Der August und alles, was danach kam

Wer hätte damals gedacht, dass Cora und ich uns erst zwei Jahre zuvor zum ersten Mal begegnet waren, dass es erst zwei Jahre her war, dass dieser vertraute kleine Freundeskreis zusammengefunden hatte, optimistisch und scheinbar unzertrennlich, als wäre es nie anders gewesen. Dabei schien jener erste Tag an der Uni von Cardiff eine Ewigkeit her zu sein, der Tag, als ich ins Wohnheim Senghenydd Court zog, das auf einem schmalen Streifen Land zwischen nördlicher und südlicher Bahntrasse eingezwängt ist. Ich war natürlich für Englische Literatur eingeschrieben, das Auffangbecken für Leute, die noch keine Ahnung haben, wer sie sind oder wer sie gerne sein würden, aber genau zu wissen glauben, dass sie alle Zeit der Welt haben, um darüber nachzudenken.

Der erste Tag war nicht leicht, auch wenn ich ihn voller Erwartung und Nervosität herbeigesehnt hatte. Ich war fürchterlich versessen darauf, jeden zu mögen, dem ich begegnete, und schämte mich für meine Mutter, die übertrieben penibel meine Sachen auspackte, und meinen Vater, der krampfhaft bemüht war, witzig zu sein. Ich war mir ihrer provinziellen Kleidung, ihres Akzents und ihrer umgangssprachlichen Ausdrucksweise, die sie eindeutig als Bewohner der walisischen Täler auswiesen, nur allzu bewusst, und ich schämte mich, dass ich mich für sie schämte in der großen, geschäftigen Stadt.

Anfangs wagte ich kaum, mit Cora zu sprechen. Sie wirkte sehr selbstbewusst und – nun ja – englisch, und dazu auch irgendwie altmodisch in Latzhose und T-Shirt. Aber über Smalltalk mit ihr hätte ich mir keine Sorgen machen müssen. Nachdem wir uns, ächzend und beladen mit schweren Umzugskisten, in die Wohnung geschleppt und dabei Tüten mit Schuhen und Küchenutensilien vor uns hergekickt hatten, sagte Cora einfach: »Hi, ich bin Cordelia, aber meine Freunde nennen mich Cora. Ich bin aus Chester. Das hier ist mein Farn Frankie. Den habe ich, seit ich sechs bin. Ist der nicht herrlich groß? Ich hätte unmöglich ohne ihn von zu Hause weggehen können, aber ich glaube, es wird ihm hier gefallen. Hast du Lust auf eine Tasse Tee? Ich habe einen riesigen Kuchen. Meine Mutter hat ihn gebacken. Sie findet, dass ein Kuchen vorzüglich dazu geeignet ist, das Eis zu brechen, und ich tendiere dazu, ihr recht zu geben.«

Ja, ich weiß: Sie klang oft ein bisschen so, als wäre sie den Seiten eines Internatsschmökers von Enid Blyton entsprungen oder einem Abenteuer der Fünf Freunde. Deshalb mochte ich sie auf Anhieb. Zwei Minuten später braute sie mit ihrer nagelneuen Cafetière, frisch aus dem Zellophanpapier gewickelt, statt Tee Kaffee für alle, schnitt große Stücke von einer klebrigen Schokoladentorte ab, hielt Hof und warb um Freundschaften. Damit war ihr Schicksal besiegelt.

Nach diesem ersten Nachmittag fehlten uns im Umgang miteinander nie wieder die Worte. Schnell, wenngleich zunächst oberflächlich, lernten wir unsere Vorlieben und Abneigungen kennen und erzählten uns gegenseitig in vorsichtigen Portionen von zu Hause und unserer Vergangenheit. Weil wir dabei keine einzige Übereinstimmung entdeckten, hätten wir eigentlich nichts gemeinsam haben dürfen, aber wir waren schließlich unbeschriebene Blätter, und nichts, von dem wir befürchtet hatten, es könnte der anderen etwas ausmachen, war von Bedeutung. Welche Erleichterung. Meine Hoffnungen und Gebete waren erhört worden.

