Gabriel
Ich hätte nicht bei Gabriel vorbeigehen dürfen, das ist mir jetzt klar. Ich hätte nicht anfangen dürfen zu graben. Ich hätte nach Hause gehen und die Sache vergessen sollen. Ich hätte mir sagen sollen: »Lass es gut sein, Liz, das geht dich nichts an.« Was schließlich der Wahrheit entsprach. Aber das tat ich nicht.
Vielleicht kann ich als Entschuldigung vorbringen, dass es Teil meiner Arbeit ist, die Fakten herauszufinden und sie glatt und ordentlich und so nahtlos wie möglich ineinanderzufügen, von ein wenig künstlerischem Gestaltungsspielraum natürlich abgesehen. Aber das war nicht der Grund. Nachdem ich Stevies Wohnung mit der Überzeugung verlassen hatte, dass er mir etwas vorenthielt, wollte ich einfach wissen, wo Mike wirklich gewesen war, und zwar so dringend, dass ich es wie Blut auf der Zunge schmeckte.
Gabe: für immer achtzehn geblieben, ein Mann, der sich noch mit vierzig wie das Mitglied einer Teenie-Rockband anziehen und auch so verhalten würde. Tagsüber freundlicher Handelsvertreter für Fotokopierer, der damit einen – für mich – entmutigenden Haufen Geld verdiente, nachts unerschrockener Luftgitarrenheld und kompromissloser Rebell, der ein Vermögen für Bier und Reisen zu Rockfestivals im ganzen Land ausgab – eine verfrühte Midlife-Crisis mit nicht einmal dreißig?
Seine Wohnung war in einem grauenhaften Zustand. Das war das Einzige, was ich an unserer ehemaligen Studenten-WG nicht vermisste. Natürlich war keiner der drei Bewohner mehr Student, aber sie machten immer noch den Eindruck äußerster häuslicher Unzulänglichkeit und wirkten, als weilten sie zum ersten Mal fern von zu Hause und ihren Müttern, was sich in ungenügend gebügelten Kleidungsstücken und zu langen Haaren äußerte. Ein Bank-Azubi, ein Fabrikleiter und Gabe. Drei Schlafzimmer und ein Gästezimmer, die alle von einem einzigen Flur abgingen, und am Ende die Küche, ein Schattenreich aus Tellerstapeln, Bechern mit kalten Kaffeeresten und wer weiß was für Scheußlichkeiten im Kühlschrank.
Direkt hinter dem Eingang ging die Tür zum großen Wohnzimmer ab, in dem zwei riesige, mit verblichenen Überwürfen bedeckte Sofas wie Inseln in einem Ozean aus Playboy-Heften, Musikzeitschriften und Motorsportmagazinen schwammen. Eine große, halb verwelkte Palme teilte sich ihren Topf mit einer Action-Man-Figur, die unerschrocken ihr Gewehr emporreckte.
Gabe wirkte peinlich berührt, aber auch irgendwie geschmeichelt, als er mich vor der Tür stehen sah. Höflich wie immer bat er mich herein, drückte sich aber in der Nähe der Türschwelle herum. Wir waren nicht mehr wirklich befreundet, aber wenn er mich im Pub erspähte, kam er manchmal auf ein Bier herüber, bevor ich einen Termin vorschob und rasch die Flucht ergriff. Er befand sich noch im Modus des freundlichen Vertreters und trug Hemd und Anzughose, auch wenn er Krawatte und Schuhe bereits ausgezogen hatte.
Mein Anblick muss ihn völlig verwirrt haben, denn ich hatte ihn noch nie allein besucht, nicht einmal zu Studentenzeiten, als er in einer ähnlichen Bude über dem Thai-Imbiss gehaust hatte. Damals hatte ich sein Blickfeld lediglich zusammen mit Mike und Cora gekreuzt, wenn wir auf dem Weg zu besseren Partys und besseren Freunden bei ihm vorbeigeschaut hatten.
»Hat Mike seine Jacke hier vergessen?« Mir war klar, dass ich zu schnell zur Sache kam, aber ich versuchte krampfhaft, den schwachen Geruch nach feuchten Sportklamotten zu ignorieren, dessen Quelle sich irgendwo in der Nähe befinden musste.
