm kaum einen Vorwurf machen. Er war Single, und sie vermittelte nun wirklich den Eindruck, sie sei zu haben. Trotzdem erfüllte mich sofort ein völlig irrationaler Ärger. Er hatte die Todsünde begangen, sie zum Bleiben einzuladen. Viel beunruhigender war jedoch, wie gierig Mike jedes Wort aufsaugte, das über ihre Hochglanzlippen kam. Er war so auf sie konzentriert, dass er überhaupt nicht zu bemerken schien, wie Cora ihm aus zusammengekniffenen Augen missbilligende Blicke zuwarf, diese kritischen Cora-Blicke, die sie so gut beherrschte, ein direktes Starren mit aufeinandergepressten Lippen. Die Band spielte so laut, dass schwer zu hören war, worum es in der Unterhaltung ging, und deshalb konnten Cora und ich auch keinen Beitrag dazu leisten. Aber Jenny schien überhaupt nicht aufzufallen, dass wir uns nicht beteiligten, und auch die Jungs schien es nicht weiter zu stören.
Cora versuchte, Mike aus seiner Konzentration zu reißen, indem sie ihn am Ärmel zupfte und ihm zuraunte, sie müsse mal zur Bar. Auf dieses Stichwort hin hätte er eigentlich anbieten müssen, mit ihr zu gehen, statt einen in der Nähe stehenden Barhocker heranzuziehen, sich darauf niederzulassen und zu sagen: »Wir warten hier auf dich und halten dir einen Platz frei. Für mich ein Stella, bitte.«
Cora richtete den Blick auf mich. Ich wusste, was sie von mir erwartete, aber ich hatte keine Lust, sie zu begleiten. Ich wollte die Unterhaltung und Mikes Blicke wieder dahin zurücklenken, wo sie hingehörten. Weg von Jennys Lachen. Weg von Jennys Rock. Cora packte meine Hand und zog mich zur Damentoilette.
»Wer ist das denn?«, wollte sie wissen. Ihre Verbitterung umgab sie in einer fast greifbaren Aura der Gereiztheit. »Wer denkt die eigentlich, wer sie ist? Sich hier einfach so reinzudrängeln! Ist das eine Kollegin von dir?«
»Nein, absolut nicht. Ich dachte, du würdest sie kennen«, antwortete ich auf der Treppe zu den Toiletten.
Die waren in der Zwischenzeit generalüberholt worden und stanken nicht mehr ganz so schlimm nach Erbrochenem. Niemand stopfte mehr Jacken hinter die kaputten Spülkästen oder pinkelte in die Einzelwaschbecken mit den veralteten Wasserhähnen. Es gab überhaupt keine Waschbecken mehr. Stattdessen waren die Wände mit hohen Spiegeln und dunklen Fliesen verkleidet, und es gab einen dieser zweigeteilten, an ein Vogelbad erinnernden Gemeinschaftswaschtische aus Metall, bei denen das Wasser nach unerfindlichem Muster aus unvorhersehbaren Öffnungen spritzt.
Im Schein der nüchternen Spotlights sah mein Gesicht bleich und überbelichtet aus, als ich vor dem Spiegel eine weitere Schicht Lipgloss auftrug.
»Ich hab sie noch nie vorher gesehen«, zeterte Cora weiter. »Was für ein Flittchen! Hast du gesehen, wie sie sich an Mike ranschmeißt? Ist sie vielleicht eine dieser Schlampen aus seiner Agentur?«
»Keine Ahnung, aber sie kommt mir irgendwie bekannt vor. Vielleicht arbeitet sie bei einer Partnerfirma von Jackson’s. Stevie scheint sie zu mögen«, sagte ich zur Tür von Coras Kabine hin und lenkte das Gespräch damit auf sicheres Terrain.
»Ist mir völlig unerklärlich. Die ist doch gar nicht sein Typ, oder? Viel zu billig für Stevie.«
Jenny war nicht billig, aber ich widersprach Cora nicht, weil ich genau wusste, was sie meinte: Stevie war so … nun ja, nett und vernünftig, beinahe brüderlich. Und Jenny war … offenherzig. Sie war ein gut konzipiertes Gesamtpaket, nicht nuttig, dafür war sie zu gepflegt, aber auf raffinierte Weise anzüglich.