Statt uns nur gegenseitig unsere alten, abgenutzten Geschichten zu erzählen, schrieben wir vom ersten Tag an neue. Das fing am Küchentisch und mit der riesigen Torte an und erstreckte sich schließlich über die ganze Stadt, die wir uns Stück für Stück eroberten, eine urbane Torte aus Beton und Granit und Marmor und Dachziegeln. So schufen wir Tag für Tag, Stunde für Stunde neue Erinnerungen. Und falls wir nicht ganz das waren, was wir zu sein vorgaben – wer hätte es bestreiten können, und wen hätte es gekümmert?

Mike, seit fast einem glückseligen Jahr ihr Freund, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Teil der Geschichte. Er studierte ebenfalls Englisch, in Swansea, weil er in ihrer Nähe sein wollte, wie sie stolz erzählte, sozusagen als Zeichen seiner Hingabe, nachdem er die Zugangsvoraussetzungen für Cardiff um eine Note verfehlt hatte. Im ersten Semester verschwand sie jedes Wochenende mit dem Überlandbus und besuchte ihn, weil er viele Sportveranstaltungen hatte und es so am einfachsten war. Wann immer es möglich war, bestanden Coras Wochenenden aus Mike.

Ich hörte mir an, wie sie endlos und liebevoll von ihm schwärmte: Michael dies und Michael das, Michael hier und Michael da. Wie aufrichtig verliebt und erwachsen sie schienen. Er schickte ihr seinerseits fast jeden Tag eine Postkarte oder einen Brief. Während an meiner vom Wohnheim gestellten Pinnwand nur ein paar einsame Flyer und hin und wieder ein Foto hingen, war die Pinnwand in ihrem schuhschachtelgroßen Zimmer übersäht mit bunten Beweisen seiner unleugbaren Zuneigung. Manchmal zitierte er bekannte Schriftsteller, manchmal hatte er sogar selbst etwas gedichtet. Cora kam das alles offenbar völlig normal und angemessen vor.

Jeden Abend um acht klingelte unter uns im gekachelten Wohnheimflur, der ständig von trampelnden Schritten und dem Zuschlagen der Brandschutztür widerhallte, das Telefon, und in acht von zehn Fällen war es Mike.

Päckchen tauchten in den kleinen Postfächern im Eingangsbereich auf, kleine aufmerksame Geschenke und Musikkassetten, die er selbst zusammengestellt hatte. Ich hatte keinen Freund und war beeindruckt und gerührt, fühlte mich aber auch ein wenig einsam deswegen, was ich aber meist schnell wieder vergaß.

Cora hatte nur zwei Fotos von Mike in ihrem Zimmer. In einem Silberrahmen waren die beiden im Profil verewigt, wie sie sich leidenschaftlich küssten – er mit einer mehr als schlecht beratenen Frisur, wuschelig, teeniehaft, Happy-Mondays-mäßig. Das zweite Foto war an die aus allen Nähten platzende Pinnwand geheftet und zeigte die beiden Arm in Arm an einem grünen Ort. Auf diesem Bild war sein Haar wellig und wurde vom Wind halb in sein Gesicht geweht. Für eine gewisse Übergangszeit existierte er für mich nur in der bruchstückhaften Welt unscharfer Fotos, ein schemenhaftes, geisterähnliches Geschöpf am äußersten Rand meiner Vorstellungskraft, dessen Gesicht nur halb zu sehen war und das nur ab und zu meine Neugierde weckte.

Für mich zählte nur, dass mir Cora unter der Woche zur Verfügung stand und gelegentlich an Samstagabenden, wenn Mike mit Freunden um die Häuser zog und die Jungs unter sich bleiben wollten. Dann zogen wir uns endlose Kitschfilme in dem Kino mit den kratzigen Sitzen auf der Queen Street rein, das eindeutig noch aus der Ära stammte, als es noch keine Multiplex-Paläste mit gepolsterten Liegesitzen und amerikanischer Eiskrem gab. Oder wir belegten ein Eckchen auf der Tanzfläche der Studentenwerkdisco und lagen sonntagnachmittags umringt von Kaffee- und Teetassen und Schokoladenkeksen zusammen auf dem Bett und spielten uns gegenseitig unsere Lieblings-CDs vor.

