Jahrestag
Ein beinahe frostiger Wind begann die Queen Street hinaufzuwehen, und das Kribbeln auf meiner Haut verriet mir deutlicher als mein Frösteln unter dem Regenmantel und die ersten gelben Blätter unter meinen Füßen, dass der Herbst gekommen war.
Nachdem der Currymann sein Schweigegeld bekommen hatte, war der August zunächst in einen hitzeflimmernden September übergegangen, der mit beinahe mediterraner Pracht vorüberzog. Am Strand tummelten sich die letzten gierigen Sonnenanbeter, und das schwächer werdende Abendlicht tauchte Kinder, Hunde, Rentner und Eltern gleichermaßen in rosa Licht.
Wir brachten die üblichen Artikel über Schulanfang und Semesterbeginn, denen wie jedes Jahr die Veröffentlichung der Schulabschlussergebnisse vorausgegangen war. Sinkt das Bildungsniveau? Sind Schulnoten ohnehin nutzlos? Mit solchen Fragen füllt man die Sommerpause, während Parlament und Nationalversammlung pausieren und die interessanten Prominenten auf Sardinien weilen. Jedes Jahr wird mit diesen saisonalen Seitenfüllern die zweite Jahrshälfte eingeläutet, und so drehen und drehen wir uns immer weiter im Kreis …
Ich verspürte die übliche Erwartung, die in dieser Jahreszeit die Luft elektrisch aufzuladen scheint, und sog gierig den kalten, klaren Wind in die Lunge, der den Schweiß und den Staub des Sommers von der Haut löste. Das kitschig bunte Federkleid des Augusts wurde abgestreift, Äste und Laub wurden stetig brauner, und der Geruch nach brennendem Holz und Nordwind ersetzte die widerlich süße, blumige Duftnote des zu Ende gehenden Sommers. Mit dem Herbst kam die verlockende Aussicht, blank gescheuert, bis auf die Knochen reingewaschen und wieder in einen unbefleckten Zustand zurückversetzt zu werden.
Ich kam mit einer höchst willkommenen Gehaltserhöhung von fünfzig Pfund im Monat nach Hause, kramte vergnügt meine Schals und Handschuhe, gemütlichen Cordhosen, pastellfarbenen Rollkragenpullover und flauschig-warmen Winterstiefel hervor und dachte an herzhafte, satt machende Eintöpfe und Suppen hinter zugezogenen Vorhängen. Es würde Partys und Lagerfeuer geben, heiße Schokolade mit Brandy, Schlittschuhpartien und Gelächter und eine Million anderer Gründe, mit rosigem Gesicht und einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen durch die kalten Straßen zu stapfen.
Ich hatte den Eindruck, seit einem Jahr nicht mehr richtig durchgeatmet zu haben. Jenny und all die Zweifel, der Currymann und seine Drohung – das alles gehörte in eine andere Welt. Es war Zeit für einen Neuanfang. In dieser Nacht schlief ich wie ein junges Mädchen und trieb auf einem Ozean aus wohligen, vorpubertären Träumen von funkelnden Lichtern und neuen Schuhen dahin.
Bedauerlicherweise hatte ich eine Kleinigkeit vergessen: Cora. Ein Name, der sich irgendwie vollkommen anfühlte im Mund, gesund, befriedigend, sicher, zentral.
Seltsam, wie wir – Mike, Stevie und ich – immer schon um ihre Vorlieben und Launen gekreist waren; um ihren Esstisch, ihre Auswahl von Bars und Clubs, ihre Hochs und Tiefs, ihre Empfindlichkeiten; rücksichtsvoll, wenn wir widersprachen oder diskutierten, besänftigend, wenn es zur Konfrontation kam, erpicht darauf, sie bei Laune zu halten. Vielleicht taten wir das nur, weil es der Weg des geringsten Widerstands war, vielleicht aber auch, weil wir uns in der Rolle unartiger Kinder gefielen, die hinter dem Rücken ihrer Eltern kichernd Grimassen schnitten. Wir spielten unser Lieblingsspiel: Wie mache ich Cora glücklich?
Mag sein, dass uns dieses Verhalten eine perverse Macht über sie verlieh, aber ich glaube, wir wollten sie auch aufrichtig beschützen. Wir wollten, dass sie glücklich war, weil dadurch auch unser Leben leichter wurde.