»Woher willst du das wissen?«, konterte ich leichthin. »Vielleicht hat Stevie ja einen heimlichen Domina-Fetisch oder so was. Schließlich verbringt er seine Tage mit Politikern.«
Ich sagte das nicht nur, weil die Vorstellung, Stevie könnte insgeheim auf SM stehen, so lächerlich war, sondern auch, weil Jennys dunkler Eyeliner und ihre Lederstiefel ihr ein unerbittliches Aussehen verliehen, so als verberge sich hinter der pfeilgenauen Präzision ihres Lächelns der Wunsch, man möge sich ein wenig vor ihr fürchten und es gleichzeitig genießen. Ein Spielchen, das eine Zeitlang ganz amüsant sein konnte.
Aber Cora lachte nicht.
»Wir sollten sie trotzdem so schnell wie möglich abschütteln«, fauchte sie. »Sonst müssen wir die ganze Nacht dieses Gerede und Gekicher und Stevies kokette Blicke ertragen. Zum Kotzen.«
Ich grinste. »Lass uns ein paar Jack Daniel’s kippen und tanzen gehen. Wenn wir zurückkommen, hat sie sich bestimmt längst verzogen und hält nach fetterer Beute Ausschau.«
Cora zog die Spülung, kam aus der Kabine und strich sich die Bluse über dem runder gewordenen Bauch glatt. »Außerdem ist sie viel zu fett für ihren kurzen Rock«, erklärte sie.
So einfach ging das. Jenny war in der Schublade. Der Schublade für ungefährliche, entschärfte Konkurrenz. Der Schublade mit der Aufschrift »zu dick, zu unattraktiv, zu dumm, zu billig«. Der Schublade, in der alle Frauen ihre Rivalinnen unterzubringen versuchen, ob sie nun hineinpassen oder nicht. Aber Jenny trat mit aller Macht gegen die Schubladenwände, denn als wir von der Bar zurückkamen, hatte sie sich weder verzogen noch sich auch nur einen Zentimeter vom Fleck bewegt. Sie schmiegte sich noch immer kichernd an die Theke, nur dass Rock und Lachen inzwischen ein wenig höher gerutscht waren.
»Hallo, Mädels«, hieß sie uns auf unserer eigenen Party willkommen. »Die Jungs haben gerade erzählt, dass dieser Abend für euch alle wie eine Zeitreise zurück ins Studentenleben ist. So was wie ein Wiedersehenstreffen.«
Die Jungs. Ich glaube, Cora und ich zuckten beide zusammen. In Sachen Vertraulichkeit war sie bereits einen entscheidenden Schritt zu weit gegangen. In wie viele Fettnäpfchen konnte man innerhalb einer knappen halben Stunde treten? Was dachte sich diese Tussi eigentlich?
»Jenny sagt, dass das Spice samstags ganz gut ist. Vielleicht sollten wir später die Location wechseln«, schlug Stevie eifrig vor. »Mal was Neues ausprobieren?«
Das Spice: Wodka-Shots in verschiedenen Geschmacksrichtungen, eine Neonwand als Bar und Kellnerinnen wie aus der Gap-Werbung, die mit langbeiniger, lässiger Arroganz Drinks servieren. Dazu viel Chrom und ein städtisches Publikum mit ironisch bauchfreien Outfits. Aber Cora machte die Idee sofort zunichte.
»Wohl eher nicht. Wir stehen nicht so auf diese übertriebene Elektrokacke – zu monoton, es sei denn, man hat sich vorher Ecstasy gespritzt. Ich mag lieber Musik, die man auch als solche erkennt und zu der man herumhopsen kann.« Ich stöhnte innerlich auf.
»Ecstasy? Gespritzt?«, fragte Jenny amüsiert. »Die Britpop-Generation hat gesprochen!« Dann lachte sie doch tatsächlich, gutmütig und leichthin. Ebenso gut hätte sie Cora gleich als alt bezeichnen können. »Muss vor meiner Zeit gewesen sein.« Sie war geschätzte vierundzwanzig, konnte also nicht mehr als fünf Jahre jünger sein als wir. Kein Zweifel, sie nannte uns alt. »Ich persönlich muss einfach aufstehen und tanzen.«
»Also? Willst du?«, fragte Stevie.
»Ja, nichts wie los!«, sprang ihm Mike zur Seite. Innerhalb von Sekunden waren beide auf den Beinen. Wie hätten wir da nicht mitgehen können?
Das Tanzen war noch schlimmer als das Herumsitzen und Reden, als ihr Haare-Zurückstreichen und Beine-Ausstrecken und ihre nassen Lippen auf dem Weinglas. Viel schlimmer.
