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Über einen halben Mond später zog Magiere seufzend die Zügel ihres zotteligen Ponys und wartete darauf, dass der verdrießliche Leesil zu ihr aufschloss.
»Halb irres Klappergestell«, brummte er und meinte sein Reittier.
Von Bela waren sie landeinwärts gereist, erst südlich der Inneren Bucht die belaskische Halbinsel hinunter, dann nach Osten an der Küste des Golfs von Belaski entlang. Bei der Mündung des Wudrask hatte Magiere entschieden, Wagen und Pferde zu verkaufen und den Weg an Bord eines Schleppkahns den Fluss hinauf fortzusetzen. Die erschöpfte Wynn nahm es einfach hin, und Leesil hatte sofort zugestimmt. Sosehr er Reisen übers Meer auch verabscheute: Schiffe auf Flüssen schlingerten nicht die ganze Zeit über; er konnte also hoffen, sein Essen bei sich zu behalten. Die ruhige Fahrt eines Kahns war auch dem unentwegten Schaukeln des Wagens auf holprigen Wegen vorzuziehen. Selbst gegen die sanfte Strömung kamen sie mit dem Kahn meistens ebenso schnell voran, wie es an Land möglich gewesen wäre. Auf den Treidelpfaden am Flussufer warteten Gruppen von Maultieren darauf, den Kahn zu ziehen. Nach Südosten über den Wudrask ging die Fahrt, zurück zu Magieres Vergangenheit.
Die ereignislose Reise brachte Magiere Ruhe, als sie mit Leesil unter der Decke lag. Auch Wynn und Chap blieben dicht beisammen. Der Weg landeinwärts schien bereits lange zurückzuliegen, obwohl sie ihn gerade erst hinter sich gebracht hatten, und am ersten Tag auf dem Kahn schmiegte sich Magiere eng an Leesil.
»Bisher hatten wir nicht viel Zeit für uns«, sagte sie zu ihm. »Eine Nacht. Mehr nicht.«
Leesil lächelte. »Es wird genug Zeit in diesem Leben geben. Bei der Reise habe ich es nicht eilig.«
Magiere erinnerte sich an den Abend, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte, in der Kaserne der Weisen nach dem Ende ihrer Jagd in Bela – sie war sehr überrascht gewesen. Noch immer hörte sie die Worte, die er kurz vor dem Kuss gesprochen hatte.
»Ich habe drei Leben gelebt«, hatte er gesagt. »Als Kind in den Kriegsländern, in einer Welt von Verrat und Tod. Dann unterwegs mit Chap. Und schließlich das Spiel mit dir, von dem Abend an, als wir uns begegneten … was wir Chaps Einmischung verdanken. Jetzt beginnt ein viertes Leben für mich. Jedes Leben fängt damit an, dass man es einfach lebt. Ich sage noch einmal: So leicht bin ich nicht zu töten.«
So wenig Zeit war vergangen, seit sie in der Nacht danach im ersten Gasthaus außerhalb von Bela im gleichen Bett geschlafen hatten. Die neue Nähe war seltsam, aber Magiere hielt daran fest. Mehr für Leesil als für sich selbst wünschte sie, dass das vierte Leben sein letztes und längstes sein würde.
Leesils Hand ruhte unter der Decke auf ihrem Oberschenkel, als der Kahn über den Fluss glitt. Magiere legte ihre Hand auf seine, den Daumen an seinem Handgelenk. Sie spürte die Narben dort, die von ihren eigenen Zähnen stammten – damals in Miiska hatte Leesil ihr mit seinem Blut das Leben gerettet. Die Narben ließen Furcht in ihr entstehen, aber sie zog die Hand nicht fort.
Magiere beobachtete, wie die vom Herbst vergoldete Welt vorbeizog. Nicht nur die Jahreszeit brachte Veränderungen – auch die Landschaft selbst veränderte sich, als der Kahn sie an den Grenzen von Belaski im Süden und Strawinien im Norden entlangtrug. Nach sieben weiteren Tagen blieb Belaski hinter ihnen zurück, und sie erreichten eine andere Welt, in der der Fluss die Grenze zwischen Strawinien und Dröwinka bildete. Beiden Ländern fehlten Belaskis Reichtum und gute Verwaltung, was bedeutete, dass sich kaum jemand um die Pflege der wichtigsten Straßen und Verbindungswege kümmerte. Als der Fluss schmaler und die Strömung ein wenig stärker wurde, wechselten die Kahnleute die Maultiere gegen Ochsen aus – sie liehen sie von den Bauern aus, die die Gelegenheit begrüßten, während der ruhigen Zeit etwas Geld zu verdienen. Der Kahn kam langsamer voran, und nachdem sie an einem ganzen Tag nicht mehr als vier Meilen zurückgelegt hatten, hielten sie bei einem großen Dorf an.
Magiere wollte die Fahrt auf dem Fluss fortsetzen, doch ihr Heimatdorf Chemestúk war nur einen Dreitagesritt entfernt, und dies war die letzte Gelegenheit, Pferde zu kaufen. Als sie sich mit einem entsprechenden Vorschlag an Leesil wandte, geriet er außer sich.
