Guter Stoff

Inzwischen war nicht mehr von der Hand zu weisen, dass die Berichterstattung über Jennys Tod meiner Karriere förderlich war. Monatelang schwebte ein großes wässriges Fragezeichen über den Umständen ihres Ablebens im Fluss, und das damit einhergehende Rätselraten war guter Stoff für die Zeitung, weil es jede Menge Raum für Spekulationen bot. Die Polizei stellte Fragen und sah sich um, sammelte Aussagen und hielt gerichtsmedizinische Befunde unter Verschluss. Sie stattete verschiedenen Personen Besuche ab, ließ wenig verlautbaren und schien keine großen Fortschritte zu machen.

Unterdessen erarbeitete ich mir den Ruf einer engagierten und hartnäckigen Reporterin. Ich konnte es selbst kaum glauben, weil das etwas vollkommen Neues war. In der Vergangenheit hatte ich immer eine gewisse Distanz zu meinen Storys gewahrt, selbst zu den guten, den blutigen, den dunklen und kriminellen, den Storys, die sich gut verkauften.

Das Arschloch erging sich gerne darüber, wie wichtig es war, sich eine Story wirklich »zu eigen zu machen«, indem man sie gnadenlos durchzog, neue Blickwinkel suchte und immer noch mehr Gerüchte verbreitete, die jeder Grundlage entbehrten. Offen gestanden machte ich mir diese Mühe in den seltensten Fällen. Nach nur sechs Monaten bei der Tageszeitung konnte ich mich ohnehin des Eindrucks nicht mehr erwehren, dass die Verbrechensberichterstattung eher darin bestand, Nachrichten zu erfinden, als darin, sie aufzudecken.

Das tägliche Brot der Wochenzeitungen, bei denen wir alle einmal angefangen hatten, waren hingegen nicht die »sexy« Storys, wie das Arschloch sie nennen würde, jene Storys, für die die BBC an deine Tür klopfte und dir einen Job anbot.

Stattdessen ging es um solide Gemeindethemen wie die neue Umgehungsstraße, die Ladenbesucher aus der Innenstadt fernhalten und die dort ansässigen Einzelhändler in den Ruin treiben würde, was wiederum Bauunternehmer in Scharen anziehen würde, oder den Kampf von Interessenverbänden, die sich für die Erneuerung der städtischen Abwasserleitungen starkmachten, die so alt und marode waren, dass sie jedes Jahr im Februar mit grausamer Vorhersagbarkeit platzten und Fäkalien und Abwasser ausspuckten.

Damals hatte mir das vollkommen gereicht. Mir war schnell klar geworden, dass ich keine Kate Adie sein wollte, die in Splitterschutzweste am gerade angesagten Kriegsschauplatz herumstand und unter dem Vorwand, die Öffentlichkeit auf dem Laufenden halten zu müssen, eingeschüchterte Einheimische zu Interviews nötigte. Man kann die Öffentlichkeit auch auf dem Laufenden halten, ohne pittoresk verhärmt auf einer staubigen Straße herumzustehen und immer wieder die selben alten Knochen ins rechte Licht zu rücken, bis jeder verwirrt und ein wenig benommen ist und sich fühlt, als habe man ihn in ein Geheimnis eingeweiht. Die Leute wissen es nicht besser.

Insgeheim hätte ich mir durchaus vorstellen können, für eine Zeitschrift zu schreiben oder Reiseberichte zu verfassen oder – vielleicht das Allerbeste – zum Fernsehen zu gehen, um dort irgendeine vage und glamouröse Tätigkeit auszuüben, bei der man viel Freizeit hat. Es musste ja nicht unbedingt ein Bürojob von neun bis fünf sein, aber auch nichts, bei dem man sich großartig anstrengen musste.

Stattdessen schrieb ich für die Zeitung, wo mir die tägliche Redaktionsmassenware aus Sexualverbrechen und Überfällen, plötzlichen Todesfällen und Kindesmissbrauch, hirnverbrannten Umfragen und Sonderbeiträgen täglich sinnloser und unerträglicher vorkam.

Damit will ich nicht sagen, meine Arbeit hätte keine Vorteile gehabt. Zeitweise wurde ich angemessen für mein Elend entschädigt. In den ersten sechs Monaten verschaffte mir mein Presseausweis freien Eintritt zu drei Aufführungen der walisischen Nationaloper, zu French and Saunders in der St. David’s Hall und den Counting Crows und Catatonia in der Cardiff International Arena. Gute Sitzplätze und manchmal sogar Erdnüsse zu warmem Pausenwein im Presseraum – leicht verdientes Geld.

