Zeitreise
Der gleiche Weg wie immer: Man biegt in Porth ins Tal ab, und dann geht es fast sofort wieder bergauf. Die geplante Entlastungsstraße hat noch nicht ihre Ranken aus Asphalt und glänzendem Metall von Nord nach Süd ausgestreckt, und die alte Straße wird schnell schmaler und schlechter, was die Leute aber nicht davon abhält, mit Höchstgeschwindigkeit an zweireihig geparkten Autos und Buskolonnen vorbeizuschießen.
Die Dörfer erstrecken sich entlang der ansteigenden Straße, und hinter den steinernen, bergan geneigten Häuserreihen ragen zu beiden Seiten die Hügel auf wie drohende Flutwellen. Das Holpern und Schleifen, wenn man ein Schlagloch erwischt, das Herz, das einem in die Hose rutscht, wenn man im letzten Moment auf die Bremse tritt – das alles gehört zur Erwartungshaltung.
Man ignoriert die Jugendlichen mit ihren rasierten Köpfen und Bomberjacken und fährt immer weiter nach Norden, biegt weder links noch rechts ab, bis man sich irgendwann zu fragen beginnt, ob die Straße wohl je ein Ende nehmen wird. Die Reste uralter Waldgebiete schmiegen sich an die Berghänge, die im Herbst eine grelle Fotomontage aus gelb gewordenem Gras, leuchtend orangefarbenen Farnen und glühendem Heidekraut bilden, aus der glänzend schwarze Schieferplatten und akkurat gezackte Tannen hervorragen, die im Sommer zu rauchen scheinen und deren höchste Wipfel den Himmel streifen. Eine schöne Landschaft. Jedenfalls solange man nur einen beiläufigen, flüchtigen Blick darauf wirft.
Auf der rechten Straßenseite weichen die Häuserreihen Fabrikgebäuden, die sich im Sommer diskret hinter Laubbäumen verstecken. Ein mickriger Fluss schlängelt sich durch die Schlucht unterhalb der Straße. Früher war er schwarz, aber als die Hügel wieder grün wurden, wurde auch er wieder sauber und klar.
Hoch über dem Fluss, wo früher das Bergwerk war, kauert meine Schule, ein Siebzigerjahrebau aus quadratischen Fertigbauklötzen in Schwarz, Weiß und Grau. Er geht über drei Etagen, erstreckt sich über zwei Grundstücke und liegt genau dort, wo die Häuser enden und freien Blick auf das letzte Dorf im Tal gewähren. Dahinter geht die Sonne in der Wiege unter, die die Berge bilden.
Es war schon immer eiskalt dort oben. Im Winterhalbjahr peitschten Regen und Wind um jeden Zentimeter des Gebäudes und des Schulhofs.
Aber nach dem Englischunterricht am Mittwoch wurde Hockey gespielt, und ich war ein robustes Kind, das viel an der frischen Luft war, das seine Bücher, seine Geige und seine Turnsachen bei jedem Wetter mit sich herumschleppte, das sich nur vom Fahrradfahren abhalten ließ, wenn es schneite, und das auf Pappkartons die Hänge hinunterschlitterte, wenn das Sommergras vor Trockenheit ganz rutschig war, hinein in die samtweiche Dunkelheit des Abends, bis die Mütter ihre Kinder zum Essen hereinriefen.
Cora und Mike wussten nichts von diesem Leben. Ich hatte sie nie mit nach Hause genommen. Nicht etwa weil ich mich schämte, wie ich lange geglaubt hatte, sondern weil ich mir meiner neuen Persönlichkeit nicht mehr sicher sein konnte, wenn ich hier war. In der Stadt hingegen hatte ich oft das Gefühl, den Klang meiner wahren Stimme vergessen zu haben. Zu geübt war ich inzwischen darin, sie nach Bedarf ausdruckslos, schrill oder weich klingen zu lassen.
Zu Hause hieß ich Beth, nie Lizzy. Erst Cora fing an, mich Lizzy zu nennen, und ich war froh über die Umbenennung. Beth hatte nicht viel zu bieten. Sie besaß zu wenig Selbstvertrauen, war eine Streberin, sehnte sich nach Freunden und hatte Angst davor, Teil der Welt aus Bier, Müll, Lippenstift, Rugby und Arbeitslosigkeit zu werden, die sich um sie herum ausbreitete, bis weit über die Gruben und Fabriken hinaus. Also suchte sie Erlösung in ihren Büchern und ertrank in ihnen.