»Pferde? Ich soll meinen Hals einem von Flöhen zerfressenen Klepper anvertrauen, der die ganze Zeit über auf vier dürren Beinen schwankt? Lieber kotze ich mir an Bord eines Frachtschoners die Seele aus dem Leib!«
Es folgte ein Streit, der die Kahnleute veranlasste, ihre Arbeiten an der Anlegestelle zu unterbrechen und große Augen zu machen – ganz zu schweigen von den Dorfbewohnern, die zufälligerweise in der Nähe waren und alles mithörten. Schließlich kaufte Magiere drei kräftige Ponys und einen Packesel und drängte Leesil in den Sattel, während Wynn den Rest ihrer Vorräte umpackte.
Das war vor drei Tagen gewesen, und jetzt wartete Magiere darauf, dass Leesil zu ihr aufschloss. Den ganzen Tag über hatte er kaum gesprochen und nur gelegentlich sein Pony verflucht, das meistens überhaupt nicht gehorchte.
Magiere beobachtete ihr düsteres Heimatland. Moosfladen hingen an den Ästen und Zweigen alter Bäume wie Bärte. In der kühlen Luft blieb der Boden ständig feucht, und hinter dem Geruch von Lehm und Laub lag der Gestank von Zerfall. Der dichter werdende Wald verwehrte oft den Blick zum wolkenverhangenen Himmel, der sich nur dann zeigte, wenn der Weg nah am Flussufer entlangführte. Die großen, knorrigen Bäume bescherten Dröwinka immerwährende Dämmerung. Es tropfte selbst dann vom hohen Baumkronendach, wenn es nicht regnete.
Magiere sah zu ihren Begleitern zurück. Mit dem Zügel des Packesels in der Hand bildete Wynn den Abschluss, und Chap lief neben ihrem Pony. Leesils holzkohlegrauer und feuchter Schal saß schief am Kopf, zeigte das weißblonde Haar und ein spitz zulaufendes Ohr.
»Von allen dummen Arten, über Land zu reisen, mussten wir ausgerechnet diese wählen«, brummte er. »Mein Allerwertester wird nie wieder so sein wie vorher.«
»Wir sind fast da«, sagte Magiere leise. »Aber wir machen für die Nacht halt.«
Er sah sie überrascht an und hob dann den Blick zu dem Fleck grauen Himmels zwischen den Baumkronen. Magiere wusste, dass es ungewöhnlich war, so früh anzuhalten, und Leesil musterte sie. Der Ärger war aus seinem Gesicht verschwunden.
»Uns bleibt noch ein wenig Licht«, sagte er. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja …«, erwiderte sie zögernd. »Aber … ich bin zu lange von diesem Ort fort gewesen.«
Leesil ergriff ihre Hand, und seine Finger fühlten sich auf ihrer Haut erstaunlich warm an.
»Es ist recht spät, dich dies zu fragen, nachdem wir einen langen Weg hinter uns haben«, sagte er. »Bist du sicher, dass du wirklich in deine alte Heimat zurückwillst? Wir könnten uns nach Norden wenden und den Weg durch Strawinien in Richtung der Kriegsländer fortsetzen.«
Der Wunsch, diesen Ort zu verlassen, war stark in Magiere. Alles in ihr drängte danach, erneut zu fliehen, diesmal mit Leesil an ihrer Seite. Aber es gab Fragen, die beantwortet werden mussten.
Wer bin ich? Warum bin ich hier?
Warum bin ich gezeugt worden, von einem Untoten … um Jagd auf seine eigene Art zu machen?
Wynn hielt ihr Pony hinter ihnen an und sackte im Sattel zusammen. Magiere bedauerte noch immer, der jungen Weisen gestattet zu haben, sie zu begleiten. Die feuchte Kälte setzte Wynn zu, obwohl sie sich nie beklagte.
»Wir machen halt«, sagte Magiere und löste ihre Hand aus Leesils. »Wynn, such dir eine Stelle und ruh dich aus. Leesil zündet ein Feuer an, und ich kümmere mich um die Ponys.«
Wynn hob den Kopf, und die Feuchtigkeit ließ ihren braunen Zopf dunkler erscheinen. »Ich bin in Ordnung … sobald ich Tee gekocht habe.«
Sie widmeten sich ihren Aufgaben. Chap folgte Wynn, als sie ihre Schlafdecken entrollte und die Teekanne aus Blech füllte. Leesil holte einen Wachstuchbeutel mit trockenem Anzündholz hervor und machte ein kleines Feuer, das zischte und qualmte, als er feuchtes Holz hinzufügte. Neben dem Feuer legte er Zweige aus, damit sie trockneten und das verbrauchte Anzündholz ersetzen konnten. Magiere band die Ponys an einer großen Fichte fest und brachte ihnen Hafer und Wasser. Die Straße, die sie hierhergeführt hatte, war eigentlich kaum mehr als ein schlammiger Pfad. Die Reise war recht beschwerlich gewesen.
»Ein König sollte mehr auf die Straßen seines Königreichs achten«, brummte Leesil und entnahm einem Jutesack Kekse und Äpfel.
»Dröwinka hat keinen König«, sagte Wynn.
Leesil reichte ihr einen Apfel. »Was?«
»Es gibt hier keine Erbmonarchie, nur einen Großfürsten.«
Leesil schnaubte. »Wo ist der Unterschied? Ein König mit einem anderen Titel … Meistens ist er trotzdem ein Tyrann oder bestenfalls gleichgültig.«
Magiere kannte die Unterschiede in ihrem Heimatland gut genug, hatte aber nie versucht, Herrscher und ihre Gepflogenheiten zu verstehen. In ihrem früheren Leben hätte sich dadurch kaum etwas verändert.