Cora war intelligent, amüsant und gut erzogen, eine echte Erleichterung nach den Mädchen, die ich aus der Schule kannte, ein Jahr und gefühlte Millionen Kilometer entfernt. Mädchen, deren Pudeldauerwellen von furchterregend steifen Ponyfransen gekrönt wurden, die auf der Mädchentoilette Haarspray, blauen Eyeliner und Zigaretten austauschten, die mit Goldschmuck behängt waren und ständig ohrenbetäubend schrille Drohungen und Obszönitäten von sich gaben. Cora war die beste Freundin, die ich mir hätte erträumen können. Und ich wollte sie nicht teilen, nicht mal mit ihrem Freund.

Dann geschah an einem Wochenende während des Sommersemesters das Unvermeidliche. Cora kündigte an, dass Mike endlich nach Cardiff kommen würde. Sie sagte es zwar nicht, aber ich kannte den Grund: Mein Freund, mit dem ich die letzten sechs Wochen zusammen gewesen war, hatte mich abserviert, und Cora wollte nicht, dass ich das ganze Wochenende trotz Sonnenschein im Einkaufszentrum herumhing, mir Sachen anschaute, die ich mir nicht leisten konnte, und meinen Frust alleine im Wein ertränkte.

An diesem ganz besonderen Samstag, an dem Mike ankommen sollte, ächzte Cardiff unter einem weiteren hitzeschweren, erstickenden Nachmittag – in diesem Sommer die Norm. Von den weißen Mauern des eleganten Rathauses von Cathays Park, den viktorianischen Reihenhäusern, deren Fenster die darin residierenden Studenten mit Batiktüchern verhängt hatten, und dem zweckmäßigen Ziegelbau des Studentenwerks schien die Hitze doppelt stark auf uns zurückzuprallen, während unablässig die Rathausglocke läutete und monoton Züge vorbeiratterten.

Zur Hauptverkehrszeit reicherte sich die Luft mit den unausweichlichen Abgasen erschöpfter Autos und Busse an, die sich Zentimeter für Zentimeter Richtung Stadtmitte schoben, Abgase, die sich auf der Zunge absetzten und einem das Wasser in die Augen trieben. Cora und ich hatten den Vormittag mit der schweißtreibenden Aufgabe verbracht, die Wohnung für Mike in einen vorzeigbaren Zustand zu versetzen. Die Einkäufe hatten wir noch vor uns. Unsere Pilgerreise zum Supermarkt durch die schäbigen Seitenstraßen, vorbei an fetten, trägen, von der Sonne ermatteten Katzen und dampfenden Mülleimern, war gar nicht so schlimm. Jedenfalls nicht so schlimm wie der normale Weg entlang der stark befahrenen, ansteigenden Hauptstraße, wo sich ein Imbiss an den nächsten reihte – Pommesbuden, Inder, Chinesen –, neben einem Laden mit verdunkelten Fenstern und Klingelknopf, der vorgab, ein Sonnenstudio zu sein, und einigen merkwürdig platzierten Antiquitätengeschäften. Vielmehr waren es Ramschläden voller Entrümpelungsfunde, die mal jemandem etwas bedeutet hatten, nun aber nur noch fünfzig Pence kosteten. Altmodische Perlenketten, strassbesetzte Hutnadeln und Taschenbücher mit welligem Deckel und welligen Seiten buhlten in den staubigen Schaufenstern um Aufmerksamkeit, während wacklige Holzschränkchen und Klassenzimmerstühle bunt zusammengewürfelt den Gehweg flankierten. Überquerte man die Bahnschienen, gelangte man direkt zum The George, unserem Lieblingspub.

