Stevie
Geheimnisse und Stevie vertragen sich einfach nicht. Er ist einer dieser seltenen Menschen, die aus Prinzip ehrlich sind und Betrug nicht ertragen. Manchmal kann ich es selbst kaum glauben, aber diese Menschen existieren tatsächlich, und Stevie ist einer von ihnen.
Wenn er es mit Intrigen oder Lügen zu tun hat, liegen sie ihm wie ein Stein im Magen und drohen dann, gegen seinen Willen, wieder an die Oberfläche zu kommen. Eigentlich ist er für den Umgang mit Politikern gänzlich ungeeignet. Ich musste mich gar nicht so sehr anstrengen, bis Stevie verriet, dass Jenny in Mikes PR-Agentur in Wrexham gearbeitet hatte. Über ein Jahr lang.
Zwei Tage nach dem denkwürdigen Abendessen schaute ich bei ihm vorbei, um ihm einerseits vorzujammern, was für eine eigenartige Stimmung zwischen Mike und Cora geherrscht hatte und welche Sorgen ich mir um sie machte, und um andererseits subtil nach Informationen zu schnüffeln. Nach dem Gespräch, das ich auf dem Treppenabsatz mit angehört hatte, musste ich unbedingt herausfinden, was er wusste und was es mit der Geschichte auf sich hatte, an der er festhalten sollte, damit Cora sie schluckte.
Stevie bot mir ein improvisiertes Abendessen an, als ich nach meiner Zehn-bis-neunzehn-Uhr-Schicht bei ihm hereinschneite. Er machte Pasta mit Garnelen, Oliven und einer Art Pestosauce mit frisch gehobeltem Parmesan. Sogar Bruschetta, eine Flasche guten Weißwein und ein grün-weiß kariertes Leinentischtuch zauberte er hervor. Darauf versteht er sich, auf die liebevollen Details. Er fand so viel Vergnügen daran, dass ich eine Zeitlang sogar dachte, er sei schwul, bis mir aufging, dass er einfach nur aufmerksam war.
Früher hatte ich immer zu ihm gesagt, dass er eines Tages eine fantastische Ehefrau abgeben werde, und das war durchaus nett gemeint. Dann seufzte er verlegen und sagte: »Ja, bloß wann, Lizzy? Und für wen?« und interessierte sich plötzlich sehr für sein Besteck oder was er sonst gerade in der Hand hielt.
Als ich Stevie an diesem Abend beobachtete, während wir wie so viele Male zuvor sein vorzügliches Essen genossen und seinen guten Wein tranken und dabei lachten und redeten und Geschichten zum Besten gaben, nahm ich all die Dinge wahr, die meine Mutter an ihm bewundert hätte. Das jungenhafte Gesicht, das helle Haar, das so fein war wie das eines Babys, sein Lächeln, das selten war, dafür aber umso bemerkenswerter, die guten Umgangsformen. Das waren alles Dinge, die auch ich bewunderte. Er strahlte eine Galanterie und eine Sanftmut aus, die wie aus der Zeit gefallen wirkten, wie ein edwardianischer Herzog, den man erst in ein zwangloses Outfit aus Jeans und Fan-Trikot von Cardiff City gesteckt hatte und neuerdings in Jeans und Calvin-Klein-T-Shirt.
An ihm hätte auch ein Seidentuch mit Anstecknadel keinesfalls deplatziert gewirkt, und ich konnte ihn mir gut mit einem Gehstock in der einen und einer Ausgabe der Times in der anderen Hand vorstellen. Er las tatsächlich die Times, das Time Magazine und den Spectator. Zu Studentenzeiten war uns das exzentrisch bis extrem erschienen, aber jetzt wirkte es ziemlich beeindruckend. Und wenn ich betrunken oder einsam oder gelangweilt genug war, sah ich manchmal zu ihm hinüber und malte mir aus, wie es wohl wäre, ihn zu küssen, wie er sich anfühlen würde, wie er schmecken würde. Reine Neugier, vermutlich.
