5
Vom vagen Schleier nächtlichen Dunstes umhüllt schien der Bergfried in den wenigen Jahrzehnten, seit Welstiel ihn zum letzten Mal gesehen hatte, um Jahrhunderte gealtert zu sein. Er stand unter den Zweigen einer Buche an der Baumgrenze und beobachtete zwei Männer mit Speeren, die auf dem Hof patrouillierten.
»Ist sie dort drin?«, fragte der in der Nähe hockende Chane. Mondschein fiel durch eine Lücke zwischen den Wolken und strich über sein bleiches Gesicht.
Welstiel nickte. Er sah sich im Wald um, die Sinne weit geöffnet, nicht nur für das, was die Augen wahrnahmen, sondern auch für Geräusche und Gerüche. Es machte ihn wachsam, dem Bergfried und damit dem Anfang so nahe zu sein. Magiere befand sich im Innern der Feste – da war er sicher –, doch ihn beunruhigte vor allem die Frage, wer sonst noch ein Interesse an diesem Ort hatte und welche anderen Besucher aus der Vergangenheit präsent sein mochten.
»Wir warten«, sagte er. »Bleib dicht bei mir, wenn sie erscheint. Andernfalls bin ich nicht in der Lage, dich vor ihr zu verbergen.«
Chane richtete einen erwartungsvollen Blick auf ihn und rechnete mit einem Hinweis darauf, wie er das bewerkstelligen wollte. Welstiel schwieg jedoch und beobachtete weiterhin den Bergfried.
Die beiden nicht besonders aufmerksamen Wächter gingen zusammen am Rand des Hofes entlang. Es waren zwei einfache Burschen, was darauf hindeutete, dass die Feste vielleicht von all jenen vergessen war, die wussten, was sich hier zugetragen hatte. Irgendwo hinter den steinernen Mauern wanderte Magiere umher, ohne etwas von den Geistern ihrer eigenen Vergangenheit zu ahnen. Welstiel wollte, dass sie unwissend blieb.
Als die Wächter hinter dem Stall außer Sicht gerieten, wirkte der alte Bergfried so unbewegt wie der Grabstein eines vergessenen heiligen Ortes. Diese Illusion von Frieden und Ruhe täuschte über einen lange zurückliegenden Wahnsinn hinweg, und Welstiels Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück …
Es war vor fast sechsundzwanzig Jahren geschehen. Welstiels Vater verschleppte Magelia aus ihrem Heimatdorf. Sie saß hinter Welstiel auf dem Pferd und hielt sich den ganzen Weg bis zum Bergfried an ihm fest. Ihre Schwester lief hinter ihnen her, soweit sie konnte, rief immer wieder voller Furcht und Zorn Magelias Namen.
Jemand liebt sie, dachte Welstiel ohne Gefühl. Jemand machte sich Sorgen um sie.
Und wenn schon – es spielte keine Rolle. Dadurch änderte sich nichts.
Lord Bryen Massing war groß, aber Welstiel hatte die eindrucksvolle Statur seines Vaters nicht geerbt. Ihre Gemeinsamkeiten beschränkten sich auf dunkelbraunes Haar, kantige Gesichter und den flachen Höcker auf dem Nasenrücken. Hinzu kam natürlich das gemeinsame Erbe. Es gab viele Unterschiede zwischen ihnen, und was vielen auffiel, die sie zusammen sahen: Welstiels Vater fehlten die weißen Stellen an den Schläfen.
Das Lord Bryen zugewiesene Lehen war primitiv im Vergleich mit anderen, die sie über die Jahre hinweg verwaltet hatten, mit einem schlichten Bergfried, einer Unterkunft für die Soldaten und einem Stall, nicht weit vom Dorf Chemestúk entfernt. An jenem Abend ritt Welstiel hinter seinem Vater auf den schlammigen Hof der Feste. Das Faktotum der Familie, Meister Ubâd, wartete dort auf sie.
Auf dem von Fackeln erhellten Hof herrschte rege Aktivität. Waffenknechte und einige zwangsverpflichtete Dorfbewohner waren damit beschäftigt, fünf große Wagen zu entladen. Sie hatten nicht nur Familiengepäck transportiert: Auf jeder Ladefläche ruhte eine große Kiste, die einem normal gewachsenen Menschen bis zur Brust reichte, bedeckt von einer Plane. Als die Männer den Lord und seinen Sohn kommen sahen, wurden sie nervös und beeilten sich zu sehr bei der Arbeit. Sie zogen eine Plane beiseite, und zum Vorschein kam eine der Kisten.