»Ich habe belaskische Geschichtsbücher gelesen«, sagte Wynn. Sie hatte sich inzwischen, in eine Decke gehüllt, hingesetzt. »Hier sind die Dinge anders. Dröwinka ist auf mehrere Häuser aufgeteilt, jedes von ihnen steht unter der Herrschaft eines angeblich adeligen Prinzen. Die meisten stammen von Menschen ab, die in ferner Vergangenheit hierher ausgewandert sind oder an Eroberungszügen teilgenommen haben. Die Namen vieler Häuser gehen auf jene Leute zurück, und sie alle dienen dem Großfürsten. Alle neun Jahre wählt eine Versammlung der Adligen einen neuen Großfürsten. Seit über hundert Jahren hat niemand Anspruch auf den Titel eines Königs erhoben.«
»Einige wenige haben es versucht«, sagte Magiere und war zu beschäftigt, um verbittert zu sein. »Die dauernden Intrigen und Ränke hielten sie so beschäftigt, dass sie zu nichts anderem Zeit fanden, als ihre jeweiligen Provinzen in einer Art Würgegriff zu halten. Heute zahlen die Dorfbewohner Steuern und beten, dass ihre Herren nicht zu ehrgeizig werden. Besser ein armseliges Leben als Leibeigener führen, als in den Soldatendienst gezwungen zu werden und auf dem Schlachtfeld zu sterben, nur weil dem Prinzen der Sinn nach der Königskrone steht.«
Chap jaulte, und Wynn kramte in ihren Sachen, holte das Leder mit den Elfensymbolen hervor.
»Wer regiert das Land, in dem wir uns jetzt befinden?«, fragte Leesil.
»Die Äntes«, antwortete Magiere.
»Ihnen gehört der größte Teil des Landes beim Fluss«, warf Wynn ein. »Eins der ältesten Häuser. Magiere weiß sicher mehr.«
Leesil sah Magiere an und wölbte eine blonde Braue.
»Das sind die herzlosen Tyrannen, von denen du eben gesprochen hast«, flüsterte sie. »Mehr brauchst du nicht zu wissen.«
Leesil runzelte die Stirn und überprüfte die am Feuer trocknenden Zweige.
Wynn wandte sich an Chap. »Ag’us a’wiajhis tú oijhchenis?«
Nach so vielen Reisetagen kannte Magiere diesen Satz, obwohl eigentlich kein Elfisch nötig war, um den Hund zu fragen, was er fressen wollte. Chap fraß praktisch alles, was man ihm vor die Schnauze hielt, und die Auswahl war ohnehin begrenzt. Er hatte neben der Weisen gewartet und deutete mit der Pfote auf einige Symbole.
»Getrockneter Fisch«, übersetzte Wynn und beobachtete die Bewegungen der Pfote. »Ein geschälter Apfel. Leesil, ich brauche ein Messer.«
Die Falten fraßen sich tiefer in Leesils Stirn, und er ließ die Schultern kreisen, als kratzte die Wolle des Mantels. Magiere versuchte, seine Reaktion zu ignorieren.
Sie wussten inzwischen, dass Chap mehr war als ein gewöhnlicher Hund, und Leesil schien sich noch immer nicht daran gewöhnt zu haben. Magiere hingegen fand Wynns Höflichkeit Chap gegenüber lobenswert. Er verzichtete auf seine früheren Kapriolen und stieß die junge Weise einfach mit der Pfote an, wenn er wollte, dass sie ihr Leder mit den Symbolen hervorholte. Doch abgesehen von seinen Essenswünschen verriet er kaum etwas über sich, weder über sein Wesen als Majay-hì noch über die Gründe, warum er Leesil vor einigen Jahren beeinflusst hatte, damit er Magiere kennenlernte. Wenn Wynn darauf zu sprechen kam, schenkte er den Symbolen des Leders keine Beachtung. Es ärgerte Leesil noch immer, dass Chap ihn damals manipuliert hatte, und das bereitete Magiere Sorgen. Früher oder später würde er dafür geradestehen müssen.
Leesil schürzte die Lippen, reichte Wynn das Messer und holte dann geräucherten Fisch hervor. Wynn machte sich daran, einen Apfel zu schälen.
Magiere blickte ins Feuer, die Hand geistesabwesend am Heft ihres Falchions. Die Spitze des Mittelfingers strich über das kleine Symbol im Knauf. Diese Klinge war imstande, einen Edlen Toten zu verletzen. Das Falchion, ihre Lederrüstung und zwei Amulette hatte ihr ein unbekannter Vater beim Tod der Mutter hinterlassen, die ihr immer eine Fremde geblieben war. Während des Kampfes in Bela hatte sie Leesil das Topasamulett gegeben, das gelb glühte, wenn sich ein Untoter in der Nähe befand. Sie brauchte es nicht mehr. Ihre Dhampir-Sinne wiesen sie rechtzeitig auf Gefahr hin, und das Amulett konnte Leesil warnen, wenn sie aus irgendeinem Grund nicht dazu imstande war.