Ich liebte seine Wohnung mit den erwachsen wirkenden Möbeln, den teuren Männerspielzeugen und der eleganten, kompakten Stereoanlage. Alles war in glamourösem Schwarz gehalten und hatte einen matten, exklusiven Schimmer. Deshalb kam ich so gerne hierher: weil sich seine Wohnung gänzlich von meiner eigenen unterschied. Die nämlich war beengt, halbfertig, gemietet. Mit dem Finger fuhr ich an seinen Bücherregalen entlang und lächelte nachsichtig über die Titel – Philosophie für Anfänger, Das Superman-Prinzip, Die Russische Revolution, Die Odyssee. Und damit man ihn nicht für vollkommen unerträglich hielt, sämtliche Terry-Pratchett-Romane, die je erschienen waren, sowie eine Ausgabe von Die Männer von Bravo Two Zero.
Hier saß ich also, ließ mir die Pasta schmecken und trank mehr Wein, als mir guttat. Und nachdem auf diese Weise ein wenig Zeit verstrichen war, betonten wir beide, wie schrecklich das Abendessen bei Mike und Cora gewesen sei. Sobald er entspannt genug war, fing ich an, ihn nach Jenny auszufragen.
»Wer war die überhaupt?«, wollte ich wissen und schob mir noch eine Garnele in den Mund. Es war schon das zweite Mal, dass ich diese Frage an diesem Abend stellte. »Ich meine, wer geht denn einfach zu einer Gruppe von Leuten, die er kaum kennt, und fängt an, wie mit alten Freunden zu plaudern? Das ist doch irgendwie seltsam, oder? Meinst du, jemand hat sie auf uns angesetzt?«
»Kann schon sein«, antwortete Stevie und wich schon zum zweiten Mal aus, indem er einen Schluck Wein nahm und nach einer Olive stocherte. Er log.
»Ich habe gehört, was ihr neulich gesagt habt. Über die Geschichte, die ›beibehalten‹ werden muss. Dass ihr aber auch nie die Klappe halten könnt … Also: Was soll Cora nicht wissen?«
Stevie seufzte, als habe er genau diese Situation erwartet und beschlossen zu kapitulieren, solange er es noch aus freien Stücken tun konnte. Ruhig und bedächtig legte er Messer und Gabel beiseite. Man konnte Stevie nicht hinterrücks überfallen, sondern musste ihn mit einer gewissen Behutsamkeit behandeln.
»Können wir die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen, Lizzy? Du weißt doch, dass mich Mike gebeten hat, nichts zu sagen.« Ich schwieg und blickte ihn nur mit einstudiert ausdruckslosem Gesicht an, weder vorwurfsvoll noch zustimmend. Dieser Gesichtsausdruck kommt bei meiner Arbeit regelmäßig zum Einsatz. Er ermuntert die Leute zum Sprechen, weil sie wissen, dass genau das von ihnen erwartet wird. Ihr Bedürfnis, die Kluft zwischen ihnen und mir zu überbrücken, das Schweigen zu beenden, das sich zwischen uns spannt, entspricht der menschlichen Natur. Der Mensch füllt die Leerstellen, die Zwischenräume, die Lücken, füllt sie mit Wörtern, selbst wenn er dabei etwas ausspricht, das eigentlich geheim bleiben sollte.