Nach Coras heftiger Reaktion im Anschluss an die Nacht im Charlie’s hatten wir daher versucht, sie vor genaueren Informationen zum Fall Jenny abzuschirmen. Weder ich noch Mike hatten durchblicken lassen, dass sie bei seiner Firma angestellt war und dass er sie schon aus Wrexham gekannt hatte. Ihr Tod schien nichts als ein bedauernswerter Unfall zu sein, wozu es also noch schlimmer machen? Die Polizei veröffentlichte keine weiteren Aufrufe und schien Jenny nicht mit Personen in Verbindung zu bringen, die damals im Charlie’s gewesen waren. Wie Jenny ihre letzte Nacht verbracht hatte, blieb ein Rätsel.
Mein erster Artikel über die Identifizierung von Jennys Leiche war Cora tatsächlich entgangen. Mike hatte recht gehabt: Sie las nicht viel und verfolgte nur selten die Nachrichten. Für Cora spielte sich das Leben nicht draußen auf der Straße ab, wo Tod und Skandale und der Niedergang des öffentlichen Dienstes die Schlagzeilen bestimmten, sondern bei jenen Personen, die täglich in engen, genau vorgeschriebenen Ellipsen um sie herumkreisten. Das machte es leichter für uns, Jenny außen vor zu lassen, jenseits der Grenzen, dort, wo sie hingehörte. Ich glaube, insgeheim wussten wir genau, dass wir die Sache nicht für immer geheim halten konnten. Wir warteten also lediglich den richtigen Moment ab und machten es uns einstweilen so leicht wie möglich.
Im Mai stieß Cora auf den Artikel über die Beerdigung. Seite drei, Jennys Foto auf dem Sarg, groß und in Farbe. Durch Zufall. Sie hatte sich eine Zeitung gekauft, weil an diesem Tag ein Bericht über die Mutter einer Schülerin erscheinen sollte, die eine private Hausaufgabenbetreuung auf die Beine gestellt hatte.
Sie las das Datum, an dem Jenny zum letzten Mal lebend gesehen worden war, und erkannte sofort, dass es sich um Stevies Geburtstag handelte, um die Nacht im Charlie’s. Mein Name stand über dem Artikel, und es stand auch darin, dass Jenny für eine PR-Agentur gearbeitet hatte. Zum Glück gab es keine Verbindung zwischen ihrer Agentur und der von Mike, da sie aus firmenstrategischen Gründen unter verschiedenen Namen firmierten.
»Das ist sie! Das ist diese Jenny, oder?« Aufgrund ihrer Aufregung und wegen des schlechten Empfangs krächzte Coras Stimme nur undeutlich aus meinem Handy, aber ich verstand trotzdem jedes Wort. Die Angst vor diesem unvermeidlichen Gespräch hatte an einem fest verschlossenen Ort in meiner Brust geschlummert, so dass mir unbewusst längst klar war, welche Sätze fallen und was ich antworten würde – in ruhigem Ton und mit neutralem Gesichtausdruck – und wie ich mich dennoch unter Coras scharfer Anklage winden würde. Wenigstens hatte sie mich auf dem Handy angerufen, so dass ich mich in ein stilles Eckchen zurückziehen konnte, wo uns niemand hörte und ich mein Gesicht nicht verbergen musste.
»Cora? Ich kann dich kaum verstehen. Ich geh in ein anderes Zimmer. Wie bitte?«, brüllte ich und nutzte dieses ziemlich offensichtliche kleine Täuschungsmanöver dazu, mein Handy mit nach nebenan ins leere Konferenzzimmer zu nehmen.
»Diese Jenny! Das ist diese Jenny!«, kreischte sie. »Du wusstest davon? Was ist passiert? Ist ihr irgendetwas zugestoßen? Wie kommt es, dass du darüber schreibst? Warum hast du nie etwas gesagt? Hörst du mich? Lizzy? Lizzy?«
Ich ließ mich schwer in den Ohrensessel des Chefredakteurs fallen und kratzte meine Kraftreserven zusammen. Auf ins Gefecht.