Sie bestand aus Eichenholz, zusammengehalten von Stahlbändern, und sie war nicht mit Seilen am Wagen festgebunden, sondern mit Ketten. Als zwei Wächter die Ketten lösten, heulte eine gedämpfte Stimme aus der Kiste: »Shaïrsnïsâg mi, na mi tâitägâg cräiùi ag shiùi ag chêr!«
Die Worte, die Welstiel hörte, klangen elfisch, waren aber kehliger, und er verstand sie nicht. Etwas knallte von innen gegen die eine Wand, und die Kiste ruckte nach rechts, stieß dabei gegen einen Wächter. Die Beine des Mannes wurden an die Seite des Wagens gedrückt, und mit einem deutlichen Knacken gaben die Knochen nach. Der zweite Wächter brachte sich mit einem Sprung vom Wagen in Sicherheit, während der erste schrie und halb auf das Hinterrad sank, die Beine zwischen der Kiste und dem Karren eingequetscht.
Meister Ubâd glitt zum Wagen – nichts deutete auf eine Bewegung der Beine unter dem dunklen Umhang hin.
»Narren!«, zischte er und achtete nicht auf die schmerzerfüllten Schreie des ersten Wächters. »Der Inhalt dieser Kisten ist mehr wert als euer Leben. Gebt gut Acht und bringt alle fünf Kisten in den Keller.«
Eine alte Ledermaske ohne Augenschlitze bedeckte Ubâds Gesicht. Nur der faltige Mund und das Kinn waren zu sehen. Wenn er sich bewegte, schimmerten im Schein der Fackeln sonderbare Zeichen und Symbole über seinen schwarzen Umhang.
Welstiel hörte unartikuliertes Knurren aus der Kiste, als die Männer sie vom Wagen zogen. Sie alle achteten darauf, Meister Ubâd nicht zu nahe zu kommen, der sie aufmerksam beobachtete. Der Wächter mit den gebrochenen Beinen wurde schnell fortgebracht.
Welstiel und sein Vater stiegen ab. Lord Massing hob Magelia vom Rücken des Pferdes und hielt sie am Handgelenk, um sie in die Feste zu zerren. Ihr welliges schwarzes Haar reichte bis zur Mitte des Rückens, und das blaue Kleid gab ihrer Haut den Ton von Elfenbein. Sie zappelte und versuchte sich loszureißen, aber der große Mann hielt sie mühelos fest und zog sie einfach hinter sich her.
Meister Ubâds knochige Hand bedeutete Welstiel, ihm zu folgen, als er zum Haupteingang des Bergfrieds glitt. Welstiel verabscheute es, jenem Wesen so nahe zu sein, aber ihm blieb keine Wahl.
»Lass mich los!«, rief Magelia.
Ein Teil von Welstiel konnte durchaus Mitgefühl empfinden, aber diese Frau war nur eine Bäuerin. Das aktuelle Geschehen wurde ihm immer unangenehmer. Sie betraten den Großen Saal, dessen Einrichtung nur aus einem alten Tisch, einigen wenigen Stühlen und staubigen Matten auf dem Boden bestand. Welstiel fröstelte in der Kälte. In diesem fremden Land war ihm immer kalt, und selbst drinnen legte er nur selten den Mantel ab.
Seit Welstiels Jugend und dem ersten Erscheinen von Ubâd in ihrem Leben kannte sein Vater kein derartiges Ungemach mehr. Lord Massing ließ die Frau los, streifte den Umhang ab und warf ihn auf den Tisch.
Magelia wich zur nächsten Wand zurück, und Ubâd drehte den Kopf, als könnte er sie selbst durch die Ledermaske ganz deutlich sehen.
»Werd nicht unvorsichtig, Bryen«, sagte er. »Sie darf nicht entkommen.«
Es ärgerte Welstiel, dass dieses Geschöpf so mit seinem Vater sprach. Welstiel nannte ihn natürlich »Vater«, aber alle anderen begegneten ihm mit angemessener Höflichkeit, auch Prinz Rodêk von den Äntes. Bei den Versammlungen der Adelshäuser wurde sein Vater als »Lord Bryen Massing« vorgestellt.