Nach ungefähr sechs Sekunden seufzte er ein zweites Mal. »Mike kannte sie tatsächlich, aber nur oberflächlich, nichts Ernstes oder so. Er sagt, er hätte sie bei irgendeinem PR-Event in Chester kennengelernt. Sie hat ihm wohl ein paar Aufträge vermittelt, nichts weiter. Ich glaube, sie hat ihn ein- oder zweimal im Büro besucht, weil sie wohl ein Faible für ihn hatte. Anscheinend war sie ein bisschen zu aufdringlich und ließ sich nicht abwimmeln. Schon möglich, dass auch Coras und Mikes Umzug zurück nach Cardiff damit zu tun hatte. Um die Sache gleich im Keim zu ersticken, du weißt schon. Mike hat damals nicht viel darüber erzählt. Dann wurde sie vor kurzem auch hierher versetzt, in eine andere Abteilung. Mike, der Idiot, wollte ihre Gefühle nicht verletzen, indem er sie wie Luft behandelt. Er hat sie zwar nicht direkt eingeladen an diesem Abend, aber er hat ihr erzählt, dass wir im Charlie’s sein würden. Du weißt ja, wie er ist. Ich glaube, sie ist ein bisschen einsam hier. Cora sollte auf keinen Fall wissen, dass er verraten hatte, wo wir hingehen würden, und auch nicht, dass sie schon in Wrexham hinter ihm her gewesen war und jetzt plötzlich hier auftauchte. Sie hätte nur wieder schlechte Laune bekommen und alles Mögliche hineininterpretiert. Na ja, irgendwie verständlich, dass sie nicht erfreut gewesen wäre. Ich selbst habe auch erst von der Sache erfahren, als ihr auf dem Klo wart. Dabei hätte sie mir auch ganz gut gefallen. Wieder mal typisch, oder?«
Er gab einen Laut der Resignation von sich, so als habe er sich mittlerweile an sein Pech gewöhnt, und griff nach dem Besteck, um weiterzuessen.
Jetzt, wo Stevie es ausgesprochen hatte, tauchte plötzlich ein Bild vor meinem inneren Auge auf, eine verdrängte Erinnerung. Zwei Wochen vor der Nacht im Charlie’s hatte ich halb dösend im Costa Coffee in der Nähe des Bahnhofs gesessen, inmitten der fieberhaft vor sich hintippenden Internetnutzer im ersten Stock meinen Mocha mit Sahne umklammert und beobachtet, wie sich die Fußgänger und Autos auf der Kreuzung im Wechsel in Bewegung setzten. Während ich diesen perfekt choreographierten Straßentanz bewunderte, hatte ich jede bleierne Sehne und jeden bleiernen Muskel meines Körpers gezwungen, die Energie aufzubringen, in die Redaktion zurückzukehren und es durch den restlichen Tag zu schaffen.
Als ich mir gerade eine Ausrede für die verspätete Rückkehr aus der Mittagspause zurechtlegte, bog ein schmuddeliger Doppeldeckerbus aus der St. Mary Street ein und hielt auf den Hauptbahnhof zu. Auf dem Oberdeck, Seite an Seite mit einigen Pärchen, die ziemlich vertraut miteinander wirkten und geflissentlich den üblichen kahlköpfigen Kauz im khakifarbenen Kapuzenanorak ignorierten, saß Mike mit einer Frau.
Ich war mir sicher, dass es Mike war, auch wenn ich im Gegenlicht der gegenüberliegenden Busfenster eigentlich nur sein Profil und die Welle sah, die seine Haare im Nacken bildeten. Sein Gesicht war halb von mir abgewandt, aber ich hätte ihn überall erkannt.
Was mich erschreckte, war die Tatsache, dass ihm eine junge Frau gegenübersaß, die sich zum Gang drehte und daher ebenfalls im Profil zu sehen war. Sie trug eine bunt gestreifte Wollmütze, unter der stachelig aussehende Haarsträhnen hervorlugten, und sie beugte sich zu ihm hinüber, als würde sie ihn gut kennen, als wäre er ihr sehr vertraut. Was unterhalb des Fensters lag, konnte ich nicht sehen, aber es erschien mir nur logisch, dass ihre Hand auf seinem Knie ruhte. Vielleicht mehr als nur eine Kollegin?
Er hatte den Arm entlang des Busfensters ausgestreckt und trommelte mit den Fingern lautlos an den Fensterrahmen. Obwohl ich ihren Mund nicht sehen konnte, hatte ich den Eindruck, dass sie redete und er ihr zuhörte. Das Ganze dauerte vielleicht acht Sekunden, dann war die Ampel grün, und während mein Kopf einen Sekundenbruchteil langsamer herumfuhr als meine Gedanken, bog der Bus schon um die Ecke und verschwand hinter mir. Wenn die junge Frau im Bus Jenny gewesen war, wo waren sie dann hingefahren?