Mike war natürlich beeindruckt und begeistert, weil wir solche Veranstaltungen ohnehin gerne besuchten. Also nahm ich ihn hin und wieder mit. Cora hätte sich nur gelangweilt, wenn sie mitgekommen wäre.

Außerdem kam ich in den Genuss zweier Gratisübernachtungen in Fünfsternehotels, einer Wellnessbehandlung, eines langen Wochenendes in Brüssel und zweier Nächte in einer hinreißenden kleinen Kutscherherberge in Dartmoor.

Hinzu kamen die Interviews mit Möchtegernprominenten, die ich liebte, weil sie so skurril waren. Gerne erinnere ich mich daran, wie ich einmal mit dem aus dem Fernsehen bekannten Einrichtungsberater Laurence Llewelyn Bowen beim Kaffee über Vorhangtroddeln diskutierte oder den Schnäppchenkönig David Dickinson fragte, ob ihm die ständigen Vergleiche mit der Serienfigur Lovejoy etwas ausmachten, oder wie Uri Geller die Beherrschung verlor, weil ich mich weigerte, über seine neue Show in Swansea zu sprechen und ihn stattdessen über seinen Kumpel Michael Jackson ausfragte.

Man konnte also durchaus seinen Spaß haben bei dieser Art von Arbeit – und das nutzte ich aus.

Aber was die Sache mit Jenny betraf, gab ich sämtliche Zerstreuungen auf und entwickelte eine neue, methodische Herangehensweise an die Verbrechensberichterstattung. Ich sorgte dafür, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit genau wusste, was vor sich ging.

Mein Arbeitseifer blieb in der Redaktion nicht unbemerkt. Ich rief täglich bei der Polizei an und fragte nach dem neuesten Stand bezüglich Jennys Autopsie, den Befragungen, den Fingerabdrücken. Ich streifte durch die Gegend und sprach mit Anwohnern, quetschte unter dem Deckmantel des Mitgefühls und der Anteilnahme systematisch Gerüchte aus ihnen heraus. Wenn es etwas Neues gegeben hätte, etwas, das eine Verbindung zwischen Mike und Jenny oder der Nacht im Charlie’s und Jenny hergestellt hätte, wäre ich die Erste gewesen, die es erfahren hätte. Das Arschloch war beeindruckt. Er sagte Dinge wie »Freut mich, dass du dich so in die Sache verbeißt« oder »Weiter so, dann gehört dir irgendwann der Laden«.

»Genau, dann setz ich dich auf die Straße, O-wain«, antwortete ich mit aufgesetztem Lächeln, und dann kicherte er und tätschelte mir den Arm wie ein amerikanischer Highschool-Footballtrainer seinem Quarterback. Ich wartete nur darauf, dass er mir das Haar zerzauste, damit ich ihm eine reinhauen konnte.

Seit Februar hatte ich Jennys Wohnung bereits mehrere Besuche abgestattet, zumindest von außen. Anfangs waren diese Besuche nur Teil meiner Strategie, als Erste an neue Informationen zu kommen, aber dann begann ich, immer öfter dorthin zu gehen, zu den seltsamsten Tages- und Nachtzeiten, wenn wenig zu tun war oder ich es in der Redaktion nicht mehr aushielt. Dann bummelte ich am schlammigen Flussufer entlang und starrte das hässliche Millennium Stadion an, bevor ich den Blick zu den leeren Fenstern hob, hinter denen sich Jennys Wohnung verbarg, direkt hinein ins Herz der Kriminalgeschichte, die sich vor meinen Augen entfaltete und deren Ausgang noch völlig offen war.

Oft ließ ich mir Visionen von Jenny und Mike durch den Kopf gehen, wie sie vielleicht dort hineingegangen waren in der Nacht nach dem Charlie’s, stellte mir vor, wie sie im dunklen Hauseingang standen, wie er sie stützte und sie ihn einlud, mit nach oben zu kommen, wie dann das Licht im Fenster anging und sie die Jacken auszogen, und dann … und dann …

An einem dämmrigen Nachmittag im April – das Wetter war längst zum üblichen Trübsinn zurückgekehrt – lungerte ich wieder einmal am Flussufer herum, den Kragen gegen den Nieselregen aufgestellt, mit kalten Fingern und einer Atemwolke vor dem Mund, als plötzlich ein zerbeulter roter Opel Astra vorfuhr. Der Fahrer parkte so ungeschickt rückwärts-seitwärts ein, dass der Kotflügel ein ganzes Stück auf die schmale Straße hinausragte. Als die Fahrertür aufging, erkannte ich Mrs Morgan, Jennys Mutter.