»Ja, jetzt ist es besser, ich höre dich. Du hast also den Artikel gelesen?«
»Was ist mit ihr passiert? Wie kommt es, dass du nichts davon gesagt hast?«
Die vorbereitete Antwort Nummer eins kam mühelos: »Na ja, ich hab den Auftrag ganz kurzfristig übernommen. Außerdem wollte ich dich ehrlich gesagt nicht schon wieder beunruhigen.«
»Aber seit wann weißt du, dass sie tot ist?«
Das war die kniffligste Frage, über die ich am meisten nachgedacht hatte. Deshalb wusste ich jetzt genau, was ich sagen wollte: »Also um ehrlich zu sein, weiß ich es schon seit ein paar Monaten. Als ihre Leiche gefunden wurde, kamen die ersten Meldungen raus. Aber ich habe nichts gesagt, weil ich ja wusste, wie sehr dich die ganze Geschichte sowieso schon mitgenommen hatte. Ich fand es sinnlos, schlechte Gefühle wieder aufzuwärmen, und es war sowieso viel zu spät, um noch irgendetwas tun zu können. Ich habe einfach gehofft, dass du es nicht mitbekommst. Ich weiß, dir ist das nicht klar, aber für mich sind solche Sachen Alltag. So was kommt jeden Tag vor.«
»Aber in dem Artikel hört es sich so an, als würden die Familie und die Polizei davon ausgehen, dass etwas Schlimmes passiert ist und es vielleicht gar kein Unfall war. Da steht nicht, dass sie in den Fluss gefallen ist oder so was. Die glauben doch nicht etwa, dass ihr Tod irgendwie verdächtig ist, oder? Du weißt schon … dass es sich vielleicht um ein Verbrechen handelt?«
Das war schnell gegangen. Diesen Gedankensprung hatte sie deutlich rascher vollzogen als ich, deutlich rascher auch, als ich erwartet hatte. (Dass es sich vielleicht um ein Verbrechen handelt – wie ich diese Agatha-Christie-Floskeln hasste! Ach ja, jetzt, wo du es erwähnst, Cora: Mr X wurde mit einem stumpfen Werkzeug in der Hand am Flussufer gesehen!)
»Das steht da doch nirgends, oder?«, antwortete ich ruhig und geduldig, ohne zu zögern und ohne ihr Anhaltspunkte oder Stichwörter zu liefern.
Coras Schweigen am anderen Ende der Leitung war spürbar aufgeladen, was auf ein Zusammenbrauen stürmischer Kräfte schließen ließ und mit Sicherheit auch auf einen Ausbruch. Es dauerte so lange, dass ich schon dachte, die Verbindung wäre unterbrochen worden. Dann erkannte ich an ihrer stoßweise schneller werdenden Atmung, dass sie nicht etwa kurz davor war, in die Luft zu gehen oder mich wie ein Wirbelsturm, der auf Land trifft, niederzumähen, sondern im Gegenteil große Mühe hatte, nicht in Tränen auszubrechen.
Ich war überrascht. Tränen waren irgendwie schlimmer als der Hagel aus Fragen und Vorwürfen, auf den ich mich eingestellt hatte. Andererseits machten sie es mir leichter, mich zu rechtfertigen. Ohne mein Zutun hatte mich Cora in meinem Standpunkt bestärkt.
»Siehst du? Ich wusste, dass du so reagierst. Ich wusste, dass alles wieder in dir hochkommt. Deshalb habe ich nichts gesagt. Es tut mir so leid, Cora. Nimm es dir nicht so zu Herzen.«
Wieder brandete mir Schweigen entgegen. Cora schien sich die Nase zu putzen, dann räusperte sie sich und fand ihre Stimme wieder: »Ich verstehe schon. Du wolltest vermeiden, dass ich ausflippe, und natürlich bin ich ausgeflippt. Aber jetzt geht’s mir schon besser. Also: Was glaubt die Polizei, was passiert ist? Du musst es doch wissen, du bekommst doch auch Sachen mit, die nicht in der Zeitung stehen, oder?«
»Ich glaube nicht, dass die Polizei schon eine heiße Spur hat«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Keiner scheint so recht zu wissen, wo sie sich an diesem Abend aufhielt und mit wem sie zusammen war. Es ist nach wie vor ein Rätsel.«
»Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass sie es noch nicht herausgefunden hat? Die Polizei, meine ich.«
»Wir sind hier nicht im Fernsehen, Cora. In der Wirklichkeit läuft nicht immer alles so reibungslos ab.«
»Aber es ist doch logisch, dass Personen, mit denen sie an dem Abend zusammen war, wissen, was sie zuletzt getan hat, oder? Sonst hätte die Polizei doch keinen Aufruf gestartet.« Wieder folgte Schweigen, und dieses Mal war es schlimmer, weil ich genau wusste, was als Nächstes kam.