Das andere Schmuckstück blieb zumindest teilweise ein Rätsel, und sie trug es ganz offen: ein halbes Oval aus Zinn mit einem Knochenfragment, das seltsame winzige Zeichen aufwies. Das Objekt war nur einmal verwendet worden, und Magiere hatte es erst gemerkt, als es bereits zu spät gewesen war. Welstiel hatte Leesil erklärt, dass ein Dhampir nur dann Lebenskraft aus Blut gewinnen konnte, wenn der Knochen bei der Nahrungsaufnahme die Haut berührte. Leesil hatte nicht gezögert, die Möglichkeit zu nutzen: Vom eigenen Handgelenk hatte er ihr zu trinken gegeben, nachdem sie beim Kampf gegen die Untoten von Miiska schwer verletzt worden war. Sie berührte das Amulett jetzt und fragte sich, wie verlässlich Welstiels Worte sein mochten. Das Knochenamulett fühlte sich warm an, vielleicht vom Feuer, und sie wich zurück, lehnte sich an einen Baum.
Die letzten Reste des Tageslichts verschwanden, und Dunkelheit legte sich ums Lager. Leesil nahm eine Wolldecke und näherte sich damit Magiere. Als er sie ihnen beiden über die Beine legte, zog Magiere ihn an sich. Seine Wärme reichte tiefer in sie als die des Feuers und vertrieb die Kälte. Leesil lehnte den Kopf an ihre Schulter und beobachtete, wie Wynn den Apfel schnitt und Chap einzelne Stücke zu fressen gab.
»Sie verwöhnt ihn«, flüsterte er.
Magiere lächelte fast. Morgen würden sie Chemestúk erreichen, ihr … Zuhause? Nein, nicht mehr. Ihr Zuhause war weit entfernt: die Taverne »Zum Seelöwen« in der Hafenstadt Miiska, wo sie ein friedliches Leben mit Leesil führte. Wie lange mochte es dauern, bis sie wieder wirklich daheim war?
Derzeit hielt sie an Leesils Wärme fest und an dem Anblick von Chap, der ein Apfelstück nach dem anderen verschlang.
Welstiel drehte sich während des Dämmerns – des Schlafs der Untoten – auf die Seite und versuchte, seine Traumwelt-Augen vor den schwarzen Schuppen zu verbergen, die ihn auf allen Seiten umgaben. Sie wogten wie Dünen aus Obsidiansand in einem Sturm und erstreckten sich endlos, ohne Anfang oder Ende. An jenem Traumort, zu dem er so oft zurückkehrte, schlossen sich seine Augen nie, und wenn er die Schuppen zu lange sah, wurde ihm übel.
Er hatte Zorn von der Traumherrin erwartet, fühlte aber nichts dergleichen. Er fühlte sich nur allein – und beobachtete.
»Bitte … gib mir deinen Rat«, flüsterte er.
Die Antwort kam aus weiter Ferne und raunte durch seine Gedanken.
Setz den Weg fort … Folge.
Der dämmernde Welstiel rollte sich auf die andere Seite, und die schwarzen Rollen der Traumherrin verschwanden in der Dunkelheit des Schlafes. Er fuhr zusammen, und von einem Augenblick zum anderen war er hellwach.
Auf dem Boden einer alten heiligen Stätte, abseits eines vergessenen Weges in Dröwinka, setzte er sich auf. Um ihn herum erhoben sich steinerne Mauern, verwittert und fleckig. Das Holz der Eingangstür zwischen den Säulen war längst verfault. Chane und er hatten hier vor dem Morgengrauen Zuflucht gesucht, während sie Magiere landeinwärts folgten. Der Altar hinter Welstiel wies keine sakralen Objekte auf – die waren längst gestohlen worden, nachdem die Gläubigen diesen Ort aufgegeben hatten. Blätter und Dreck hatten sich in Ecken und Spalten angesammelt; hier und dort wuchs Unkraut.
Er erhob sich und zitterte noch immer von der Kommunikation mit der Traumherrin. Sein Blick glitt umher. »Chane?«
Er bekam keine Antwort. Wann hatte die Nacht begonnen? Seit einiger Zeit mangelte es Welstiel an einem genauen Gefühl für den Stand der Sonne, wenn er von der Präsenz der Traumherrin zurückkehrte. Das beunruhigte ihn, als er nach draußen trat.
Es war still im dichten Wald, abgesehen vom gelegentlichen Ruf eines Vogels und dem Tropfen von Wasser. Es wehte nicht einmal Wind, der Zweige und Blätter rascheln ließ. Welstiel erinnerte sich daran, dass sie kurz vor der Morgendämmerung an einem kleinen Dorf vorbeigekommen waren, kaum mehr als eine Ansammlung von Hütten. Er entsann sich auch Chanes Unruhe. War er so dumm gewesen, sich auf die Suche nach Nahrung zu begeben?
Welstiel kehrte ins Innere des alten Tempels zurück, sammelte seine Sachen, streifte den Mantel über und wollte sich auf die Suche nach Chane machen. Doch dann zögerte er. Niemand befand sich in der Nähe, und solche Momente waren sehr selten, wenn man in der Gesellschaft eines Begleiters reiste.
Ihm war zunächst nicht klar gewesen, wie schwer es sein würde, Magiere zu folgen – sie konnte sich tagsüber frei bewegen, während er einen sicheren Platz finden musste. Nach den Etappen der letzten Nächte glaubte er, ihr Ziel zu kennen.