»Wann?«, fragte er verwirrt, verlegen und wachsam zugleich. Er erinnerte mich an den schüchternen, pubertierenden Cousin, den ich nie gehabt hatte, mir jedoch lebhaft vorstellen konnte. Ich glaube nicht, dass Gabe jemals eine feste Freundin gehabt hatte.
»Na, vor zwei Wochen, als das Rugbyspiel war und er bei dir übernachtet hat.« Ich schenkte ihm ein energisches, strahlendes Lächeln.
»Hat er doch gar nicht. Ich meine, seine Jacke hier vergessen. Jedenfalls, nicht dass ich wüsste.« Gabe sah sich um, als erwartete er, dass wie durch Zauberhand eine Jacke vor ihm auftauchte.
»Aber er hat nach dem Rugbyspiel hier gepennt?«
»Ja, klar. Im Gästezimmer.«
»Könntest du dann bitte mal schauen, ob seine Jacke hier ist? Nur damit er nicht noch mal herkommen muss. Ich war sowieso gerade in der Gegend.«
»In der Gegend? Hier?«
»Ja. Geschäftlich.« Normalerweise reicht das als Erklärung.
»Verstehe«, antwortete er und blickte sich ratlos um. Er schien sich zu fragen, wo in diesem Saustall unbemerkt eine Jacke vor sich hin vegetieren könnte. »Komm doch rein. Willst du dich kurz setzen?« Ich stand immer noch in der Tür zum Wohnzimmer herum.
»Mm. So viel Zeit hab ich eigentlich nicht.«
»Warte, ich schau mal schnell nach, ob er sie ins Gästezimmer geworfen hat oder so.«
Ich blieb stehen und wartete geduldig, aber er war schon nach einer halben Minute wieder da. Die Jacke war nicht aufzufinden. Nirgendwo in der Wohnung.
»Tja, dann ist sie wohl der Garderobe im Charlie’s zum Opfer gefallen. Wäre nicht das erste Mal«, grübelte ich. »Muss hier ja ’ne wilde Party gewesen sein.«
»Schön, dich mal wiederzusehen, Lizzy.«
»Um wie viel Uhr kam Mike denn hier an?« Er sah mich ausdruckslos an.
»Nicht den geringsten Schimmer. Ich war ziemlich voll an dem Abend. Du weißt ja, wie das ist.«
»Oh ja. Stevie war auch hier, oder? Er sagt, es war eine seiner besten Partys«, fuhr ich fort, wohl wissend, dass dieser Teil nicht zur Geschichte gehörte. Da ich meinen Lebensunterhalt mit Fragenstellen verdiene, gibt es nur wenige Fragen, die ich als zu aufdringlich empfinde. Außerdem war es die Gelegenheit, ihn beim Lügen zu ertappen. Er fiel prompt drauf rein.
»Ja, glaub schon. Wie gesagt, ich war ziemlich neben der Spur. Wahrscheinlich haben sie beide hinten im Gästezimmer gepennt.«
»Und wann sind sie gegangen?«
»Keine Ahnung. Ich hab bis mittags geschlafen. Du weißt ja: Rock’n’Roll, Baby! Mittlerweile allerdings mehr Rolle als Rock, was?« Er tätschelte seine runder werdende Körpermitte. »Im Gegensatz zu dir. Du siehst echt super aus, Lizzy. Ich hab gerade Wasser aufgesetzt. Willst du ’ne Tasse Tee oder irgendwas anderes?«
Da das »andere« vermutlich eine Lebensmittelvergiftung war und ich sowieso nichts Brauchbares aus ihm herausbekam, lehnte ich höflich ab und ließ ihn auf dem Treppenabsatz stehen, wo er sich, noch immer leicht verblüfft, übers Holzgeländer beugte und mir hinterhersah.
»War wirklich schön, dich wiederzusehen, Lizzy! Komm doch auf einen Kaffee vorbei, wenn du wieder mal in der Gegend bist.«
»Danke, Gabe!«, rief ich und hob von unten die Hand zum Gruß.
Zupf, zupf machte der Faden. Und es kamen immer mehr Details zum Vorschein.