»Wir waren mit ihr zusammen. Wir haben sie gesehen. Hätten wir das nicht melden müssen? Ich meine, hätten wir nicht zur Polizei gehen müssen? Wir wissen, wann sie im Charlie’s war. Mike …« Sie brach ab, und die pfeifende Atmung setzte wieder ein. Dieses Mal hatte sie sich nicht unter Kontrolle. Ich hörte die Tränen, die ich nicht sehen konnte. »Sie war erst zweiundzwanzig! Ich dachte, sie wäre älter. Ich dachte wirklich, sie wäre älter.«
Sie sprach genauso sehr mit sich selbst, wie sie mit mir sprach. Plötzlich fragte ich mich, wo sie steckte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb vier.
»Cora, bist du in der Schule?«
Himmel noch mal! Waren etwa Kinder oder Lehrer oder Eltern in der Nähe, die sie hören konnten und sich fragten, warum die nette Lehrerin heulte und sich in ihre Zeitung schnäuzte?
Zu meiner Erleichterung antwortete Cora: »Nein, ich war in der Schule. Auf dem Weg nach Hause habe ich die Zeitung gekauft, um den Artikel über Susies Mütterprojekt zu lesen. Ich bin im Auto.« Das war doch zumindest schon mal etwas. Immerhin konnte sie dort niemand hören.
»Hör mal, Cora, du darfst dich nicht so aufregen deswegen. Ich habe mich am Anfang auch aufgeregt, aber solche Dinge passieren nun mal. Traurig, aber wahr. Ich schätze, ich bin da etwas abgehärteter als du.«
»Oh ja«, sagte sie ironisch und gab einen Laut von sich, der halb Lachen, halb Schluchzen war. »Solche Dinge passieren. Aber sie passieren normalerweise niemandem, den wir kennen.«
»Na ja, so richtig gekannt haben wir sie ja wohl nicht«, korrigierte ich sofort. Dass Cora sentimental wurde und über den Verlust der ach so jungen Jenny klagte, die sie, dreißig Sekunden bevor sie von ihrem Tod erfuhr, noch gehasst und verhöhnt hatte, war wirklich das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte. »Ich meine, wir sind ihr zwar kurz begegnet, aber gekannt haben wir sie nicht. Deshalb waren wir auch der Meinung, dass es sich nicht lohnt, zur Polizei zu gehen. Diese Nacht ist Monate her, und wir wissen schließlich nicht, wohin sie gegangen ist, nachdem wir weg waren, oder was mit ihr passiert ist. Es hätte nur unnötige Scherereien gegeben, und das für nichts und wieder nichts, weil wir sowieso nicht hätten helfen können.«
»Du meinst, Scherereien für mich und Mike? Scherereien zwischen uns? Mike weiß es also auch, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete ich vorsichtig, wohl wissend, dass sie mich jederzeit bei einer Lüge ertappen konnte. »Allerdings noch nicht lange.« Mir war klar, dass sie Mike anrufen würde, sobald sie den Hörer aufgelegt hatte. Wir hatten eine gemeinsame Version zur Schadensbegrenzung vereinbart, die besagte, dass er erst kurz vor dem jeweiligen Artikel, der Cora auf die richtige Fährte gebracht hatte, von Jennys Tod erfahren hatte. Diese Darstellung schien die wenigsten Tücken zu bergen.
»Verstehe. Natürlich. Ja.« In ihre Stimme kehrte ein Hauch von Beherrschung zurück, und ich spürte, wie sie sich zurückzog. Ihre plötzliche Ruhe verriet, dass sie verärgert war und ein wenig verletzt. Sie war nicht gern die Letzte, die von etwas erfuhr. Ich schätze, es war ihr gutes Recht, eingeschnappt zu sein. Das war immer noch besser als wütend oder hysterisch.
Rasch beendete sie das Gespräch, nachdem sie mir noch einmal versichert hatte, es gehe ihr gut, es sei nur ein Schock gewesen und ich solle ihr Bescheid geben, wenn ich etwas Neues hörte, natürlich verstehe sie, warum ich ihr vorher nichts gesagt habe, sie wisse ja, dass ich sie nur schonen wollte, ich solle mir keine Sorgen machen, sie werde sich nicht aufregen.
Als ich das Handy vom Ohr nahm und im Sessel des Chefredakteurs in mich zusammensank, ging mir auf, dass wir einen Fehler gemacht hatten.