Zuerst war sie nach Südosten gereist, was ihn verwirrt hatte. Er war von der Annahme ausgegangen, dass sie den Wudrask verlassen und nach Norden ziehen wollte, nach Strawinien. Nach dem Ende ihrer Fahrt mit dem Schleppkahn hatte er fast ihre Spur verloren und Chane mit einer Aufgabe losgeschickt, um allein zu sein und nach Magiere Ausschau halten zu können.
Er musste diese Gelegenheit nutzen.
Welstiel kniete im Innern des kleinen Tempels, holte einen Messingteller aus seinem Gepäck und legte ihn auf den laubbedeckten Boden mit der gewölbten Seite nach oben. Er murmelte kehlige Worte, zog seinen Dolch und schnitt behutsam in den Rest des kleinen Fingers an der linken Hand. Blut quoll aus der Wunde, und er beobachtete, wie ein dunkler Tropfen in die kleine Mulde in der Tellermitte fiel, dann noch einer und ein dritter. Der Knochenstumpf im Rest des kleinen Fingers fühlte sich warm an. Welstiel konzentrierte sich kurz, und die Wunde schloss sich.
Aus den drei Tropfen in der Mitte des Messingtellers war ein großer geworden, und er bewegte sich, glitt von der Mitte fort und kroch nach Ostsüdost.
Welstiel säuberte Teller und Dolch, verstaute beides und trat nach draußen, um mit der Suche nach Chane zu beginnen.
Es gab keinen Zweifel mehr: Magiere war nach Chemestúk unterwegs.
Wynn beobachtete, wie Magiere und Leesil auf der anderen Seite des Feuers unter der Decke lagen und miteinander flüsterten. So dumm es auch sein mochte: Der vertraute Anblick sorgte dafür, dass sie sich mit jedem verstreichenden Tag einsamer fühlte. Sie hatten zueinander gefunden, und Wynn kam sich ausgeschlossen vor.
Bei dieser Reise war nichts so, wie sie es erwartet hatte.
Wynn hatte nie daran gedacht, wie das Leben ohne die ständige Präsenz ihrer Mentoren und der anderen Weisen sein mochte. Als Waisenkind war sie in Malourné, auf der anderen Seite des Ozeans, in die Gilde der Weisheit aufgenommen worden. Zu Beginn dieser Reise hatte sie Magieres Verdrossenheit und Leesils Humor als angenehme Abwechslung von all den ihr bekannten Dingen empfunden. Aber nach so vielen Reisetagen vermisste sie Domin Tilswith und die Bequemlichkeit der Kaserne in Bela. Wenigstens blieb Chap bei ihr. Sie strich dem Hund durch das dicke Fell am Hals und hörte sein zufriedenes Brummen.
Sie hatte sich vorgestellt, als Schriftgelehrte und Dolmetscherin für Magiere und Leesil nützlich sein zu können, vergleichbar mit den reisenden Weisen, die in ihrer Heimat einem adligen Haus und Lehen zugewiesen waren. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie die Besonderheiten fremder Länder für das Archiv der Weisen notierte und das Wissen mehrte, das die Gilde für die Zivilisation hütete. Aber Magiere und Leesil beherrschten die Sprache von Belaski und hatten ihre Dienste nicht benötigt, und jetzt befanden sie sich in Dröwinka. Nur Magiere sprach die Sprache dieses Landes fließend, und Leesil kannte sich gut genug damit aus, um zurechtzukommen.
Wynn hingegen, die sieben Sprachen beherrschte, war nicht mit dem Dröwinkanischen vertraut. Noch nicht.
Leesil versuchte sie zu unterrichten, aber sie geriet jedes Mal in große Verlegenheit, wenn sie ein Dorf erreichten. Schlimmer noch, Magiere trieb sie ständig an und legte ein geradezu erbarmungsloses Tempo vor. Wynn war kaum Zeit genug geblieben, interessante Dinge aufzuschreiben – soweit es in diesem Land überhaupt Interessantes gab. Es war immerzu kalt und nass, und inzwischen hatte sie Kekse zum Frühstück gründlich satt. Sie sehnte sich nach intelligenten Gesprächen und einem Teller warmer Linsensuppe mit Tomaten und Rosmarin. Während sie Magiere und Leesil beobachtete, fragte sie sich, wie es sein mochte, mit einem Mann unter einer Decke zu liegen, von fernen Ländern und ihrer Geschichte zu flüstern.
Sie dachte an Chane.
Wynn versteifte sich und schob diese unbehaglichen Gedanken beiseite. Es lag an der Einsamkeit, die sie immer mehr als Bürde empfand. Selbstmitleid war ebenso sinnlos wie Sehnsucht nach einem für immer verlorenen Moment.
Etwas anderes setzte ihr noch mehr zu als das Gefühl der Einsamkeit: Nachdem sie so viele Tage in der Gesellschaft von Magiere und Leesil verbracht hatte, kam sie sich ihnen gegenüber immer mehr wie eine Verräterin vor. In Hinsicht auf die Gründe für die Reise hatte sie nicht direkt gelogen, aber etwas ausgelassen, nämlich Domin Tilswiths Auftrag, Magiere im Auge zu behalten. Deshalb hatte er Wynn losgeschickt, da sie Magiere bereits kannte. Der Domin wollte unbedingt mehr über das Dhampir-Rätsel erfahren, und aus diesem Grund hatte er seine Schülerin beauftragt, zwei Jäger der Untoten – sogar drei, Chap mitgezählt – zu begleiten.
