Großbuchstaben
Ich versuche wohl nur zu erklären, warum ich beschloss, meine beste Freundin umzubringen. Wenn Cora nur damit gedroht hätte, mich bloßzustellen und mir wehzutun, hätte ich den Gedanken, der im Laufe des Winters in meinem Kopf Form angenommen hatte, bestimmt nicht ertragen. Aber sie drohte auch damit, Mike ins Verderben zu reißen, ihn mir zumindest wegzunehmen. Und uns damit ein Ende zu setzen.
Ich besaß doch ohnehin nur einen so kleinen Teil von ihm, und selbst der bestand hauptsächlich aus Erinnerungen. Ich konnte ihn nicht einfach aufgeben und so tun, als sei nichts gewesen – nicht nach allem, was passiert war.
Das wäre so gewesen, als hätte ich mir tief ins eigene Handgelenk geschnitten und wäre anschließend zur Tagesordnung übergegangen, während hinter mir eine blutige, klebrige Spur zurückblieb und mein Leben langsam erlosch.
Letztlich hatte ich sogar akzeptiert, dass Mike eine Affäre mit Jenny gehabt hatte. Oder zumindest mit ihr geschlafen hatte. Vielleicht, nur vielleicht, musste ich auch akzeptieren, dass er etwas sehr viel Schlimmeres getan hatte.
Er hatte sie nach Hause gebracht – und am nächsten Tag war sie tot gewesen. Wirklich nur ein Zufall? Das Überraschende war, dass mich das inzwischen gar nicht mehr interessierte. Cora war jetzt die Spielverderberin, nicht Mike.
Ich weiß, dass das teilweise meine Schuld war. Ich hätte ihr nicht vom Currymann erzählen dürfen. Denn mit diesem einen simplen Teilgeständnis hatte ich ihr etwas gegeben, das sie nie zuvor besessen hatte: Macht. Wie konnte ich erwarten, dass sie nicht davon Gebrauch machte? Jetzt, wo sie über dieses Wissen verfügte, zählte alles andere plötzlich nicht mehr: dass ich allgemein als hübsch galt und sie nicht, dass die Männer mir auf der Straße hinterherpfiffen und sich in Bars und Geschäften nach mir umdrehten, dass ich eine steile Karriere in einem vermeintlich aufregenden und lukrativen Beruf hinlegte, dass ich gescheit und witzig war und meine Liebe für Literatur, Theater, Kunst und Musik mit ihrem Mann teilte.
Bisher hatten diese Vorzüge den Vorteil gehabt, dass ich ganz bequem und ohne die geringste Bedrohung ihre Freundin sein konnte, dass ich sie bei Laune halten und ihr Ratschläge geben konnte, ohne dass mein Vertrauen in sie je Kratzer bekam. Welchen Grund hätte ich auch haben sollen, mich vor Cora zu fürchten?
Aber mit dem Eingeständnis meiner Schweigegeldzahlung hatte ich mich selbst mit einem Verbrechen in Verbindung gebracht, so geringfügig es auch sein mochte. Das war der Schwachpunkt, nach dem sie immer gesucht hatte, der Riss, den sie ausweiten konnte, indem sie Druck auf ihn ausübte. Ich hatte einen Mann dafür bezahlt, dass er das, was er angeblich über Jennys Tod wusste, für sich behielt. Genau genommen war das Behinderung der Justiz, dafür konnte mich die Polizei drankriegen. Ich hatte Informationen über Jennys Aufenthaltsort zurückgehalten, über ihre letzten Stunden. Preisgekrönte Journalistin in Erpressungsskandal verwickelt. Eine sperrige, eher unwahrscheinliche Schlagzeile, aber vielleicht eine Story wert – natürlich nur an einem ruhigen Tag.
Auf jeden Fall würde es mich meinen jetzigen Job kosten und, wichtiger noch, den Job, den ich in Aussicht hatte. DEN Job. Den Job, auf den ich gewartet und für den ich mit Stift und Papier gekämpft hatte, seit ich sechzehn war. Den Job, der mich wirklich nach vorne brachte, nach oben.
Cora hatte nämlich recht gehabt: Meine Artikel über Jenny hatten mir eine Nominierung für den walisischen Journalistenpreis der British Telecom eingebracht. Am Ende wurde ich nur Zweite, nahm in meinem schwarzen, eng anliegenden Abendkleid würdevoll lächelnd die Plakette entgegen und sonnte mich im Scheinwerferlicht. Die männlichen Medienvertreter hatten zu viel Champagner getrunken und lockerten ihre Krawatten, bevor sie mit lüsternem Blick herüberkamen, um mit mir bei Gratisgetränken an der Bar zu plaudern oder mir Visitenkarten zuzustecken und mich zu bitten, sie doch anzurufen.