Anfangs hatte die Tatsache, dass ich – dass wir – ihr Jennys Tod verschwiegen hatten, die Situation für mich und Mike leichter gemacht, aber jetzt schürte offensichtlich genau diese Tatsache in Cora den Verdacht, dass es etwas zu vertuschen gab. Ich hörte es an ihrem Tonfall am Ende des Gesprächs. Und wenn es etwas zu vertuschen gab, dann musste es mit Mike zu tun haben. Es dauerte nicht lange, bis Coras nagende Zweifel sich nämlich auf etwas richteten, das mehr mit ihr selbst zu tun hatte als die boulevardtaugliche »Tragödie« eines toten Mädchens, das keiner von uns wirklich gemocht hatte.
Ein oder zwei Wochen später stimmte Cora wieder ihre alte Leier an und behauptete, hinter dem angeblichen Zufallstreffen mit Jenny im Charlie’s stecke mehr, als sie zunächst gedacht habe. Inzwischen wusste sie, dass Jenny aus Wrexham stammte, und die dortige PR-Branche war überschaubar.
Mike und ich bestritten übereinstimmend, dass es sonst noch etwas zu erzählen gab. Sie war also tot, na und? Das änderte nichts an dem, was laut Mike in jener Nacht passiert war. Aber Coras Instinkt verriet ihr, dass der Mann, den sie liebte und mit dem sie seit Jahren zusammenlebte, Geheimnisse vor ihr hatte. Auch wenn sie nicht wusste, was er ihr vorenthielt, begann langsam das Misstrauen in ihr zu keimen und in ihrem Herzen Wurzeln zu schlagen, eine Pflanze, deren Blüten schwarz und welk zu werden versprachen.
Die Polizei hatte keine neuen Erkenntnisse zu bieten, und während der Sommer ins Land zog, ließ so die öffentliche Aufmerksamkeit immer mehr nach. Bis der Richter sein Urteil über die Todesursache fällte, waren keine neuen Enthüllungen zu erwarten. Die vorbeiziehenden Wochen nahmen Coras Zweifeln und Fragen ein wenig die Schärfe. Der Alltag forderte sein Recht und ließ alles wieder normal erscheinen, und auch Cora schien sich widerwillig in eine Art Wartezustand zu fügen.
Es fiel uns leicht, das zu glauben, weil wir es glauben wollten. Wir wollten die Zeit zurückdrehen, wollten wieder so leben, wie wir es vor Jenny getan hatten. Mike gab sich die größte Mühe, Cora zufriedenzustellen, sie zu verwöhnen und von seiner unvergänglichen und ungeteilten Zuneigung zu überzeugen. Die Sache war eine kurze Entgleisung gewesen, eine kleine Unebenheit, ein Störfaktor, der bald auf der Strecke blieb, während man nach vorn schaute und das glückliche Eheleben wieder aufgenommen wurde.
Während der heißen Sommermonate hatte Cora unterrichtsfrei, und da ich wechselnde Schichten arbeitete, konnten wir die langen, in endlose Abende übergehenden Tage immer wieder dazu nutzen, zu faulenzen oder uns fast wie in alten Zeiten die Nächte um die Ohren zu schlagen. In den Augen der Welt waren wir ein Grüppchen guter Freunde, sonst nichts.
Anfangs nahmen Mike, Stevie und ich uns tunlichst davor in Acht, Sie wissen schon wen zu erwähnen. Mit der Zeit vergaßen wir dann vollkommen, dass es etwas gab, vor dessen Erwähnung wir uns in Acht nehmen mussten.
Zu viert unternahmen wir Ausflüge an den Kiesstrand von Southerndown und aßen Eis, fest entschlossen, fröhlich und ausgeglichen zu sein, während Stevie uns mit Geschichten aus der Arbeit unterhielt und ich berichtete, welche Missgeschicke und Fehltritte sich die Schwachköpfe aus der Redaktion wieder geleistet hatten. Wir verputzten fertige Sandwiches, schmolzen unter einer dicken Schicht Sonnencreme im Gras dahin und zogen uns in den gotischen Schatten der alten Parkmauern und der Herrenhausruine zurück, wenn die Sonne am höchsten stand.
Abends suchten wir die schattigen, feuchtfröhlichen Terrassen der neu eröffneten Bars auf der Mill Lane auf, die exotische Alkopops ausschenkten und weit genug vom Charlie’s entfernt lagen. Hier konnten wir beim Trinken Leute beobachten und uns den schwabbeligen Menschenmassen mit ihren bauchfreien Polyester-Tops, prallen Bäuchen, toupierten Frisuren und Stiernacken überlegen fühlen.
Die Welt war in Ordnung, und sie bestand nur aus uns vieren.
Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich, dass Cora mich manchmal wehmütig aus den Augenwinkeln betrachtete, wenn sie glaubte, ich würde vor mich hin dösen oder wäre in den Bau einer Sandburg oder in ein Buch vertieft oder würde gerade selbstvergessen an meinem Cocktail nippen. Irgendetwas wuchs und gedieh in ihrem Schweigen, in ihrem schwächer werdenden Hang, zu glucken und sich aufzuregen und uns liebevoll herumzukommandieren. Diese Verhaltensweisen, die immer ihr Markenzeichen gewesen waren, der Kern ihres Wesens, schwanden dahin wie das Tageslicht des zu Ende gehenden Augusts.
Wir freuten uns darüber, dass sie vermeintlich immer entspannter wurde, und nötigten ihr Wein und Martini auf, die sie immer seltener zurückwies. Wir werteten es als positives Zeichen, als Triumph unseres Optimismus, der sich immer mehr auf sie übertrug und uns Ruhe und Frieden verschaffte. Wir waren froh darüber. So konnten wir vergessen.
Aber Cora hielt unbeirrbar an Jenny fest. In der Hitze des Sommers brütete sie unbemerkt ihren Frust aus, bis er bereit war, die Schale zu durchbrechen.
Als Anfang September das neue Schuljahr begann, behielt Cora, ohne dass es uns zunächst auffiel, ihre sommerlichen Trinkgewohnheiten bei. Das war das zweite Zeichen, das ich vor lauter Freude über den nahenden Winter ignorierte. Für Cora war es normalerweise schon ein großes Besäufnis, wenn sie mehr als drei Martinis und ein Glas Wein trank, daher hätte es mich alarmieren müssen, dass sie – schneller, als ich bestellen oder gar mit ihr Schritt halten konnte – ein Glas Wodka nach dem anderen hinunterschüttete.
Im Oktober sagte Cora nur noch selten Nein zu einem Gläschen Wein in der Mittagspause und einem weiteren nach der Arbeit oder einem Fläschchen zum Mittagessen am Samstag. Heute weiß ich, dass sie damit ihre eigene leise Paranoia schürte. Zweimal musste ich Mike helfen, sie in ein Taxi zu hieven, nachdem sie breitbeinig vor sich hin getorkelt war, als müsste sie auf einem schlingernden Schiff die Balance halten. Dabei war es nicht einmal sehr spät oder ein besonderer Anlass.
In Kürze war die Nacht, in der Jenny uns die Wiedersehensparty verdorben hatte, ein Jahr her. Die Nacht ihres Verschwindens. Stevies Geburtstag.
Ich hatte den Auftrag, einen Artikel nach dem Muster Ein Jahr danach – Mord/Tod/Rätsel immer noch ungelöst zu schreiben. Die Polizei erneuerte ihren Aufruf an die Bevölkerung in der Hoffnung, damit dem Gedächtnis möglicher Zeugen auf die Sprünge zu helfen. Mir kam dieser Aufruf so lange nach dem Vorfall ein wenig unsinnig vor. Es sei denn, die Polizei hatte neue Beweise, gab dies jedoch zunächst nicht zu. Zu meiner immensen Erleichterung schien das Tagebuch aus Jennys Zimmer zu keinen Ergebnissen geführt zu haben. Der mysteriöse »Er« aus der Arbeit, den sie in jener Nacht hatte treffen wollen, war nie aufgetaucht.
Als mein Artikel – inklusive Foto und weiterer netter Worte von Mrs Morgan – auf Seite zwei erschien, trat Cora endgültig den freien Fall an.
Ich wusste, dass sie und Mike seit Ende des Sommers viel gestritten hatten. Ihre Launen wurden unvorhersehbar. Das Thema Jenny hatte sich in alle ihre Gespräche zurückgeschlichen, mischte sich in jeden Moment des Schweigens, jede Atempause beim Lachen. Irgendetwas musste zwischen Jenny und Mike gelaufen sein, davon war sie überzeugt. Ihre Anspielungen machte sie jetzt offen, wenn wir vier zusammen waren, die Vorwürfe und die Fragen äußerte sie nur, wenn sie mit mir allein war. In Sekundenschnelle konnte sie zwischen Melodram und Märtyrertum hin und her schalten, und nach ein paar Drinks blitzte die Wut der betrogenen Geliebten im beschleunigten Takt ihres zum Mund geführten Wodkaglases auf. Es war ermüdend.