Mike und Stevie sabberten zwar nicht direkt vor Geilheit, dafür waren sie zu schlau. Aber Mike berührte mich nicht mehr und tänzelte auch nicht zum Rhythmus der Musik zu mir herüber. Genauso gut kann er sie hier direkt auf der Tanzfläche vernaschen, dachte ich. Etwas Dunkles versetzte mir innerlich Nadelstiche, am liebsten hätte ich geheult. Schon spürte ich ein heißes Stechen unter den Lidern, und meine Brust schnürte sich zusammen. Es konnte unmöglich schon Mitternacht sein. Das Aschenbrödel hatte sich noch nicht in ein Lumpenmädchen zurückverwandelt, mir blieb genug Zeit, die Prinzessin zu spielen.
Jetzt, wo der Alkohol seinen eigenen Rhythmus entfaltet hatte und die Menschen auf die Tanzfläche trieb, konnte man sich kaum noch bewegen. Zum Glück waren nur noch wenige Rugbyfans übrig. Sie trugen immer noch ihre Kriegsbemalung und versuchten, die Mädchen zu begrapschen oder sie lallend in Gespräche zu verwickeln, die vor vier Stunden noch schlicht langweilig gewesen wären und nun gar nicht mehr zu verstehen waren. Aber auch ohne Rugbyfans war es gefährlich voll, und die Atmosphäre heizte sich immer mehr auf.
Manche tranken schon seit dem Mittag oder sogar noch länger und waren tickende Zeitbomben. Ein einziges falsches Wort konnte einen Hagel aus Fäusten und Füßen nach sich ziehen. Während die Scherben unter unseren Schuhen knirschten, wurden wir auf der Tanzfläche immer wieder auseinandergerissen, von hinten angerempelt oder in Zweier- und Dreiergrüppchen zerteilt, ohne dass wir irgendetwas dagegen tun konnten.
Einmal wurden Mike und Jenny von einer Woge aus Tanzenden zusammengedrängt, und ich sah, wie sie sich dicht an ihn heranlehnte und ihm etwas ins Ohr raunte. Keine Ahnung, was sie sagte, oder ob er sie verstand. Inzwischen war es so laut, so pulsierend und primitiv, dass er vermutlich gar nichts verstehen konnte. Aber ich hätte schwören können, dass er antwortete: »Nicht jetzt.« An sich ganz harmlos, es sei denn, diese zwei Worte enthielten implizit etwas Unausgesprochenes. Ein Wort nämlich: später.
Als versehentlich jemand ein Guinness über Cora auskippte, das sich in einer braunen Sturzflut über ihre Kleider ergoss, gaben wir uns geschlagen und kehrten zur Bar zurück. Stühle gab es genug, da alle anderen immer noch ihren Kampf auf der Tanzfläche ausfochten, Hand an Hand und Hüfte an Hüfte. Es war der Wendepunkt dieser Nacht. Die Abwärtsspirale hatte sich zu drehen begonnen.
Mike und Jenny schienen so viel Gesprächsstoff zu haben, dass es schon peinlich war. Obwohl wir bei dem Krach kein Wort verstanden, beobachtete ich ihre Lippenbewegungen. Es tat mir weh, mit ansehen zu müssen, wie Coras Wut hinter ihrem starren, aufgesetzten Lächeln wuchs und wuchs, was er überhaupt nicht zu bemerken schien. Die beiden unterhielten sich unablässig, vermutlich über PR und Musik und Kinofilme, und das trotz des Höllenlärms. Währenddessen tupfte Cora ihre durchnässte Kleidung ab und versuchte immer wieder, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und uns mit einzubeziehen. Vergeblich. Irgendwann verkündete Jenny, sie würde in der kommenden Woche eine Party schmeißen, zu der sie uns alle einlud – eine ebenso überraschende wie großzügige Geste.