Ubâd zeigte Welstiels Vater nicht den gebotenen Respekt.
Verhutzelt, gesichtslos, Beschwörer der Geister von Toten – diese seltene Spezialisierung hatte ihm den Titel des Nekromanten eingebracht … Ubâds Fähigkeit zur Vorhersage war zumindest zweifelhaft. In Welstiels Augen war er kaum mehr als ein Bediensteter, und doch nahm er sich ein so vertrauliches Gebaren heraus.
Lord Massing hob die Hand zur Schläfe. Sein linkes Lid zuckte, als er einige leise Worte sprach.
Welstiel fragte nicht mehr, was mit ihm war. Inzwischen hatte er sich an die seltsame Angewohnheit seines Vaters gewöhnt, mit sich selbst zu reden. Ubâd zögerte nicht und glitt näher.
»Dein Sohn kann die Frau einsperren, bis alles vorbereitet ist. Du solltest ausruhen … schlafen … und kommunizieren.«
Bryen Massing starrte auf Ubâds Maske und nickte dann.
»Ja, kümmere dich hier um alles«, sagte er und wandte sich der Treppe ins Obergeschoss zu. Sein leerer Blick glitt kurz zu Welstiel. »Sperr die Frau im Keller ein und hilf Meister Ubâd.«
Lord Massing ging mit schweren Schritten die steinernen Stufen hoch und überließ Magelia seinem Sohn. Welstiel wollte sie nicht berühren, nicht einmal auf Anweisung seines Vaters; dass er sich um sie kümmern sollte, entsprach ganz und gar nicht seinem Wunsch. Er deutete zur anderen Treppe, die nach unten in den Keller führte.
»Geh«, sagte er.
Hinter der Furcht in Magelias dunklen Augen glühte Zorn, und sie war sehr aufmerksam und beobachtete alles um sie herum. Zum ersten Mal bemerkte Welstiel die Schönheit ihres Gesichts mit der langen, geraden Nase und den vollen Lippen, umrahmt von dichtem schwarzem Haar. Die Handgelenke und Finger waren so dünn, dass sie zerbrechlich wirkten. Er hatte Mitleid mit ihr, auf die gleiche Weise, wie jemand Mitleid mit einem Sack voller Kätzchen hatte, bevor sie in den Fluss geworfen wurden.
Er nickte in Richtung Treppe und trat einen Schritt auf Magelia zu. Sie wich von ihm fort, an der Wand entlang, und näherte sich der Treppe. Als sie die Stufen erreichte, wurde eine Kiste durch den Eingang des Bergfrieds gezogen, und Welstiel schaute zurück.
Es war nicht die Kiste, die die Beine des Wächters zerquetscht hatte. Diese sah aus wie ein Käfig und bestand aus Holzstreben, zwischen denen dicker Drillich gespannt war.
Als Welstiel hinter Magelia die Treppe hinunterging, hörte er, wie im Innern des Käfigs Flügel schlugen und über den Drillich strichen.
Spät am gleichen Abend ging Welstiel noch einmal in den Keller hinab und an den Türen der sechs kleinen Räume vorbei – Magelia befand sich hinter der ersten. Er blieb nicht stehen, schritt zur siebten Tür und betrat den Raum. Drinnen ging es ziemlich hektisch zu.
Die fünf Kisten waren abgeladen und hierhergebracht worden. Mehrere zwangsverpflichtete Dorfbewohner und einige Waffenknechte rückten sie zurecht und zogen die Planen von ihnen.
Zuerst nahmen sie sich die Kiste mit den Stahlbändern vor, in der sich ein besonders zorniges Geschöpf befand, und dann kam der Käfig mit dem geflügelten Geschöpf an die Reihe. Die dritte Kiste bestand aus Zedernholz, und in ihrem Innern herrschte Stille. Bei der vierten umgab ein Gerüst aus Eichenlatten eine Urne, groß genug für einen Menschen. Sie wog drei- oder viermal so viel wie die anderen, und wenn sie bewegt wurde, konnte man das Schwappen von Flüssigkeit hören. Selbst als die Kiste unbewegt dastand, vernahm Welstiel gelegentlich gluckernde Geräusche unter dem Leder, das die Urne oben verschloss.