Das arktische Schweigen, mit dem sie immer häufiger auf meine Geduld reagierte, und ihre gelegentlichen Anfälle erhöhter Wachsamkeit begannen mich zu reizen wie Nadelstiche, mich ins Fleisch zu ritzen, mir auf den Nerven herumzutrampeln, mir die Tränen in die Augen zu treiben.
Ganz langsam verwandelte sie jeden friedlichen Moment in einen Akt der Buße – man empfand ihre Gegenwart als Strafe und schämte sich hinterher dafür. Mike fing an, mich wie ein reuiger Sünder um Rat anzuflehen, verwirrt und traurig, weil er, sosehr er sich auch bemühte, nicht verstand, warum sie gereizt und weinerlich und grob wurde, weil er es nicht schaffte, sie zu besänftigen oder die alte nachgiebige Cora wieder hervorzulocken.
Im Laufe des Oktobers beschoss sie mich wieder und wieder mit ihren Verdächtigungen, beim Mittagessen, im Café, am Telefon. Dann fing sie an, das gefürchtete Wort wie eine Waffe zu schwingen, säbelscharf, bereit, einem die Haut aufzuschlitzen: ficken. Hatten sie gefickt? In jener Nacht? Vorher schon? Das Wort, der Gedanke, die Überzeugung war so zerstörerisch geworden, dass sie sie nicht mehr abstreifen konnte – sie hatte sich längst tief unter ihre Haut gegraben.
Je mehr Zeit verging, desto mehr trank sie. Je mehr sie trank, desto launischer und aggressiver wurde sie. Manchmal ergriff auch eine andere, sanftere Stimmung von ihr Besitz, dann wurde sie rührselig, nahm meine Hand und sagte: »Du bist meine beste Freundin, Lizzy, meine allerbeste«, so als wünschte sie sich verzweifelt, dass ich ihr glaubte.
So war Cora also ein Jahr danach. Sie zerbrach zusehends und war gleichzeitig bestrebt, alles um sich herum ebenfalls in Stücke zu schlagen.
Das brachte Komplikationen mit sich. Coras Launen machten es mir und Mike so schwer wie noch nie, uns zufällig zu begegnen oder unsere kleinen Ausflüge ins Theater einzufädeln. Wohin er auch ging, er musste jedes Mal ein Verhör über sich ergehen lassen. Das trieb mich in den Wahnsinn. Ich verstand nicht, warum sie es nicht einfach dabei bewenden lassen konnte. Ich hatte es doch fast geschafft, uns unbeschadet in ruhigere Gewässer zu steuern. Das war doch alles schon so lange her, oder nicht? Warum fing sie jetzt wieder damit an?
Eine Woche vor Halloween hatten sie und Mike – mal wieder – einen größeren Streit. Er hatte ihr endlich nahegelegt, zum Arzt zu gehen und sich Antidepressiva oder etwas Ähnliches verschreiben zu lassen. Irgendetwas, aber so ging es nicht weiter. Sie war wütend geworden und hatte geschrien, dass ihm das so passen würde, dass sowieso alles seine Schuld sei, warum sie es ihm so leicht machen solle. Danach wechselten sie tagelang kaum ein Wort miteinander. Mike sah schon seit Wochen völlig erschöpft aus, aber ich hatte geglaubt, dass er übertrieb und nur Mitleid erregen wollte. Jetzt vermutete ich eher das Gegenteil.
Ich hatte schon einmal miterlebt, wie ihn Cora für eine kleinere Verfehlung bestrafte – er hatte es damals versäumt, lange versprochene Konzertkarten zu bestellen. Fasziniert hatte ich ihr dabei zugesehen und war, ich gebe es zu, beeindruckt gewesen von der Präzision ihrer Folter. Eine Woche lang hatte sie durch kühlen Liebesentzug an seinen Nerven gesägt, während er seinen Fehltritt mit heraushängender Zunge wiedergutzumachen versuchte, sie mit den Augen um Vergebung anflehte, sie mit Süßigkeiten und Schokolade überhäufte, bis sie ihm peu à peu erlaubte, sie zu erweichen und ihre Gunst zurückzugewinnen – ein beinahe mittelalterliches Ritual, höfisch und auch ein wenig traurig.
Aber das hier war schlimmer. Weniger künstlich, weniger vorhersehbar. Ich verstand, warum Mike nicht mehr weiterwusste. Er kannte sich aus, was stumme Abbitte und Wiedergutmachung anging, aber auf das hier war er nicht vorbereitet.