Zuerst versprach diese einzigartige Aufgabe Abenteuer, und das Vertrauen des Domin erfüllte Wynn mit Stolz. Sie war bei den Weisen aufgewachsen, die sich all die Jahre um sie gekümmert hatten, und jetzt konnte sie der Gilde einen Dienst erweisen, zu dem sonst niemand imstande war. Doch insgeheim eine Reisegefährtin zu bespitzeln und alles über sie aufzuschreiben … Wynn fühlte sich wie eine Spionin. Einmal war sie kurz davor gewesen, Magiere alles zu erzählen, hatte es sich aber im letzten Augenblick anders überlegt. Sie wusste nicht, wie Magiere darauf reagieren würde, und sie fürchtete, mit dem ersten Kahn flussabwärts zurückgeschickt zu werden.
Wynn griff in ihre Tasche und holte eine Kaltlampe hervor. Sie hob den Deckel aus Blech und den Glaszylinder, nahm dann den kleinen Kristall, der in der Lampe den Platz des Dochtes einnahm. Langsam rollte sie ihn zwischen den Fingern. In Hinsicht auf Magiere gab es kaum etwas zu berichten, aber sie befanden sich schon seit einer ganzen Weile in Dröwinka. Sie konnte zumindest ihre Eindrücke hinsichtlich Klima und Land festhalten.
Wynn stand auf, sah zu Magiere und lächelte. »Ich glaube, ich schreibe ein wenig.«
Magiere nickte. »Leg dich anschließend schlafen. Und bleib dem Feuer nah. Hier werden die Nächte sehr kalt.«
Wynn holte ihre Sachen, trat mit der Lampe und dem Kristall in der Hand ein wenig zur Seite und nahm auf dem Stamm eines umgestürzten Baumes Platz. Dort rieb sie den Kristall zwischen den Handflächen und legte ihn in die Lampe zurück, wo er zu leuchten begann. Sein Licht drängte die Dunkelheit zurück und fiel auf die Schreibutensilien in ihrem Schoß.
Sie öffnete ein gefaltetes Lederbündel, suchte unter den losen Pergamenten darin nach einem leeren Blatt, schraubte das Tintenfässchen auf und tauchte den Federkiel hinein. Sie machte sich daran, die Vegetation von Dröwinka zu beschreiben, mit Hinweisen darauf, wo es auf ihrem Weg zu Veränderungen gekommen war, damit später den Karten von diesem Gebiet entsprechende Anmerkungen hinzugefügt werden konnten. Wynn hatte kaum mehr als einige wenige Zeilen geschrieben, als Leesils Stimme die Stille brach.
»Bei den vergesslichen Göttern, Wynn!«, rief er. »Die Lampe ist heller als das Feuer. Mach das Licht aus, damit wir schlafen können.«
Wynns Schreibhand zitterte, und ein Tintenklecks verschmierte mehrere Zeichen.
Sie sah zur anderen Seite des Lagerplatzes und stellte fest, dass sich Leesil und Magiere unter ihrer Decke zur Seite gerollt hatten, blickte dann wieder auf ihr Pergament hinab. Den ganzen Tag hatte es nichts als Eile gegeben, und jetzt, während der wenigen nützlichen Momente am Abend, musste sie sich auch noch mit dem Schreiben beeilen.
»Entschuldigung!«, rief sie zurück.
Sie nahm ihre Dinge zusammen und dämpfte das Licht, indem sie die Klappe der Lampe schloss.
Als Wynn in ihren Schlafsack schlüpfte, lösten sich zwei Tränen aus ihren Augen. Etwas stieß gegen ihre Füße, und sie blickte über den Rand der Decke.
Chap lag zu ihren Füßen, und der Schein des Feuers gab seinem Fell einen rötlich-goldenen Ton. Er sah sie an, mit Mitgefühl in seinen hellen Augen. Sein Schwanz schlug einmal auf den mit Fichtennadeln und Laub bedeckten Boden.
Wynn hob die Decke, und sofort kroch Chap neben sie und legte den Kopf an ihre Seite. Sie schlang die Arme um ihn und grub die Finger in sein dichtes Fell. Chap ließ sie wenigstens nicht allein.
Seit Beginn seiner neuen Existenz als Edler Toter hatte Chane nie echten Hunger kennengelernt. Nie zuvor war er gezwungen gewesen, ganze zwei Wochen auf Nahrung zu verzichten. Er sehnte sich nach warmem Blut, als er im Gebüsch hockte, nur einen Steinwurf von einigen Hütten entfernt.
Als er erwacht war, hatte sich Welstiel auf dem Boden hin und her gewälzt und wieder im Schlaf geflüstert. Daraufhin hatte Chane beschlossen, auf die Jagd zu gehen, um nicht erneut eine ganze Nacht diese Leere ertragen zu müssen. Und so war er aufgebrochen, während sein Begleiter im Dämmern träumte.
Alle Sinne weit geöffnet, roch er lebendes Fleisch … und Blut. Beides befand sich in der Nähe, in den strohgedeckten Hütten. Der Geruch erfüllte ihn mit Erinnerungen an Haut, von seinen Zähnen zerrissen, und salzig schmeckendes Blut, das ihm durch Mund und Kehle strömte, begleitet von einem Herzschlag, der immer langsamer wurde und schließlich ganz aufhörte, während die Kraft des Lebens mehr und mehr auf ihn überging.