Der erste Preis ging an ein gotterbärmliches kleines Wochenblatt aus dem hintersten West Wales. Für eine Story über Kleingartenkriege – ist das zu fassen? Nur weil die Geschichte auf Walisisch verfasst war und im Jahr zuvor ein Journalist von einer englischsprachigen Zeitung gewonnen hatte.
Wichtig war allein, dass mir die drei Stunden Smalltalk im Thistle Parc Hotel und eine lobende kleine Erwähnung in meiner eigenen Zeitung ein Jobangebot der BBC Wales eingebracht hatten, über deren Sendergebäude die Turmspitze der Llandaff Cathedral wie ein Traumgebilde aufragte. Fernsehnachrichten – das Tor zum gelobten Land!
Wenn ich die Autobahnüberführung im Norden der Stadt entlangfuhr, warf ich oft einen Blick hinüber zum Sendergebäude im Schatten der Kathedrale, über dessen emporragenden Antennen sich wie über einer Thomas-Hardy-Landschaft die Wolken teilten, bis es in goldenes Sonnenlicht getaucht war. Als ich meinen Kollegen von dem Angebot erzählte, betrachteten sie mich plötzlich mit anderen Augen, voller Ehrfurcht und mit einer kriecherischen Anerkennung, die sie mir zuvor verwehrt hatten. Ich würde nicht sagen, dass sie mir Respekt entgegenbrachten – den Respekt verliert jeder Journalist, noch bevor sein erstes Jahr an der Front vorbei ist –, aber zumindest betrachteten sie mich mit Neid, geblendet vom eigenen Ehrgeiz.
Der Glanz dieser drei ikonischen Großbuchstaben, BBC, hatte auf mich abgefärbt, und sein Licht war so hell, sogar gleißend, dass es, da war ich mir sicher, alles einschmelzen und ausblenden würde, vor dem ich durch mein Studium zu fliehen versucht hatte. Die Geschichte konnte neu geschrieben werden, und mein neues Ich würde rufen: Ich hab’s euch doch gesagt! Ich hab euch doch gesagt, dass ich mehr kann, dass ich eigentlich anderswo hingehöre, dass ich jemand anders sein müsste! Auch wenn niemand da war, der mir zuhörte.
Dieses neue Gefühl war viel zu süß und unentbehrlich, um es gleich wieder aufzugeben. Cora wollte es mir aus der Hand schlagen, um anschließend auf den Scherben herumzutrampeln. Ich weiß nicht, ob sie sich wirklich über die Konsequenzen im Klaren war, die es haben würde, wenn wir der Polizei erzählten, dass wir Jenny im Charlie’s getroffen hatten und anschließend ohne Mike nach Hause gegangen waren. Sie musste sich darüber wohl im Klaren gewesen sein, schließlich war sie eben nicht dumm, auch wenn ich das gerne vergaß. Sie behauptete, die Geheimnistuerei nicht länger ertragen zu können, die Unwissenheit.
Sie glaubte vermutlich, dass Mike zwar sie anlügen konnte, nicht aber die Polizei. Am Ende würde alles herauskommen, und sie würde endlich ihre Antworten haben.
Das Problem war nur, dass auch ich nicht länger so leben konnte. Es machte mich fertig, nicht zu wissen, ob sie zusammenbrechen und uns alle mit in den Abgrund reißen würde, ob sie mir Mike und alles, was mir im Leben etwas bedeutete, wegnehmen würde, einfach weil sie es konnte. Um uns beide zu verletzen, obwohl sie sich selbst dadurch am meisten wehtat.
Und noch etwas zwang mich zum schnellen Handeln.
James tauchte in der Redaktion auf, um kurz hallo zu sagen und erneut sein Glück bei mir zu versuchen. Vielleicht gelang es ihm ja dieses Mal, ein Date oder gar ein Schäferstündchen abzustauben? Er wollte am Freitagabend zurück nach London, in die große, weite Welt mit all ihren Verheißungen, und bat mich, mit ihm zu kommen. Für ein Wochenende natürlich nur, nicht für ein ganzes Leben. So romantisch war er nicht. Er mochte hartnäckig sein, aber Illusionen machte er sich nicht.
Ein Teil seiner Überzeugungstaktik bestand darin, mir vertrauliche Informationen zuzustecken. Ein Tauschhandel: Informationen gegen Sex. »Owain hat eine Affäre« lautete sein erstes Angebot. Um es verlockender zu machen, legte er noch einen Cappuccino oben drauf.