Als Evans English am Tag vor ihrem vierzehnten Geburtstag ihren Stephen-King-Roman in den Papierkorb warf und sagte: »Diesen Müll solltest du nicht lesen«, begannen sich die Dinge für Beth zu ändern.
Evans English, mit seinen knapp eins sechzig und seinem strengen Blick über der schwarzen Hornbrille die perfekte Verkörperung des walisischen Schulmeisters längst vergangener Tage, verschwand daraufhin im staubigen, vollgestopften Lagerraum der Schule, wo er nicht nur Stifte und Schulhefte aufbewahrte, sondern auch seine Whiskeyflaschen. Dann tauchte er mit Tess von den d’Urbervilles, Jane Eyre, Eine Geschichte aus zwei Städten, 1984 und Jahrmarkt der Eitelkeiten wieder auf.
Von diesem Moment an boten Wörter den Zugang zu neuen Welten, ermöglichten kühne Träume, wurden zum Schutzpanzer. Vielleicht erblickte Lizzy schon damals das Licht der Welt und wartete nur noch auf den richtigen Augenblick, sich zu manifestieren.
Der Park, mein Park, lag gleich neben der Schule, unterhalb von Evans Englishs altem Klassenzimmer. Sein alter, eisig kalter See schmiegte sich in einen Hohlraum, den Eis und Wasser vor Tausenden von Jahren geformt hatten, bevor die Menschen kamen und Bergwerke gruben. An seinem Ufer ragten wachsame Bäume auf, und darunter lag tief und schwarz das Wasser, lauschend und sehnsüchtig.
Der See schien außerhalb der Zeit zu liegen. Im Gegensatz zu allem anderen veränderte er sich nicht, bis auf die Sitzbank und den Abfalleimer, die gelegentlich erneuert wurden, und die Jahreszeiten, die Baumkronen und Wasser in ihre jeweiligen Farben tauchten. Manchmal schossen Vögel aus ihren Verstecken, und ihr Gezwitscher hallte von den umliegenden Felsen wider. Dieser Ort war wunderschön und melancholisch zugleich, und in der Vergangenheit hatte ich immer wieder seine Stille gesucht.
Jedes Mal, wenn ich durch die Bäume blickte, hatte ich das Gefühl, etwas Elementares und Überirdisches um Sekunden verpasst zu haben. Es herrschte eine Atmosphäre des gerade Geschehenen, der um ein Haar miterlebten Handlung. Bei jedem Blick über die Schulter erwartete ich, bärtige Gesichter aus grauer Vorzeit zu erblicken, die mich grimmig anstarrten, und daneben Familien mit Schiebermützen auf dem Kopf und schwingenden Petticoats. Dieser See hatte unsere gesamte Geschichte gesehen, noch bevor die Gemeinde überhaupt gegründet worden war, unberührt von Mühsal und Gelächter.
Wenn er reden könnte, würde er Geschichten erzählen von düsterer, harter körperlicher Arbeit, von durch die Plackerei zerstörten Wirbelsäulen, von zerstörten Lungen, zerstörten Versprechungen, von Lebensmitteln, die man im Laden bis zum Zahltag anschreiben lassen konnte, weil man schließlich zusammenhalten musste, von gestohlenen Samstagsküssen nach der Kinovorstellung, von Chorgesängen, von Waschzyklen, die vierundzwanzig Stunden dauerten, von Klein-Moskau, vom ersten kostenlosen Grundschulwesen Großbritanniens, von Streiks und Protestmärschen, Drogen und Oralverkehr, der Einebnung von Kohlehalden, von Schuleschwänzen und häuslicher Gewalt. In beliebiger Reihenfolge.
An diesem Ort hatte ich mich selbst erschaffen, und hierher, zu meinen Anfängen, ging ich zurück, wenn ich Antworten suchte. Hier würden Beth und Lizzy gemeinsam eine Entscheidung treffen.
Als ich mich an diesem dunklen Dezembertag durch Porth und dann immer weiter hinaufschlängelte, ächzte das Tal unter der Last seiner winterlichen Schwermut. Die Häuser und Hügel wogten im Wind wie schmutzige Bettlaken, vollgesogen mit dämmrigem Grau, an den Rändern nur ungenügend mit Splittern aus Stein und braunem und schwarzem Holz befestigt. Stur hielten die struppigen Kiefern an ihrem satten Wintergrün fest.
Selbst das bunte Funkeln der Weihnachtsbeleuchtung konnte nicht über die triste Atmosphäre hinwegtäuschen. Einige Häuser nahmen dennoch den Kampf auf, mit Hunderten von Glühbirnen, Weihnachtsmännern auf Leitern, Schneemännern in Heißluftballons und riesigen, im Vorgarten grasenden Rentieren.