Direkt am nächsten Tag hatte ich mich auf der Jagd nach einer guten Geschichte bei einer langweiligen Ärztetagung im Thistle Parc Hotel herumgetrieben, und wenn mich meine Erinnerung nicht im Stich ließ, war Jenny eines der Mädchen gewesen, die dort die Plastiknamensschilder austeilten. Sie hatte ganz anders ausgesehen als die Jenny aus dem Charlie’s, völlig unscheinbar. Wie hundert andere Hochschulabsolventinnen auch. Ich erinnerte mich dunkel an ein schlecht sitzendes, billiges graues Kostüm und einen straff gebundenen Pferdeschwanz, der seriös und städtisch wirken sollte. Konnte das Jenny gewesen sein? (Renquist PR – das konnte hinkommen. Die gehörten zu Jackson’s. Das erklärte auch, warum ich im Charlie’s geglaubt hatte, sie von irgendwoher zu kennen. Mir hatte nur der richtige Kontext gefehlt.)
In der Nacht im Charlie’s hatte Mike sie von Cora fernhalten wollen, damit sie nichts sagte, was Coras Misstrauen erregte. Konnte die Erklärung wirklich so einfach sein? So unschuldig? Der gute alte Stevie, dank ihm fühlte ich mich schon viel besser. Mehr war nicht dran an der Sache. Nur ein dummes, verliebtes Mädchen, das sich in den Vordergrund spielen wollte.
»Aber behalt es für dich«, bat Stevie. »Er will, dass wir bei seiner Version bleiben. Der Version, dass sie sich nur flüchtig kennen.«
Typisch Mike. Es war eben leichter, sich unwissend zu stellen. So hatte er es schon immer gehalten. Deshalb hatte er im Club also wie eine Klette an Jenny geklebt: damit ihr nicht versehentlich herausrutschte, dass sie sich bereits aus Wrexham kannten. Wie hätte er Cora auch erklären sollen, dass er Jenny bisher nicht ein einziges Mal erwähnt hatte? Er hatte ihr also nicht den Hof gemacht, weil er in sie verknallt war – ganz im Gegenteil. Sie musste schnell erkannt haben, wer von uns wer war, und war zu uns herübergekommen, um Unruhe zu stiften oder einfach nur ein wenig mitzumischen. Vielleicht hatte Mike ja ein Foto von Cora und uns im Büro stehen. Das hätte die Begrüßung erklärt. Zuordnung durch Ausschlussverfahren. Bestimmt redete er bei der Arbeit gelegentlich von uns.
Ich fühlte mich wunderbar und war zutiefst erleichtert. Zumindest für ein paar Sekunden. »Dieser Vollidiot«, lachte ich. »Warum hat er sie nicht einfach vorgestellt und Cora erzählt, wer sie ist. Das wäre viel unverdächtiger gewesen, als so an ihren Lippen zu kleben.«
»Ja, kann sein. Keine Ahnung. Nicht, wenn Cora vorher schon Verdacht geschöpft hat. Vielleicht ist diese Jenny ja ein bisschen schwierig.«
Dann fiel mir noch etwas ein: »Aber er war die ganze verdammte Nacht weg, Stevie. Und er war bestimmt nicht alleine.«
»Er war bei Gabe«, antwortete Stevie. »Und überhaupt: Warum interessiert dich das so brennend?«
»Weil Cora meine Freundin ist«, konterte ich rasch.
»Ja, meine auch. Das ist jedenfalls alles, was ich weiß, Sherlock«, schloss er vage. Und er ließ sich nicht weiter drängen.
Etwas in seinem Gesicht sagte mir, dass das noch nicht die ganze Wahrheit war. Oder dass er diese Geschichte zumindest selbst nicht so ganz glaubte, sich aber natürlich Mike gegenüber loyal verhalten musste. Da fühlte ich mich plötzlich nicht mehr so gut.