»Mit Cath aus der Grafik?«
»Nein, mit Paul aus der Grafik.«
Ich brach in Gelächter aus. »Keine Chance. Nicht interessant genug.«
»Simon wird bald gefeuert, weil er seine Geschichten an die Mail on Sunday verkauft hat.«
»Blödsinn – die Mail on Sunday würde unser Zeug nicht mit der Kneifzange anfassen.«
Er seufzte. »Okay, du hast recht. Aber ich könnte dir ein echtes Geheimnis verraten, wenn du versprichst, dass du es für dich behältst. Du darfst es auf keinen Fall drucken, sonst reißen sie mir die Eier ab. Das Ganze ist Deep Background – Deep Throat sozusagen.« Er grinste vielsagend.
Ich grinste zurück. »Du hast wieder Die Unbestechlichen geschaut, gib’s zu! Na gut, versuch’s meinetwegen mit Woodward und/oder Bernstein, aber versprechen kann ich nichts.«
»Also …« Er rückte unnötig nah an mich heran, beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch: »Gestern hat mir eine meiner Kontaktpersonen von der Polizei gesteckt, dass die Mutter von diesem Mädchen aus dem Fluss – wie hieß sie noch? Morgan – die persönlichen Gegenstände durchgegangen ist, die sie nach der Beerdigung mitgenommen hat, und dabei offensichtlich auf etwas Neues gestoßen ist.«
»Eine deiner Kontaktpersonen? Du meinst Phil, den Mann deiner Schwester, von der Kripo«, stellte ich klar, brachte aber nur ein dürftiges Lächeln zustande. Ich hatte Angst vor dem, was nun kam.
»Stimmt«, räumte er ein, »es war Phil. Deshalb darf ich auch nicht darüber reden. Marie bringt mich um. Jedenfalls hat diese Mrs Morgan um Jennys Geburtstag herum ein altes Buch ihrer Tochter durchgeblättert und dabei einen Zettel gefunden, einen Liebesbrief oder so was, bei dem es um ein Treffen mit einem Mann ging. Er wird gerade auf Fingerabdrücke untersucht. Der Zettel war unterschrieben mit …« Er machte eine dramatische Pause und kam noch dichter an mich heran, ermuntert von der Tatsache, dass ich die Luft anhielt. Zwischen uns erstreckte sich ein Ozean, in dem ich kläglich ertrank. »… dem Buchstaben M.«
Mein Herzschlag setzte aus.
»Genau, ist das nicht der Wahnsinn? Der mysteriöse Mr M.! Vielleicht heißt er aber auch M. mit Vornamen. M. – bei Anruf Mord.«
»Was stand sonst noch drauf? Auf dem Zettel, dem Brief?«
»Keine Ahnung. Nur so was wie: Ich kann es nicht erwarten, dich zu sehen. Ich weiß, wir sollten das nicht tun, aber ich kann nicht anders. Klingt wie ein verheirateter Mann, wenn du mich fragst. Vielleicht ist es ja der Mann aus dem Charlie’s, den deine Freundin Nora erwähnt hat? Plötzlich ergibt alles einen Sinn, nicht wahr? Kleines Flittchen macht mit verheiratetem Kerl rum, und die Sache gerät außer Kontrolle. Er muss ihr irgendetwas angetan haben, warum hat er sich sonst nicht gemeldet, als die Polizei diese ganzen Aufrufe gestartet hat? Bald hast du deinen Mordfall, wirst sehen! Ich wette, eine deiner Kontaktpersonen kann dir die Sache bestätigen. Wäre doch ’ne tolle Exklusivstory für dich, Lizzy! Das sollte dir eigentlich ein paar schöne Stunden wert sein«, schloss er triumphierend.
Ich musste unbedingt weiter Desinteresse vortäuschen, durfte auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass mich seine Geschichte auch nur im Entferntesten interessierte. »Vielleicht. Aber nicht heute.« Ich tätschelte seinen Arm, schob den Stuhl zurück und gab das Signal zum Ende unserer Verhandlungen, indem ich mich so aufrecht wie möglich erhob. »Schluss mit der Märchenstunde. Der mysteriöse Mr M., dass ich nicht lache! Kein Pulitzerpreis für dich, Jimmy. Und kein Fick. Aber danke für den Kaffee.«
Er lächelte liebenswürdig, weil er ohnehin nicht wirklich erwartet hatte, dass ich sein Angebot annahm. »Wie du meinst, Liz. Es ist deine Karriere. Und wieder hast du mir eiskalt das Herz gebrochen. Falls du das Material doch noch verwendest, schuldest du mir was, klar? Nächstes Mal bist du für den Kaffee zuständig. Und für die Story.«