Der winzige, aber funkelnagelneue Tesco Metro an der Ecke war stets gerammelt voll mit Studenten. Hier deckten Cora und ich uns einmal die Woche mit den wenigen Luxusgütern ein, die wir uns leisten konnten – richtiges Fleisch, richtigen Fisch, Bohnen zu sieben Pence und Weißbrot im Sonderangebot, riesige Gläser Marmite, Familienpackungen Penne, Teebeutel von Tetley, delphinfreundlich gefangenen Thunfisch, Weißweinessig für Cora, Mousse au Chocolat im Viererpack und Fertignudelgerichte für mich. Außerdem bestand Cora jedes Mal darauf, dass auch noch ein bisschen Obst und Gemüse in meinem Einkaufskorb landete – wegen der Vitamine. Ich glaube, sie hatte wirklich Angst, dass ich mir selbst überlassen an Skorbut sterben würde.

Zur Feier des Tages und zu Ehren des sich sonst so rar machenden Michaels hatte Cora ein Picknick geplant. Bald würden der echte Mike und der Mike aus meiner Vorstellung auf Kollisionskurs gehen. Wir kauften also Lebensmittel und besondere Leckerbissen, »weil Mike das so gerne mag«. Cora hatte bereits einen riesigen Nudelsalat vorbereitet, aber wir brauchten noch selten erworbene Köstlichkeiten wie Weißweinessig für das Dressing, Sahne und glänzende schwarze Oliven mit Kern, natürlich ein Rezept von Coras Mutter.

Für mich als Mädchen aus den Tiefen der walisischen Täler waren solche Dinge entsprechend exotisch und fast dekadent – bereits die Vorstellung von heißen Bohnen auf Toast empfand ich als etwas, das man ehrerbietig und mit grenzenloser Achtsamkeit behandeln musste.

Aber ich fand das Ganze auch irgendwie albern. Wer machte sich schon solche Mühe für einen Mann? Und das bei dieser Hitze? Aber Cora war die Beziehungsexpertin, also beugte ich mich ihrem weisen Ratschluss.

Cora war braun gebrannt und sah ungewöhnlich strahlend aus mit ihren gebräunten Beinen, die unter einem zu engen T-Shirt mit Minnie-Maus-Druck aus ihren Hotpants ragten. Sogar einen Hauch Lippenstift hatte sie aufgelegt. Sie hatte sich Mühe gegeben. Sie machte etwas aus sich. Das waren typische Cora-Ausdrücke, die ich zu schätzen begonnen hatte, weil sie mich an meine Großmutter erinnerten. Und ich hatte meine Großmutter sehr geliebt.

Ich hingegen versuchte, in meinem langen schwarzen Strandkleid und meinen weißen Tennisschuhen möglichst kultiviert, luftig und einfarbig auszusehen. Dazu hatte ich die Haare zu einem hohen, straffen Pferdeschwanz gebunden und mich dick mit Sonnenmilch eingecremt, um den vertrauten Sonnenbrand fernzuhalten.

Mit Tüten beladen quälten wir uns durch den lärmenden, sonnengebleichten Samstagnachmittag zurück zum Wohnheim. Als wir in unsere Straße einbogen und die letzten Meter zum Haus entlangkeuchten, lehnte Mike bereits am Eingangstor. Er schien sich unwohl zu fühlen, das braune Haar hing ihm wellig in die Augen. Endlich fleischgeworden. Ich erkannte ihn trotz der schlechten Qualität der Fotos. Wer hätte es auch sonst sein sollen?

Dennoch entsprach er überhaupt nicht meiner Vorstellung. Wie auch? Wie hätte er der umwerfende, strahlende, gottähnliche Mann sein können, den Cora derart begehrte? Der Mann, mit dem sie in der Nacht ihres achtzehnten Geburtstags in dem riesigen Himmelbett eines Bed & Breakfast zum ersten Mal Sex gehabt hatte.

Statt des erwarteten modischen Designerfummels trug Mike etwas, das sich bald als seine vertraute »Uniform« herausstellen sollte – ein zu großes T-Shirt in ausgewaschenem Dunkelblau und weite Surfershorts, aus denen seine langen, blassen Beine durchschimmernd weiß herausragten, um in einem Paar Turnschuhen wieder zu verschwinden, die so abgewetzt und verschossen waren, dass sie nur noch die doppelt geknoteten Schnürsenkel zusammenzuhalten schienen.