Sollte er warten, bis jemand aus einer der Hütten kam, um Feuerholz zu holen oder noch einmal nach den Gänsen im Pferch weiter hinten zu sehen? Und wenn niemand kam?
Eine Tür öffnete sich knarrend, und ein beleibter Mann trat nach draußen und nahm einige Scheite vom nahen Holzstapel. Chane spannte die Muskeln, aber die fast schrille Stimme einer Frau erklang und rief den Mann zurück.
»Mach die Tür zu, Evan! Du lässt die Kälte herein.«
Die Tür schloss sich wieder.
Chane hatte nicht die besonderen geistigen Fähigkeiten seines Herrn Toret entwickelt, aber er war in der Lage, die »Präsenz« anderer zu lokalisieren, wenn er sich konzentrierte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Hütte und fühlte die Leben von fünf Sterblichen. Es waren zu viele Personen an einem Ort, und deshalb wandte er sich der nächsten Hütte zu. Darin befanden sich nur zwei.
Er ging zur Tür und klopfte an. Eine greise Frau mit einem Zopf aus grauem Haar öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah nach draußen. Chane schlang die Arme um sich, als wäre ihm kalt.
»Verzeiht mir, alte Mutter«, sagte er, »aber mein Pferd hat mich vor einer halben Meile abgeworfen, als ich auf dem Weg zum nächsten Ort war. Vor Einbruch der Nacht konnte ich kein Gasthaus finden. Ich habe nach dem Weg gefragt, und Evan meinte, ich sollte dich um eine späte Mahlzeit und einen Platz am Feuer bitten.«
Der Blick ihrer braunen Augen war scharf, aber mit seinem langen, maßgeschneiderten Mantel und den guten Stiefeln war er ganz offensichtlich kein Räuber. Chane hoffte, dass sie ihn für einen jungen Kaufmann hielt.
»In dieser Gegend gibt es kein Gasthaus«, erwiderte sie höflich. »Evan hat dich geschickt? Typisch für ihn. Der faule Kerl kümmert sich ja kaum um seine eigene Familie.«
»Wer ist da, Großmutter?«, erklang eine Stimme im Innern der Hütte, jung und weiblich. In Chanes Kiefern zuckte es.
»Ein junger Mann, der sein Pferd verloren hat«, erwiderte die Alte und lachte kurz. Dann zog sie die Tür weit auf. »Komm herein. Wir geben dir zu essen, aber Evan und Olga müssen dich bei sich für die Nacht unterbringen. Meine Enkelin ist nicht verheiratet, und ich möchte nicht, dass die Leute über sie tratschen.«
So viele neue Empfindungen überraschten Chane in letzter Zeit. Wirklicher Hunger war etwas, das er bei Toret nie erfahren hatte, und jetzt erleichterte es ihn, eingeladen zu werden.
Das Innere der Hütte war schäbig, wie er erwartet hatte, doch der steinerne Kamin in der Rückwand bot angenehme Wärme, und der über dem Feuer hängende eiserne Teekessel weckte Erinnerungen an frische Pfefferminzblätter.
All diese Gedanken verließen ihn, als er die zweite Person in der Hütte sah.
Sie war etwa fünfzehn, mollig und kurvenreich, mit ein paar vereinzelten Sommersprossen und dichtem rotem Haar. Neugierig erwiderte sie seinen Blick.
»Soll ich Evan holen?«, fragte sie ihre Großmutter.
»Gleich, Adena. Erst wärmen wir den Eintopf auf.«
Die Alte bewegte sich nur mit Mühe, als hätte sie Schmerzen in Knochen und Gelenken. Chane wartete, bis sie den Kamin erreichte und dort neben dem Mädchen stehen blieb. Adena nahm einen Lappen und ergriff damit den Teekessel. Als Großmutter und Enkelin dicht nebeneinander standen, trat Chane hinter die Alte, packte ihren Kopf und brach ihr mit einem kurzen Ruck das Genick.
Ihre Leiche fiel zu Boden.
Adena ließ den Teekessel fallen, und Wasser spritzte auf ihre tote Großmutter. Chane hielt ihr den Mund zu und hinderte sie an einem Schrei.
Sie schlug um sich und versuchte sich aus dem Griff zu befreien. Ihr Haar roch nach Moschus und Stroh, bis die aus ihren Poren dringende Furcht alle anderen Gerüche überlagerte. Chane wollte, dass sie sich noch etwas länger zur Wehr setzte, um den berauschenden Duft der Angst zu genießen, aber er hatte zu lange auf den Geschmack von Blut verzichten müssen und verlor die Beherrschung.
Er drückte Adena an die Wand und biss in ihre Kehle. Seine spitzen Zähne rissen eine Wunde, und Blut floss ihm in den Mund und dann durch den Hals, schenkte ihm neues Leben.
Zuerst zappelte das Mädchen auch weiterhin, und Chanes Hand erstickte seine Schreie. Doch es dauerte nicht lange, bis Bewegungen und Schreie aufhörten. Normalerweise verlor sich Chane in Euphorie und schmeckte das Blut gar nicht, aber diesmal schien der Geschmack in ihm zu explodieren und bereitete ihm eine ganz neue Genugtuung.