Ich erkannte sie, weil ich sie auf einem von Jennys Polizeifotos gesehen hatte. Genau wie Jenny sah auch sie im echten Leben anders aus, älter und mit jener Patina der Trauer behaftet, die ständiges Weinen, unregelmäßiger Schlaf und ungerechtfertigte Schuldgefühle mit sich bringen.

Sie sah aus wie Anfang fünfzig, war groß und langgliedrig und trug das schwarze, bereits grau werdende Haar in einem strengen Kurzhaarschnitt. Ihr Wollmantel sah teuer aus, aber die Lederslipper unter der Stone-washed-Jeans waren abgetragen, und auf der linken Seite war die Naht aufgeplatzt. Sie mühte sich mit mehreren Aufbewahrungskisten aus Plastik ab, die offensichtlich leer und dazu gedacht waren, Jennys Habseligkeiten aufzunehmen.

Unschlüssig, ob ich mich nähern sollte, beobachtete ich, wie sie das Auto abschloss und die Kisten vor sich her balancierte. Aber dann fiel eine der Kisten auf den Kies, und ich sprang instinktiv über die Straße und bückte mich, um sie aufzuheben.

»Mrs Morgan?«, fragte ich. »Ich bin Liz Jones von The Mail. Wir haben telefoniert.«

Weniger als zwei Minuten später standen wir in Jennys Wohnung. Es war das Selbstverständlichste der Welt gewesen, Mrs Morgan anzubieten, ihr ein paar Kisten abzunehmen, damit sie mit den Schlüsseln hantieren und Haustür und Wohnungstür aufschließen konnte. Sie sagte, ihr habe der Nachruf gefallen, den ich auf ihre Tochter geschrieben hatte. Ich erwartete jeden Moment, dass sie »Danke, aber ich komme jetzt allein zurecht« sagte und mir höflich aber entschieden die Tür wies, aber das tat sie nicht. Dafür war sie zu nett.

Es war offensichtlich, dass noch jemand in der Wohnung wohnte. Auf dem Wohnzimmertisch stand auf einer Wochenendausgabe des Mirror ein Teller mit halb aufgegessenem Toast und einem Klecks, der wie Schwarze-Johannisbeer-Marmelade aussah. Mrs Morgan war meinem Blick gefolgt und sagte: »Oh, das ist Harriet. Ein nettes Mädchen, aber ein bisschen unordentlich.« Sie sammelte den Teller und einige Tee- und Kaffeebecher ein und brachte sie in die Küche.

Harriet war mir neu. Jenny hatte also eine Mitbewohnerin gehabt, ein unerwarteter Unsicherheitsfaktor. Weil die Polizei Harriet nicht erwähnt hatte, war ich davon ausgegangen, dass Jenny allein gelebt hatte. Eine Mitbewohnerin war normalerweise die ideale Person für eine Stellungnahme, vielleicht sogar eine große Hintergrundstory über den Verlust ihrer geliebten Freundin, eine Hommage, eine Laudatio. Aber in diesem speziellen Fall konnte Harriet auch eine Menge Ärger bedeuten.

»Wollen Sie Jennys Zimmer sehen?«, fragte Mrs Morgan unvermittelt.

Ich wusste nicht genau, ob ich es sehen wollte. Die Wohnung machte mir plötzlich Angst. Ich hatte kein Recht, hier zu sein, und ich wollte eigentlich nichts sehen, was das Schreckgespenst Jenny noch lebendiger machte, als es ohnehin schon war. Seit ihrem Tod war ich bemüht, die Domina-Jenny in hochhackigen Lederstiefeln, die unsere Wiedervereinigung gestört hatte, fein säuberlich von der »tragischen« und »lebhaften« Jenny zu trennen, der »geliebten Tochter«, die ich mit meiner plastischen und doch feinfühligen Zeitungsprosa erschaffen hatte.

Indem ich die Wohnung betrat, überschritt ich die Grenze von der Boulevardpressewirklichkeit zur Realität. Ich wusste, dass ich nun unwiderlegbare Beweise für ihre wahre Existenz zu Gesicht bekommen würde: auf der Frisierkommode aufgereihte Lippenstifte, schlecht fotografierte Familienportraits auf dem Nachtschränkchen, ein paar eilig abgelegte Slips auf der Stuhllehne, die es nicht mehr in die Waschmaschine geschafft hatten.