Er wirkte sogar noch größer, als Cora in ihren Erzählungen angedeutet hatte, und blinzelte in die Sonne, während er eine Hand zum Gruß hob, so dass ich das tiefe Blau seiner Augen nicht sehen konnte, ein kleines gestohlenes Stück Himmel aus einem weit entfernten Land.

Auf den ersten Blick war ich erleichtert. Schließlich war Cora verglichen mit mir nicht einmal besonders hübsch, es war also nur logisch, dass jemand wie er die Liebe ihres Lebens war. Ein Durchschnittsmann. Ich entspannte mich und lächelte, als er über die Straße geflitzt kam, uns eifrig die Einkaufstüten aus der Hand riss und dann unter ihrer Last in die Knie ging. Meine Proteste, ich käme durchaus alleine zurecht, wies er zurück. Ein Gentleman.

»Ach, kein Problem, Michael schafft das schon«, beschwichtigte Cora strahlend, während er fröhlich seinen eigenen schweren Rucksack und eine Handvoll Einkaufstüten balancierte.

»Du musst Lizzy sein«, sagte er auf der Treppe und grinste breit. »Ich habe es gründlich satt, jedes Wochenende von dir zu hören, und du hast es bestimmt noch viel satter, von mir zu hören.«

»Jetzt sei mal nicht unhöflich«, wies Cora ihn barsch zurecht und fügte dann, als er die schwerste Tüte durch die Wohnungstür wuchtete, hinzu: »Und pass mit den Oliven auf. Nachher haben wir hier überall Öl, und ich will nicht riskieren, meine Kaution nicht zurückzubekommen.« Sie zog einen Schmollmund.

Aber im nächsten Moment hatte er die Arme um sie geschlungen und ihr einen dicken, bewusst schlabberigen Kuss auf den Mund gedrückt. Vor dem wich sie gespielt angeekelt zurück, konnte aber ihr Lächeln nicht verbergen. Das war das erste Mal, dass ich Zeuge des Schmoll- und Beschwichtigungstanzes wurde, den die beiden regelmäßig aufführten und den ich bald als ganz selbstverständlich ansehen würde.

Mike setzte sich an den Küchentisch und begann, die Tüten auszupacken.

»Eine Tasse Tee vielleicht?«, fragte ich.

»Oh ja, bitte!«, antwortete Mike freudig. »Eine schöne Tasse Tee ist jetzt genau das Richtige. Ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack.«

»Da haben wir’s«, seufzte Cora, zerrte geschäftig die Lebensmittel aus den Tüten und verstaute Salate und andere Leckereien in ihrem ausgefransten karierten Rucksack. »Schwatz ihm einen Tee auf, und er liegt dir zu Füßen. Draußen sind es hundert Grad, aber für Tee ist es anscheinend nie zu heiß. Er ist genauso schlimm wie du, Lizzy.«

So begann es, unser bald schon althergebrachtes Zeremoniell auf dem Altar des Teebeutels. Wann immer Mike zu Besuch kam, und das war von nun an fast jedes Wochenende, bestand mein Part darin, nach seinem Eintreten so schnell wie möglich zu fragen: »Eine Tasse Tee vielleicht?«, oder die Frage am besten schon die Treppe hinunterzurufen, wenn er das Haus betrat. Cora trank keinen Tee und mochte auch Kaffee nur, wenn sie ihn mit ihrer Cafetière zubereitet hatte. Diesen liebenswerten Spleen gestand ich ihr zu, weil sie Engländerin war und gerne vornehm tat.

Nach seiner Tasse Tee, die Mike lauthals als wunderbar gepriesen hatte, schickte ihn Cora mit einer Handvoll Kleingeld über die Straße, um uns Wassereis zu kaufen.