Es war zwar erst kurz nach drei, als ich an den beschlagenen Fensterscheiben der Schule vorbei zum See hinunterging, aber es fühlte sich an, als würde die Nacht schon entlang der Berggipfel lauern und nur darauf warten, ins Tal zu drängen.
Am Ufer hatte sich Eis gebildet, und zwei Enten und ein Erpel dümpelten träge bei den Lampenputzern am hinteren Ende des Sees herum. Ein Mann mittleren Alters mit tief ins Gesicht gezogener roter Baseballkappe führte einen Golden Retriever spazieren. »How be?«, fragte er nickend, die hier übliche Begrüßung.
Ich setzte mich auf eine halb zerfallene Bank und mied das zersplitterte Holz an der morschen oder mutwillig kaputt getretenen Stelle. Zum Schutz vor der klammen Kälte zog ich die Jacke unter mich.
Innerhalb von Minuten war meine Lunge kalt, und mein Verstand war leer – wie ich es mir erhofft hatte.
Hier würde ich ohne die Fallstricke meiner kreisenden Gedanken, ohne den beharrlichen Bewusstseinsstrom meiner inneren Stimme eine Antwort finden und eine Entscheidung treffen. Irgendwo ganz hinten, jenseits von allem, dort, wo es wirklich darauf ankam, empfing ich ein älteres, dunkleres, reineres Signal.
Eine Weile verliere ich mich darin. Als ich wieder an die Oberfläche komme, ist es fast dunkel.
Dann passiert etwas Unerwartetes. Ich sehe Sal.
Ja, es ist Sal. Mit einem ungefähr sechsjährigen Mädchen. Und einem Kleinkind. Und einem Baby.
Ich weiß sofort, dass sie es ist, ohne jeden Zweifel. Sie trägt Jeans und einen rosa Anorak, dazu einen passenden kuscheligen Schal. Sie hat rosige Wangen und noch den gleichen Schopf roter Locken, deren Farbe sich mit ihrer Kleidung beißt. Obwohl sie knapp hundert Meter weit weg steht, bin ich mir ganz sicher. Vermutlich hat sie schon eine ganze Weile in meine Richtung geblickt. Unser Grinsen überbrückt die dreißig bis vierzig Schritte, die jede von uns zurücklegen muss, die Räder des Kinderwagens knistern auf dem nassen Boden, die Lücke zwischen uns schließt sich.
Auf einmal strecken wir unbeholfen die Hände nacheinander aus, so wie es Menschen tun, die sich mal sehr vertraut waren. Wir rufen uns beim Namen und lachen. Wie früher. In diesem Moment ist alles wieder da.
»Beth? Meine Güte! Du bist es wirklich!«
»Ja, ich bin’s. Hallo, Sal. Hallo, Kinder. Du hast es ja ganz schön eilig gehabt!«
»Mensch, du siehst toll aus! Total elegant. Ich hab schon von dort drüben gedacht, dass du es bist, aber du warst wohl in Gedanken, wie immer. Ich war mir nicht sicher, ob du mich erkennst, wegen der Kinder und so.«
In Wirklichkeit meint sie wohl, dass sie nicht wusste, ob ich zurückgrüßen würde. Schließlich liegen zehn Jahre und ein Quantensprung zwischen meinem jetzigen und meinem früheren Ich.
»Jetzt red keinen Quatsch, du dumme Kuh! Natürlich wusste ich, dass du das bist! Ich war gerade auf dem Weg zu meinen Eltern, und da dachte ich, dass ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr hier oben war …«
»Und da wolltest du unserem alten Revier mal wieder einen Besuch abstatten«, nickt sie verständnisvoll. »Hier hat sich gar nichts verändert, stimmt’s?«
Ich weiche ihr aus. »Und wen haben wir da?« Ich gehe in die Knie, um das stämmige kleine Mädchen zu begrüßen, das sich an Sals Bein klammert und die gleichen roten Locken hat.
»Das ist Lauren«, stellt Sal vor und setzt sich das kleine Mädchen auf die Hüfte. »Und das ist Catherine. Und das hier«, gurrt sie in den Kinderwagen, »ist Elizabeth.«
»Schöner Name.«
»Ja, auch mein zweiter Vorname.«
»Ich weiß. Bist du noch mit Darren …?«
»Klar. Er arbeitet jetzt für die Gemeinde. IT. Ich selbst hab immer noch keine Ahnung von dem Kram.«
Wir lächeln uns ungezwungen an. Ich traue mich nicht zu fragen, ob sie immer noch Cello spielt. Ob sie wohl je Arbeit als Musiklehrerin gefunden hat?