Er drückte noch fester zu und trank, bis Adenas Herz nicht mehr schlug. Als sie starb, gab ihm ihr Blut kein neues Leben mehr, und er ließ die Leiche des Mädchens los.
Chane stützte sich an der Wand ab. Es fiel seinem Körper schwer, das neue Leben so schnell aufzunehmen. Ganz gleich, was mit Welstiel geschah – nie wieder wollte er gezwungen sein, so lange Zurückhaltung zu üben.
Derzeit erschien ihm seine ganze Existenz wie ein langer Weg des Gehorsams. Zuerst sein Vater, dann Toret und jetzt Welstiel. Beim Gedanken an seinen Vater, Viscount Andraso, schauderte Chane, obwohl ihn Wärme und Kraft aus dem Blut des Mädchens erfüllten.
Er war ein Meister der Masken. Alle außerhalb seiner Familie und des Gefolges fanden ihn reizend und hielten ihn für jemanden, der immerzu lächelte und ständig gute Laune hatte. Hinter verschlossenen Türen trug er ein anderes Gesicht. Seine einzige Freude bestand darin, andere zu beherrschen und grausam zu sein. Chanes Mutter, eine kleine, zarte Frau, liebte Bücher und Musik, und sie war Andrasos Lieblingsopfer. Chane liebte sie, doch jedes Jahr zog sie sich weiter in sich selbst zurück. Den Vater fürchtete er so sehr, dass er nie gewagt hatte, seine Mutter zu verteidigen, und deshalb fühlte er sich noch immer schuldig. Am Tag seiner Erbschaft war er nach Bela geflohen, um dort ein neues Leben zu beginnen, ohne zu ahnen, welche neue Existenz ihn erwartete. Später erfuhr er, dass seine Mutter Selbstmord begangen hatte. Er kehrte nicht zu ihrer Beerdigung zurück.
Als Chane in der Hütte stand und sich kräftiger fühlte als seit Wochen, beschloss er, sich von Welstiel nicht am Gängelband führen zu lassen. Sie würden sich gegenseitig helfen, dagegen gab es nichts einzuwenden, aber die Entscheidung, seinen Anweisungen nachzukommen oder nicht, lag allein bei ihm.
Er ließ Großmutter und Enkelin dort zurück, wo sie lagen, verließ die Hütte und ging durch den dichten Wald. Mit ein wenig Glück wälzte sich Welstiel noch immer auf dem Boden und sprach leise in seinem Traum. Chane fragte sich, was für ein Geschöpf Welstiel war. Edle Tote mussten während eines Mondes vier- oder fünfmal Nahrung zu sich nehmen, um bei Kräften zu bleiben, und sie träumten nicht, soweit Chane wusste.
Er verabscheute die dauernde Feuchtigkeit dieses düsteren Waldes. Warum sollte jemand hier leben wollen? Er wandte sich in Richtung des alten Tempels, als plötzlich direkt vor ihm jemand in seinen Weg trat.
»Wo bist du gewesen?«, fragte Welstiel.
Chane hatte nicht einmal Welstiels Nähe gespürt. Sein Erscheinungsbild war nicht so makellos wie sonst, und das ungekämmte Haar hing ihm in wirren Strähnen über die Stirn. Sein Blick fiel auf Chanes Brust, und Abscheu zeigte sich in seinem Gesicht.
»Dein Hemd ist voller Blut.«
Chane senkte den Kopf und sah die vielen Flecken.
»Ich habe Nahrung gebraucht«, sagte er. »Andernfalls wäre ich dir morgen früh keine Hilfe gewesen.«
Welstiel starrte noch einen Moment auf das Blut und straffte dann die Schultern. »Hast du wenigstens die Leiche weggebracht?«
»Nein, ich habe die beiden Toten liegen lassen. Niemand hat mich gesehen, und bis morgen sind wir weit weg.«
»Zwei Tote?« Welstiel presste kurz die Lippen zusammen und blickte durch die Dunkelheit zum Dorf. »Welche Hütte?«
Chane hörte das Knarren von Leder, als Welstiel die behandschuhten Hände zu Fäusten ballte.
»Die zweite … auf der rechten Seite«, antwortete er.
Welstiel bahnte sich einen Weg durchs Dickicht, und Chane folgte ihm. Er öffnete die Tür und sah Chane wie ein ekliges Tier an.
»Ich kümmere mich um die Alte«, sagte Welstiel. »Du trägst das Mädchen – dein Hemd ist bereits voller Blut.«
Chane sah kaum einen Sinn darin, erhob aber keine Einwände. Er nahm Adenas Leiche und kehrte mit Welstiel in den Wald zurück. Auf halbem Weg zu der alten heiligen Stätte versteckten sie die beiden Leichen im dichten Gebüsch und bedeckten sie mit welkem Laub.
»Aasfresser werden sie finden, und niemand wird erfahren, was geschehen ist«, sagte Welstiel.
Chane unterdrückte seine Verachtung. Er war frei und ohne Herr, und die neue Kraft in ihm brachte geistige Klarheit. »Hast du festgestellt, wohin die Dhampir unterwegs ist?«, fragte er.
»Ja«, sagte Welstiel, ohne ihn anzusehen.
»Dann wechsele ich das Hemd … während du die Pferde sattelst.«
Welstiel antwortete nicht und stapfte durch die Nacht.