»Wie findest du ihn?«, fragte sie, halb stolz, halb nervös, sobald er aus der Tür war. »Ist er nicht genauso sexy, wie ich gesagt habe?«

Ich antwortete das Einzige, was in Frage kam: »Er ist ein echter Schatz, Cora.«

»Nein, jetzt mal ehrlich, findest du nicht, dass er unglaubliche Augen hat?« Sie waren mir nicht aufgefallen, aber ich bejahte und dachte insgeheim, die spinnt doch. Aber ihre Begeisterung rührte mich. Wie leicht sie zufriedenzustellen war. Ich freute mich für sie. Für beide. Wie süß. »Ich bin froh, dass er endlich mal hier ist. Ich dachte schon, ihr zwei würdet euch nie kennenlernen.«

Kurz darauf watschelte Mike wieder über die Türschwelle, in der Hand drei tropfende Orange Maids. Er stolperte prompt über meine im Weg stehenden Turnschuhe, versuchte die Balance wiederzuerlangen und ließ ein Eis auf den schmuddeligen Teppich fallen, wo es in zwei Stücke zerfiel und der Saft aus der Verpackung sickerte.

Er sah so erschrocken aus, dass ich in Gelächter ausbrach, in das er kurz darauf einstimmte. Aber Cora war ganz und gar nicht begeistert. Ihr Gesichtsausdruck verriet deutlich, dass sie seine »lächerlichen Mätzchen« kein bisschen komisch fand. So nannte sie seine oft unerklärliche Tollpatschigkeit: Michaels Mätzchen. Er hatte tatsächlich die Angewohnheit, einen Raum wie eine schlaksige Naturgewalt zu betreten, unausgewogen und eine zerstörerische Energie entwickelnd, die sich gleichermaßen auf an Haken hängende Mäntel, Becher mit heißer Flüssigkeit, Gläser mit Kugelschreibern und Bleistiften und eigentümlicherweise auch auf seine eigenen Füße auswirkte.

Cora packte rasch die restlichen Picknickutensilien ein, fest entschlossen, den Park zu erreichen, bevor das Essen warm und schwitzig wurde und das ganze Vorhaben gründlich in die Hose ging. Ihr Plan sah natürlich vor, dass alles perfekt war, und diesen Plan würde sie durchziehen.

»Hast du auch Marmeladenbrote eingepackt?«, zog Mike sie auf. »Büchsenfleisch? Schweinepasteten? Jetzt müssen wir uns nur noch einen Hund ausleihen und einem Straßenräuber das Handwerk legen, dann haben wir unsere eigene Fünf-Freunde-Episode. Fünf Freunde mampfen im Park! Oder ein etwas eloquenterer Titel, sobald mir einer einfällt.« Sie knuffte ihn in die Rippen.

Während wir im kühlen Schatten der Bäume unser Picknick genossen und Salat und Sandwiches nach und nach von den Tellern verschwanden, ging Coras Plan auf: Jeder Gedanke an meinen Mistkerl von Exfreund war vergessen.

Ich war ja ohnehin nicht sehr lange mit ihm zusammen gewesen – war es Jonathan aus Frühgeschichte Teil I oder Sebastian aus Europäischer Politik? Er war auf jeden Fall nett und sehr bewandert in frühgeschichtlichen Themen, aber auch sterbenslangweilig. Über Cora hatte er die Nase gerümpft, weil sie anstrengend sei, wie er sagte, und ohne Punkt und Komma redete.

Cora war um meinetwillen entrüstet, weil er mich zurückgewiesen hatte, und schäumte, dass ich ihn schon vor Wochen hätte »abschießen« sollen. Der Ausdruck klang seltsam aus ihrem Mund, mit ihrer weichen, sonoren Stimme und ihrer ganz eigenen Art der Aussprache, die ich damals ständig zu kopieren versuchte.

In der schwächer werdenden Nachmittagssonne saßen wir abgeschirmt im alten Senkgarten von Bute Park und aßen und lachten, während Mike immer wieder aufsprang und »wie schön ist es im Park!« grölte oder auf dem federnden Rasen unelegante Räder und beängstigend schwankende Rückwärtssalti hinlegte.

»Dir wird noch schlecht, wenn du so weitermachst«, warnte Cora.

Ich glaube, es wäre ihr sogar ganz recht gewesen, wenn ihm wirklich schlecht geworden wäre. Dann hätte sie sagen können: »Das hast du nun davon, ich habe dich gewarnt«, um anschließend eine kühle Flasche Orangensaft an seinen Kopf zu halten und ihm das Bäuchlein zu reiben. Und er hätte sie gewähren lassen.