Gleichzeitig war ich auf morbide Weise neugierig auf ihr Zimmer. Ich wollte den Schauplatz sehen, wo vielleicht etwas passiert war, von dem ich lieber nichts wissen wollte. Womöglich hatte Mike genau dort gestanden, wo ich jetzt stand, auf halbem Weg zwischen der Tür und dem abgewetzten weinroten Sofa, mit der Jacke in der Hand, während sie neben dem Fenster herumgetastet hatte, um die Ikea-Lampe anzuknipsen. Vielleicht hatte er den Blick über das behagliche Chaos schweifen lassen und das Nirvana-Poster mit dem untergetauchten Baby über dem alten Gasofen kommentiert und dabei ein paar Takte aus Smells Like Teen Spirit gepfiffen.

Ein Moment des Zögerns und dann was?

Jennys Zimmer glich auf deprimierende Weise der Vorstellung, die ich mir davon gemacht hatte. Schmutzig-weiße Einbauschränke, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, ein staubiger cremefarbener Lampenschirm mit Fransen, braun-weiß geblümte Siebzigerjahre-Vorhänge und ein billiger grüner Teppichboden. In der Mitte des Zimmers stand ein runder hölzerner Küchentisch, der schon unzählige Male mit weißer Industriefarbe übermalt worden war und auf dem sich Bücher und Zeitschriften stapelten.

An der linken Wand gegenüber dem Fenster, durch das man die Straße und die spitz in den Himmel ragenden Stützpfeiler des Stadions sah, stand ein Bett mit einer ländlich wirkenden Patchwork-Überdecke und vier bunten Teddybären. Das Zimmer sah haargenau aus wie jedes Studentenzimmer, das ich je bewohnt hatte, inklusive der Kerzenstummel auf dem Fensterbrett, um die sich hart gewordene Wachsseen gebildet hatten, und der Flasche Wodka inmitten einer Ansammlung von Leergut.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hätte ich plötzlich heulen können, aber wie hätte das ausgesehen? Das Gesicht zu verziehen und zu heulen und zu schluchzen, während ihre Mutter es schaffte, tränenlos und geduldig und aufrecht zu bleiben?

»Sie wollte das Zimmer renovieren«, sagte Mrs Morgan. »Wir hatten schon Farbe und alles gekauft, aber wir sind nie dazu gekommen. Sie war zwar erst seit ein paar Monaten hier, aber sie war fest entschlossen, es in der Großstadt zu schaffen. Sie hat so hart gearbeitet. Die Polizei hat alles durchsucht und ein paar Sachen mitgenommen. Ich weiß nicht genau, was, Briefe und so.«

Ihr Blick driftete weg und schweifte über die Dächer der Stadt, bevor er zurückkehrte. Ich wartete.

»Ich habe natürlich alles wieder aufgeräumt, es war ein ziemliches Chaos. Die Polizei hat die Bettlaken mitgenommen, für die Tests und so, Sie wissen schon. Und das, obwohl Jenny gar keinen Freund hatte, soviel ich weiß.«

Das alles war mir bereits bekannt.

»Damals, in dieser Nacht, war anscheinend trotzdem jemand hier. Harriet hat gehört, wie sie sich unterhalten haben. Aber sie hatte Wodka getrunken oder war wahrscheinlich auf Drogen.« Den letzten Satz klammerte sie ein, indem sie ihn mit übertrieben gedämpfter Stimme aussprach. »Deshalb kann sie sich nicht mehr genau erinnern. Sie glaubt, dass es ein Mann war. Weil sie angeblich eine tiefe Stimme gehört hat. Sie glaubt, dass einer der beiden, wahrscheinlich Jenny, nach einer Weile wieder gegangen ist. Aber vielleicht ist auch der Mann gegangen. Warum hätte Jenny um halb drei Uhr morgens noch mal nach draußen gehen sollen? Harriet sagt, dass sie manchmal zur Tankstelle gegangen ist, um sich Zigaretten zu holen. Zigaretten? Ich wusste nicht mal, dass sie raucht.« Sie sagte es ein wenig wehmütig, so als wäre ihr gerade aufgegangen, wie viele hundert Dinge sie nicht über ihre Tochter gewusst hatte, darunter vermutlich einige, die sie auch gar nicht hätte wissen wollen.

»Ein paar von ihren Sachen haben gefehlt. Schmuck, den sie mit hierher genommen hatte. Nichts Teures, aber sie hing wohl daran. Einen Raubüberfall schließt die Polizei aus. Vielleicht hat der Mann, der bei ihr war, den Schmuck mitgenommen, weil sich die Gelegenheit ergab.« Sie wirkte ratlos und verwirrt.