Der fünfte Behälter erwies sich als besonders beunruhigend und faszinierend.
Er reichte einem normal gewachsenen Menschen etwa bis zur Hüfte und bestand aus Stahlplatten, an vielen Stellen angelaufen und geschwärzt. Als er abgesetzt wurde, stieg Dampf mit einem leisen Zischen vom Boden auf, und aus seinem Innern kam gelegentliches Kratzen, das zu einem Kreischen anschwoll und alle im Raum zusammenzucken ließ – Welstiel erbebte innerlich. Dann hörte es auf, und die Kiste stand still da.
Ein Dorfbewohner löste eine Kette, mit der der Behälter gezogen worden war, und dabei berührte seine Hand das verfärbte Metall. Wieder zischte es, und der Mann schrie, zog die Hand zurück und hob sie zum Mund. Er sank zu Boden und wimmerte, bis ihn der Tritt eines Waffenknechts wieder an die Arbeit brachte.
Welstiel verließ den siebten Raum. Vor der verschlossenen Tür von Magelias Zelle blieb er kurz stehen und ging dann die Treppe hoch.
Mehrere Tage und Nächte vergingen. Welstiel war zum Abendessen in den Großen Saal gekommen, als Gebrüll und Geklirr aus dem Keller drangen. Er eilte die Treppe hinunter und nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Ubâds heulende Stimme schlug ihm entgegen, bevor er die letzte Stufe erreichte.
»Er muss am Leben bleiben, ihr Narren!«
Welstiel lief durch den Tunnel und stellte fest, dass die Tür des siebten Raums einen Spaltbreit offen stand. Als er sie weiter öffnen wollte, fiel sein Blick durch die Lücke auf jemanden in der linken Ecke des Raumes.
Die Hände des Elfen ruhten reglos auf der Brust, die Finger vor Schmerz gekrümmt. Der Kopf war nach hinten geneigt, und die Augen starrten ohne zu blinzeln zur Decke hoch: große weiße Kugeln mit bernsteinfarbenen Pupillen. Der Mund stand offen, und darunter zeigte sich ein langer Schnitt in der Kehle, so tief, dass die Luftröhre zerrissen war. Es kam kaum Blut aus der Wunde, und die Leiche war zu blass für die eines Waldbewohners.
Ein gegen die vordere Wand des Raumes prallender Waffenknecht versperrte Welstiel plötzlich die Sicht. Er drückte die Tür auf.
In der Mitte des Raumes stand Ubâd hinter einem großen Messingbottich, die knochigen Hände zu Fäusten geballt.
»Steh auf!«, rief er. »Brich ihm die Beine, wenn es nicht anders geht.«
Der Wächter zog sich an der Wand hoch und wankte mit einer Eisenstange durch den Raum.
Inmitten der Reste der zerbrochenen Eichenkiste stand ein Mann, so schien es, und kämpfte gegen Lord Massing.
Bryens Gegner war dick und bucklig. Seine muskulösen Gliedmaßen ragten aus einem Rumpf, der doppelt so breit war wie der eines Menschen, aber nur zwei Drittel so hoch. Die buschigen Brauen und der Bart hatten die grobe Beschaffenheit von Rosshaar, und das Gesicht wirkte verquollen – die Augen konnte man kaum erkennen. Eiserne Bügel umgaben Hand- und Fußgelenke, doch die damit verbundenen Ketten waren gerissen.
Der Wächter näherte sich, holte mit der Eisenstange aus und schlug sie der Gestalt gegen die Beine.
Die Füße der gedrungenen Gestalt bewegten sich nicht einmal. Der Schlag mit der Stange blieb ebenso wirkungslos, als hätte er einer steinernen Säule gegolten. Ein dicker Arm schwang herum, traf den Wächter und schleuderte ihn mühelos zur Seite. Der Mann prallte mit dem Kopf voran gegen die Rückwand und sank mit gebrochenem Genick zu Boden. Die Eisenstange rollte fort.
Der Gefangene brüllte und zeigte dabei gelbe Zähne. »Mi ko’eag a’grùnn ta gowl shiûn ämbi’ shiú fuiliâ mi!«
Alles geschah in wenigen Sekunden, doch für Welstiel fühlte es sich wie eine halbe Ewigkeit an.