Als es Zeit war, in die Wohnung zurückzukehren, ging ich davon aus, dass sie miteinander schlafen und hinterher in den Pub gehen wollten. Also entschuldigte ich mich und zog mich in mein Zimmer zurück, um fernzusehen, und dabei ging mir die ganze Zeit im Kopf herum, dass man mit Mike ja durchaus Spaß haben konnte, Cora aber trotzdem ein bisschen bescheuert sein musste, um so besessen von ihm zu sein. Er war ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Einfach ein netter Kerl, nicht mehr. Abgesehen von dem kurzen Moment, als er über einen meiner Witze gelacht hatte und ich mir einbildete, dass sein Lächeln einen Augenblick lang heller war als der Schein der Abendsonne.

Danach verbrachte er beinahe jedes Wochenende bei uns.

Als im Herbst das neue Semester begann und Cora und ich in ein enges kleines Häuschen in der Fanny Street zogen, brachte Mike irgendwann Stevie mit, damit er das Nachtleben von Cardiff kennenlernte. Er vervollständigte unser Grüppchen.

Ich mochte Stevie auf Anhieb. Er war unkompliziert, ging aber manchmal etwas unter in dem Affenzirkus, den Mike veranstaltete. Ständig schien er ein Liedchen zu trällern oder legte ein Tänzchen aufs Parkett oder brach urplötzlich in Gelächter aus und bekam dabei so tiefe Lachfalten, dass man hätte meinen können, die Wucht seines eigenen Witzes habe ihn vollkommen überrumpelt.

In Charlie’s Nightclub, einem schäbigen, schweißtreibenden Laden, der schnell zu unserem Lieblingsclub avanciert war, unterhielt ich mich mit Stevie, und je länger wir plauderten, desto mehr wurde mir bewusst, was für ein netter Kerl er doch war, ein echter Gentleman, einer, dem man vertrauen konnte. Es stellte sich heraus, dass unsere Eltern nur zwanzig Minuten Autofahrt über die Hügel voneinander entfernt lebten, nur dass er aus einer reicheren Gegend stammte, wo man Tennis oder sogar Golf spielte. Der ernsthafte, höfliche, gutmütige Stevie.

Er forderte mich zum Tanzen auf, legte seine Hände aber nirgendwo hin, wo ich sie nicht gewollt hätte. Am Ende des Abends half er mir in die Jeansjacke und hielt meinen Regenschirm. So grölten und torkelten wir vier durch die Straßen, bis wir uns endlich nach Hause geschleppt hatten, wo Cora und ich sofort instinktiv die Küche aufsuchten, um stapelweise Toast zu machen.

Als wir danach am Abtropfbrett lehnten und ich schon langsam schläfrig wurde, knuffte mich Cora in die Rippen und fragte: »Sag schon, was hältst du von Stevie?«

In meinem Wodkanebel lallte ich so etwas wie: »Also, Spaß haben kann man mit dem auf jeden Fall.«

»Und?«, bohrte Cora weiter, die ihre Ungeduld kaum verbergen konnte. »Was noch?«

»Er ist sehr höflich?«, bot ich an. Ich war nicht in der Stimmung, mich von ihr ausfragen zu lassen, und stocherte mit dem Messer im Toaster herum, damit das schwarz werdende Brot herauskam, obwohl mich Cora ständig ermahnte, das nicht zu tun.

»Jetzt komm schon, Lizzy!«, rief sie mit gespielter Verzweiflung und lachte. »Hat er dich gefragt, ob du mit ihm ausgehen willst? Das war nämlich unsere Vermutung. Als Michael und ich uns verzogen haben, dachte ich, jetzt fragt er dich.«

Sie grinste, und mir fiel wieder einmal auf, dass sie Mike grundsätzlich Michael nannte. Die ganze Sache war also eine von Coras Verschwörungen. Armer Stevie: Man hatte ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hergelockt und ihm eine neue Freundin versprochen.