»Ihr müsst unbedingt kommen«, insistierte sie und rief uns die Adresse zu. »Das wird sicher total lustig.«
»Keine Ahnung, wo das ist«, wandte Cora kraftlos ein. »Wir kennen uns überhaupt nicht mehr aus in der Stadt.«
»Ach, das ist ganz leicht zu finden. Ihr müsst nur runter zum Fluss, und wenn ihr vor dem Stadion steht, wohne ich direkt gegenüber im dritten Stock, das Haus mit der alten Eiche vor der Tür.«
Stevie lauschte aufmerksam und hingerissen, als sie weiter von ihren Plänen für die Party erzählte. Mike warf immer wieder etwas ein und erntete damit jedes Mal ein zärtliches Lächeln. Stevie entschuldigte sich irgendwann, wenngleich sichtbar ungern, und verschwand auf die Toilette. Es kam der Punkt, an dem Coras Geduld endgültig ausgereizt war. Ich war froh, dass sie es mir abnehmen würde, diesem blödsinnigen Getue ein Ende zu setzen, und damit auch meinem verzweifelten Bemühen, mein eigenes Elend und meinen Ärger nicht zu zeigen. »Ich finde, wir sollten Stevie suchen gehen«, erklärte sie spitz, als er zwanzig Minuten später noch immer nicht zurück war.
Aber falls Mike den Wink mit dem Zaunpfahl dieses Mal wahrnahm, ignorierte er ihn nicht nur, sondern torpedierte ihn geradezu, ohne Rücksicht auf die Granatsplitter und Trümmer, die später unweigerlich auf ihn einprasseln würden.
»Okay, dann bleibe ich hier. Für den Fall, dass er doch zurückkommt und du ihn verpasst«, sagte er und drückte ihre Hand. »Dreh du eine Runde, sonst verlieren wir uns noch alle.«
Aus der Nummer kam Cora nicht mehr heraus. Nachdem sie ihre Hand so angewidert zurückgezogen hatte, als hätte er sie bespuckt, war sie gezwungen, Mike und Jenny allein an der Bar zurückzulassen, eigentlich das Gegenteil von dem, was sie bezweckt hatte.
»Lass uns Stevie finden und sie anschließend irgendwie loswerden«, brüllte sie mir heiser ins Ohr und tauchte mit großen Schritten in die brodelnde Menge ein. »Ich will nach Hause.« Sie war jetzt den Tränen nahe. Mir ging es genauso.
Aber Stevie saß an keinem der mit fettigen Kartons übersäten Stahlrohrtische der Burger-Bar, und er hatte sich auch nicht mit einem der etlichen betrunkenen Mädels, die sich nur noch schwankend auf den Beinen hielten und krampfhaft ihr Glas umklammerten, in eine Ecke verzogen. Stevie doch nicht! Er war weder bei den Herrenklos zu finden, noch stand er mit einem Fünfer in der Hand im Gedränge um eine der niedrigen Theken. Dafür fanden wir ihn bei unserer Rückkehr wieder am Ausgangspunkt an der Bar vor. Allein. Mike und Jenny waren verschwunden.
Stevie wirkte mehr als nur leicht verärgert, er schmollte ganz offensichtlich.
»Na endlich«, knurrte er. »Wo wart ihr denn alle, verdammt noch mal?«
»Wo ist Mike?«, wollte Cora wissen.
»Keine Ahnung. Ich habe hier gewartet, weil ich dachte, dass ihr irgendwann zurückkommt und mich holt. Wo zur Hölle sind die beiden anderen hin?«
Wir warteten, während sich unser letztes Quäntchen Wohlwollen langsam aber sicher in Luft auflöste. Unsere Gläser waren leer, und es lohnte sich nicht mehr, sich für die letzte Viertelstunde zur Theke durchzukämpfen. Unser Taxi war für halb zwei bestellt.
Wir warteten, bis man uns aus dem Hauptraum des Clubs komplimentierte. Nachdem Cora unsere Jacken geholt hatte, warteten wir an der Garderobe weiter. Irgendwann mussten wir zusammen mit Betrunkenen und Pärchen, die sich spontan zum One-Night-Stand zusammengefunden hatten, auf die eisige Straße hinaus, wo ein kalter Nieselregen einsetzte. Das Herz wurde mir schwer, und meine Füße taten weh.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als zu Cora und Mike nach Hause zu fahren. Unter Mikes Handynummer war nur die Mailbox erreichbar. Nachdem wir fast eine halbe Stunde fröstelnd an der Straßenecke gewartet hatten, tauchte endlich das Taxi auf – mit deutlicher Verspätung. Das Gedränge war immer noch groß, und obwohl wir laut unsere Namen riefen, versuchten andere Discobesucher, den Wagen heranzuwinken und unelegant zum Türgriff zu hechten. Zum Glück war Stevie schneller und zeigte sich überraschend durchsetzungsstark. Keiner von uns wollte Mike zurücklassen, aber wenn wir unser Taxi sausen ließen, saßen wir sicher bis Sonnenaufgang im kalten und inzwischen auch nassen Herzen der Stadt fest.