»Und was treibst du jetzt so?« Diese Frage erscheint mir neutral genug.
»Mit den dreien bleibt mir leider nicht mehr viel Zeit für mich. Mein Referendariat habe ich noch angefangen. Du weißt ja sicher noch, dass ich Musik unterrichten wollte? Aber dann kam Catherine … Aber dich hab ich in der Zeitung gesehen! Du hast es echt zu was gebracht, Beth. Ich wusste, dass du es schaffst. Du hast uns alle hinter dir gelassen, genau wie ich es immer vorhergesagt habe. Übrigens, mir hat da neulich jemand von dieser neuen Internetplattform erzählt, Facebook. Das ist diese Website, auf der man ein bisschen was von sich selbst ins Netz stellen und nach alten Schulfreunden suchen kann. Da sind echt viele Leute angemeldet. Ich hab mir gedacht, dass ich mich vielleicht auch dort anmelde, wenn Darren mir zeigt, wie es geht. Vielleicht wäre es mal an der Zeit für ein Klassentreffen, meinst du nicht? Zehn Jahre! Mein Gott, du siehst nicht einen Tag älter aus. Hast du deine Seele dem Teufel verkauft, oder was? Oder hängt bei deiner Mutter ein Gemälde auf dem Dachboden, das an deiner statt altert? Ich frage mich, wie die anderen so aussehen. Dicker wahrscheinlich. Die meisten sind natürlich sowieso in der Gegend geblieben, aber ich meine Leute wie dich …« Sie bricht ab, als ihr einfällt, dass es davon nicht viele gibt.
Ich lächle sie an und schüttele leicht den Kopf. »Ich glaube nicht, Sal. Ich wüsste gar nicht, was ich mit den Leuten reden sollte.«
»Nein, du hast ja recht. Hat wohl wenig Sinn. Sollen wir ein Stück zusammen gehen? Viel zu kalt, um hier herumzustehen.«
Wir gehen also los, und sie erzählt von den Kindern und fragt mich über die Zeitung aus und will wissen, ob ich einen Freund habe, und berichtet, wie es den Leuten von früher ergangen ist: Lucy Fisher hat drei Kinder bekommen, von denen eins schon elf ist, Tony Nichols sitzt wegen Autodiebstahls im Gefängnis, Dan Andrews ist vor vier Jahren an einer Überdosis gestorben, Nadine Baker arbeitet im Süßwarenladen, Susan Earland führt die Bäckerei, Darren Davies unterrichtet Erdkunde an der Gesamtschule, und die Mutter von Paul Peter hatte letztes Jahr einen Schlaganfall, erkennt niemanden mehr und kann nicht mehr sprechen. Wir reden auch ein bisschen darüber, wie wir früher waren, aber nicht zu viel. Sal wirkt wirklich zufrieden mit ihrem Leben, sie vergöttert ihre Kinder und lächelt viel und ähnelt sehr der alten Sal, die ich von früher kenne.
Wer bin ich außerdem, mir ein Urteil über sie zu erlauben?
Als wir am Tor ankommen, trennen sich unsere Wege, und wir greifen wieder nach den Händen der anderen und umarmen uns schließlich.
»Es war wirklich schön, dich mal wieder zu sehen, Beth.«
»Geht mir genauso. Wirklich«, sage ich, und ein Teil von mir meint es auch so.
»Wir müssen unbedingt irgendwann mal was zusammen trinken gehen oder so, wir beide. An Weihnachten vielleicht. Im Gemeindehaus findet eine Party statt, wie jedes Jahr. Wie in alten Zeiten. Mit Disco und Tombola.«
»Ja, klar. Machen wir. Ich ruf dich an«, sage ich und weiß, dass es tatsächlich genau wie früher wäre und ich genau aus diesem Grund nicht anrufen werde.
Als ich mich umdrehe, hallen ihre Worte in mir nach. »Du hast es wirklich weit gebracht, Beth. Hast uns alle hinter dir gelassen.« Während ich davongehe, laufen mir Tränen übers Gesicht.
Ich gehe nicht nach Hause, sondern fahre direkt zurück in die Stadt. Weg von dem Leben, gegen das ich mich entschieden habe. Weil ich jetzt wieder weiß, warum. Ich habe eine Entscheidung getroffen.