Das hier ist in Wirklichkeit gar nicht die Geschichte meiner Tochter, redete sie sich ein. Was hat ihr Leben mit alldem zu tun, ihr Tod? Ich sah es an ihrem abwesenden Blick, der sehnsüchtig nach der echten Welt Ausschau hielt und dann wieder zu dieser seltsam improvisierten Szene zurückschnappte, auf die sie nicht vorbereitet gewesen war.

Unterdessen verarbeitete ich das Gehörte aus alter Gewohnheit gedanklich zu einem Nachrichtenbeitrag und packte die heißen Informationen ganz nach oben. Zualleroberst kam die entscheidende Neuigkeit: Ein Mann war in der Wohnung des toten Mädchens. Das musste Mike gewesen sein, wer sonst? Und wenn ich das wusste, dann wusste es die Polizei auch, zumindest wenn sie eine Verbindung zwischen den beiden hergestellt und von der Nacht im Charlie’s erfahren hatte.

Ich suchte Halt am Tisch und gab vor, die Aussicht aus dem Fenster zu bewundern. In diesem Moment sah ich ihn. Es war nichts Verräterisches daran, es war nur ein einfacher Füllfederhalter, der der Polizei keinen zweiten Blick wert gewesen wäre. Das Problem war nur, dass ich ihn kannte. Ich hatte ihn selbst gekauft. Zusammen mit Cora. Für Mike. Zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag.

Er lag in einer Ausgabe von T. S. Eliots gesammelten Gedichten, die auf der Seite mit J. Alfred Prufrocks Liebesgesang aufgeschlagen war, einige Zeilen waren unterstrichen. Das war immer Mikes und mein Lieblingsgedicht gewesen.

Ich fand Harriet auf Anhieb unsympathisch. Sie erschien in diesem Moment im Türrahmen und war genau die Art von aufreizend selbstsicherem Mädchen mit verschlagenem Blick, die ich schon auf dem College gehasst hatte und mit der ich nur äußerst ungern die Wohnung geteilt hätte. Sie trug schwarze Leggings unter einer schwarzen Tunika, zu viel schwarzen Eyeliner und Haare, die in allen erdenklichen Braun- und Schwarztönen gefärbt waren.

Als sie sich mit ihren gut fünfzehn Kilo Übergewicht auf dem Sofa niederließ, stellte sie eine beachtliche Anzahl von Speckröllchen zur Schau, die jedes Mal miteinander kollidierten, wenn sie sich vorbeugte, um ihre Zigarette in einem aus dem Pub geklauten Aschenbecher abzustreifen und dabei die Tätowierungen zu entblößen, die sich um ihr Handgelenk rankten. Der zweite Satz, den sie nach der Begrüßung zu Mrs Morgan sagte, war: »Jenny schuldet mir übrigens noch 150 Pfund Miete, und der Wodka gehört eigentlich mir, kann ich den mitnehmen?«

Mir war sofort klar, wohin Jennys Schmuck verschwunden war. Auch die Kleider, die laut Pressemitteilung gefehlt hatten, als Jenny vermisst gemeldet wurde, waren aller Wahrscheinlichkeit nach nicht weit. Harriet musterte mich skeptisch von Kopf bis Fuß, teilte mir aber bereitwillig mit, was sie wusste. Sie schien sogar regelrecht darauf erpicht zu sein.

Gegen zwei Uhr nachts hatte sie gehört, wie Jenny mit einer anderen Person nach Hause gekommen war. Die beiden waren zunächst ein wenig vor der Tür herumgestolpert, als wären sie betrunken, dann hatte sie Jenny im Flur lachen hören. Leider hatte die entzückende Harriet ungefähr zwölf Flaschen Bacardi Breezer getrunken und dann noch ein paar Pillen eingeschmissen, die ihr Freund ihr gegeben hatte. Anschließend hatte sie sich im Badezimmer übergeben und hatte auf ihrem Bett das Bewusstsein verloren. In unregelmäßigen Abständen war sie aufgewacht und hatte eine tiefe Stimme aus Jennys Zimmer gehört, eine Männerstimme, und später die Haustür, die auf und zu ging, vielleicht sogar mehrmals. Genau das hatte sie auch der Polizei erzählt, und das war alles, was sie wusste.

»Bekomme ich jetzt Geld dafür?«, wollte sie wissen.