Cora strapazierte meinen allerletzten Nerv. Ich wollte nicht, dass sie so unglücklich war, schließlich war sie immer noch meine beste Freundin. Also beschloss ich, an Halloween mit ihr um die Häuser zu ziehen, um sie ein wenig aufzuheitern. Ich nahm mir vor, mich ganz besonders anzustrengen, ihr eine gute Freundin zu sein, und fühlte mich sehr tugendhaft dabei.
Das Problem war nur, dass der Currymann wieder angefangen hatte, mir vor dem Zeitungsgebäude aufzulauern. Die Angst, er könnte noch mehr Geld verlangen, beherrschte meine Gedanken, und so beging ich, müde und besorgt, einen dummen Fehler. In einem unüberlegten Versuch, Coras Vertrauen zurückzugewinnen, erzählte ich ihr von der Erpressung.
Ich war natürlich vorsichtig und sagte nur, ein Mann behaupte, gesehen zu haben, wie Jenny mit einer Gruppe von Leuten den Club verließ. Er habe uns alle miteinander sprechen sehen, als er sich im Eingangsbereich aufgewärmt habe, und drohe nun, damit zur Polizei zu gehen. Die Geschichte enthielt einen Funken Wahrheit, gerade genug – so hoffte ich –, um Cora auf meine Seite zu ziehen.
»Was ist daran so schlimm? Du hättest es doch einfach abstreiten können«, sagte sie verwundert.
»Ja, aber die Polizei hätte trotzdem mit uns allen sprechen müssen und dadurch vielleicht herausgefunden, dass sowohl Mike wie auch Jenny in der PR-Branche gearbeitet haben. Es hätte vielleicht seltsam gewirkt, dass wir nicht vorher schon zur Polizei gegangen sind – schließlich haben wir sie doch an dem besagten Abend gesehen.«
»Aber beim letzten Mal hast du gesagt, dass es nicht wichtig genug schien, um zur Polizei zu gehen, weil wir ja eigentlich gar nichts zu erzählen hatten.«
»Ja, aber es geht weniger darum, wie es damals wirklich war, als darum, wie es heute vielleicht aussieht.«
»Aber wir beide waren doch die ganze Zeit zusammen, und Gabe würde Mike doch sicher ein Alibi geben, oder? Er war doch die ganze Nacht auf seiner Party?«
»Schon, aber Gabe ist leider zu verpeilt, um sich zu erinnern, wer alles da war. Außerdem wäre dann immer noch die Zeit zwischen Mikes Verlassen des Clubs und seiner Ankunft bei Gabe offen. Die Polizei könnte der Meinung sein, dass dieses Zeitfenster groß genug und daher verdächtig ist.«
»Ja, das könnte sie wohl. Weil es tatsächlich verdächtig ist«, sagte Cora mit abwesendem Blick.
»Ich wollte es dir sagen, weil ich keine Geheimnisse mehr vor dir haben möchte«, erklärte ich. »Du scheinst irgendwie immer zu glauben, dass ich dir nicht alles anvertraue, deshalb tue ich es hiermit. Ich wollte Mike und dich aus der ganzen Sache raushalten.«
Das entsprach sogar halbwegs der Wahrheit. Ich glaubte, dass sich Cora besser fühlen würde, wenn ich sie davon überzeugte, dass ich sie gern hatte und ihr vertraute, und wenn sie wieder das Gefühl hatte, ganz Teil unserer Runde zu sein, ein wesentlicher Bestandteil statt ausgeschlossen. Na gut, vielleicht wollte ich insgeheim auch mir selbst ein besseres Gefühl geben, weil ich ihr in letzter Zeit eine so schlechte Freundin gewesen war.
Nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatte, fragte Cora: »Habt ihr ihm Geld gegeben?«
»Nur fünfzig Pfund, damit er Ruhe gibt. Schien einfacher, als die Polizei einzuschalten.«
»Was, wenn er es weitererzählt?«
»Dann steht unser Wort gegen seins. Aber wir wollten ihn nicht wegen der paar Mäuse vor den Kopf stoßen.«
»Findest du nicht, dass es jetzt erst recht so aussieht, als hättet ihr etwas zu verbergen?« Da hatte sie nicht ganz unrecht. Jetzt, wo sie es sagte, fand auch ich, dass es so aussah, ja, es wirkte sogar eindeutig belastend. Aber wir schweiften vom Thema ab.
»Keine Sorge, Cora«, besänftigte ich sie, »ich kümmere mich darum. Ich sorge dafür, dass wir alle heil aus der Sache herauskommen.«