Nachdem wir Stevie an seiner Wohnung abgesetzt hatten, fuhren wir weiter zu Cora. Neben ihr auf der Rückbank zu sitzen war, als säße man neben einem Tornado. Ich spürte, wie ihr Zorn immer weiter werdende Kreise um sich zog und die Atmosphäre derart auflud, dass mir fast die Haare zu Berge standen. Sie sagte keinen Ton, und nachdem ich keine Antwort erhielt auf mein plattes »Ich bin sicher, dass es ihm gut geht, wahrscheinlich hat ihn irgend so ein Idiot in ein Gespräch verwickelt«, schwieg auch ich, dankbar für das Geschwafel des Taxifahrers, der sich mit beängstigender Geschwindigkeit durch die glänzenden, regennassen Straßen schlängelte.
Kurz darauf standen wir im Flur, und ich schüttelte meinen Regenschirm aus. Der Anrufbeantworter blinkte. Mit einem Satz stand Cora daneben und ließ den Finger auf den Knopf hinuntersausen. Mikes Stimme erklang, verzerrt vom üblichen Handyknistern. Im Hintergrund schienen Autos vorbeizufahren.
»Sorry, ihr Süßen, ich muss euch irgendwie verloren haben. Wenn ich kein Taxi auftreiben kann, laufe ich nach Hause oder übernachte bei Gabe, wenn es hart auf hart kommt. Er schmeißt heute seine übliche After-Match-Party. Es gießt mittlerweile in Strömen. Hab kein Guthaben mehr. Kuss.«
»Ich geh ins Bett«, sagte Cora ausdruckslos. »Fühl dich wie zu Hause und mach dir Toast, wenn du willst. Ich habe keinen Hunger. Stell den nassen Schirm doch bitte in den Schirmständer, sonst gibt es Flecken auf dem Parkett. Wir sehen uns morgen früh.«
Ich seufzte ihren gebeugten Schultern vom Fuß der Treppe aus hinterher und schob meinen Schirm vorsichtig in den langen Blechkanister, der ein bisschen wie eine abgesägte Gewehrpatrone aussah. Dann hängte ich meine Jacke an einen schmiedeeisernen Kleiderhaken, der mich an Grundschulzeiten erinnerte. Ich war nicht müde und trottete daher in die Küche, wo ich auf der Suche nach Essbarem zaghaft diverse Schränke öffnete, bemüht, keinen Lärm zu machen. Dabei sah ich alle paar Minuten auf die Uhr. Ich verschmähte das Vollkorn-Knäckebrot aus dem Bioladen und entschied mich stattdessen für Erdnussbuttertoast, der eine seltsam tröstliche Wirkung entfaltete.
Ohne das Licht einzuschalten, rollte ich mich im Wohnzimmer auf einem schwammartigen Polstersessel zusammen und sah aus Rücksicht auf Cora mit Untertiteln fern. Von oben war kein Mucks zu hören. Ich spitzte die Ohren nach Schritten auf der Straße oder einem Schlüssel, der ins Schloss gesteckt wurde. Die Fahrt von der Stadt hatte nur eine Viertelstunde gedauert, und im Charlie’s hatten sie die letzten zögernden Gäste bestimmt längst vor die Tür gesetzt. Andererseits: Wie sollte Mike ein Taxi aufgetrieben haben? Er hätte natürlich zu Fuß gehen können, was etwa eine halbe Stunde gedauert hätte, auf alkoholschweren, schwankenden Beinen bei strömendem Regen vielleicht auch eine Stunde.
Ich redete mir ein, dass es mir vorrangig um sein Wohlergehen ging. Schließlich war es spät in der Nacht; irgendjemand konnte ihn überfallen oder ihm eins übergebraten haben, weil er sein Bier umgestoßen oder seine Braut angeschaut hatte oder sich einen Dreck um Rugby scherte oder geschwollen daherredete.
Als meine Augenlider eine Stunde später den Kampf gegen Jack Daniel’s aufgaben, kletterte ich müde in mein Bett im Gästezimmer. Das ganze Haus lag friedlich schlafend da, während mein Atem unter der nagelneuen Gästedecke immer gleichmäßiger wurde und ich in einen traumlosen Schlaf fiel. Zweimal wachte ich auf und glaubte, das Geräusch eines Autos oder Taxis und das Zuschnappen der Haustür gehört zu haben, aber da keine Schritte auf der Treppe zu hören waren, musste ich mich wohl getäuscht haben.