Sie seufzte. »Na ja, Michael fand die Idee nicht so gut. Er meinte, wir könnten nicht einfach so Leute zusammenstecken, weil das peinlich wäre und so. Aber ihr seid beide unsere Freunde, und du bist so hübsch, und Stevie ist Single, und weil er so nett ist, dachte ich, ihr würdet gut zusammenpassen. Dann wären wir ein echtes Quartett. Na ja«, druckste sie und drehte sich auf einem Fuß hin und her wie ein kleines Mädchen, während sie Erdnussbutter von einem Messer leckte, »vielleicht änderst du deine Meinung ja noch. Wie lange hast du schon nicht mehr, du weißt schon …?«

Sie wusste genau, dass ich ihr darauf eine pampige Antwort geben würde, und kam mir deshalb mit einer Handbewegung und einem dreckigen kleinen Lachen zuvor: »Schon gut. Ich will doch nur, dass alle so glücklich sind wie ich und Michael. Das kannst du mir nicht zum Vorwurf machen. Noch einen Wodka?« Sie sagte die Wahrheit. Sie wollte wirklich immer, dass alle anderen glücklich waren.

Wir gingen also zurück zu den Jungs und gaben uns schnell dem stetig aus der Stereoanlage fließenden Trost hin, verloren uns in Alkohol, Gelächter, Geschichten und Versprechungen, bis uns der Schlaf übermannte. Da waren wir, in unserer endgültigen, fertigen Form: Freunde.

Es folgten unzählige Nächte wie diese, sie schienen sich ein ganzes Leben lang hinzuziehen. Wir waren erfüllt voneinander, erfüllt von Sinneseindrücken – schrieben wir doch zum ersten Mal unsere eigene Geschichte und erfanden uns in ihrem Verlauf selbst, definierten uns, schrieben uns um und entwarfen uns neu, in den eigenen Augen und denen der anderen.

Wir waren davon überzeugt, dass wir immer so frei sein würden und dass uns niemand auf etwas festnageln konnte, stets auf dem Sprung wie Scheinwerfer auf der Tanzfläche oder Sonnenlicht in den Baumkronen. So hüpften wir übers kaputte Kopfsteinpflaster des Bürgersteigs, immer unterwegs, beladen mit Büchern und Zynismus, ein Kaffee auf dem Weg irgendwohin, ein paar Drinks auf dem Weg überallhin, schillernd vor lauter Jugend. Wir strahlten Selbstvertrauen und Optimismus aus, und wir warteten.

Wenn wir nachts schlaftrunken aufwachten und unseren Nachbarn lauschten, die um drei Uhr morgens nach Hause kamen, ihre Schuhe wegkickten und die Stereoanlage aufdrehten, dann lullten uns die Bässe sofort wieder in den Schlaf, und auch das war unserer Jugend zuzuschreiben. Schließlich machten wir uns selbst oft genug mit lautem Gelächter, plätschernden Geräuschen oder zu Bruch gehenden Gläsern bemerkbar.

Im Licht der Straßenlaternen, das durch die Ritzen im Vorhang hereinschlüpfte, lagen wir eingemummelt da und lauschten friedlich. Es gab nicht viel, das uns den Schlaf raubte, nicht weil unser Gewissen rein war, sondern weil wir vor lauter Leben ganz erschöpft waren.

Denn wir arbeiteten hart, verschanzten uns jedes Semester aufs Neue hinter einem Stapel Bücher am Schreib- oder Küchentisch, während draußen die Sonne brannte oder der Regen beruhigend ans Fenster trommelte. Wir brauchten gute Noten. Ein Abschluss kostete und brachte Geld.

Und dabei glaubten wir die ganze Zeit, dass das noch nicht die beste Zeit unseres Lebens gewesen sein konnte. Erst danach würde das Leben beginnen, »das richtige Leben«, wie meine Eltern es ausgedrückt hätten. Das anständige, angemessene Leben. Mit richtiger Kleidung, richtigen Schuhen, richtigem Essen, richtigen Hotels, richtigem Urlaub, all den Dingen, die sie selbst nie gehabt hatten. Dafür machte man ja überhaupt nur eine anständige Ausbildung, sagten sie immer.

So waren wir damals: ich, Stevie, Mike und Cora, niemand sonst. So fing alles an. Aber auch nach der Uni ging das Leben weiter, und davon werde ich nun erzählen.