Bryen rammte dem Buckligen die Faust ins Gesicht, und Welstiel rechnete damit, dass der Gefangene zu Boden ging. Doch der zuckte nicht einmal zusammen, schlug seinerseits zu und traf Lord Massing am Brustbein. Bryen wankte, und sein Gegner packte ihn, hob ihn hoch. Welstiel sprang nach vorn und hob die Eisenstange auf, aber er wusste, dass er nicht rechtzeitig zur Stelle sein konnte.
Der Gefangene schmetterte seinen Vater zu Boden, und Welstiel fühlte die Wucht des Aufpralls als Vibration im Stein. Er zögerte voller Furcht – er hatte kaum Erfahrung im Umgang mit Waffen. Sein Fachgebiet war eine besondere Form des Beschwörens, die Erschaffung von Objekten und Werkzeugen. Was hätte er jetzt erschaffen oder rufen können, um seinem Vater zu helfen?
Die Luft im Raum geriet in Bewegung. Sie wirbelte Staub auf, und Welstiel blinzelte, als er nach dem Ursprung des plötzlichen Windes Ausschau hielt.
Ubâd schwebte über dem Boden, und sein dunkler Umhang flatterte um ihn herum.
Kleine, dunstige Windhosen bildeten sich in der Luft. Über ihnen erschienen durchsichtige Gesichter, verschwommen und von Kummer und Leid gezeichnet. Geister der Toten versammelten sich in der Nähe des alten Nekromanten, lösten sich dann einer nach dem anderen von ihm und huschten Bryens Gegner entgegen.
Der erste Geist bohrte sich in den Gefangenen. Er erzitterte, schlug aber weiterhin mit seinen großen Fäusten auf Bryen ein. Ein weiterer Geist drang in den Körper des kleinen, breiten Mannes ein, dann noch einer, und schließlich schrie er voller Schmerz.
»Hilf mir – jetzt!«, rief Ubâd. »Nimm ihm den Atem!«
Welstiel blinzelte kurz, bevor er verstand. Etwas so Einfaches – er hätte selbst darauf kommen sollen. Doch die Zauberei gehörte nicht zu seinen Stärken. Er streckte die gewölbten Hände aus, die Innenflächen einander zugewandt, und hob sie, bis er den Gefangenen zwischen ihnen sah. In Gedanken formte er die Linien, Formen und Symbole, legte sie vor das, was ihm die Augen zeigten, und begann mit einem leisen magischen Gesang.
Die Luft zwischen seinen Händen drängte nach vorn, aber er hielt sie wie ein kleines, zappelndes Tier fest. Er verabscheute es, Ubâd zu helfen, wollte jedoch seinen Vater retten.
Noch ein Geist traf den breiten Mann. Er öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam kein Laut daraus hervor. Der Gefangene schwankte und griff sich mit beiden Händen an den Hals.
Welstiel konzentrierte sich so sehr, dass er Kopfschmerzen bekam – seine Beschwörungen saugten dem Gefangenen die Luft aus den Lungen. Welstiels Vater musste sich nicht mehr verteidigen und nutzte die Gelegenheit zu einem wuchtigen Hieb an den Unterkiefer seines Gegners, während zwei weitere Geister in der buckligen Gestalt verschwanden.
Der Gefangene verdrehte die Augen, als er nach Atem rang, und er fiel zu Boden. Einen Moment später war Bryen auf ihm, griff nach den Ketten und zog damit die Arme seines Widersachers nach hinten.
»Lass ihn am Leben«, sagte Ubâd.
Welstiel beendete die Beschwörung. Sein Vater drückte den Gefangenen mit dem Bauch an den Bottich und zwang ihn, sich nach vorn zu beugen. Bevor Welstiel noch verstand, was geschah, schnitt Ubâd dem breiten Mann mit einem krummen Dolch die Kehle durch.
Der ungeschlachte Mann setzte sich verzweifelt zur Wehr, als er die Klinge fühlte, und Bryen legte sein volles Gewicht auf ihn. Das Blut des Gefangenen floss in den Bottich, und es dauerte nicht lange, bis er erschlaffte. Bryen richtete sich auf und ließ die Leiche zu Boden sinken.
Welstiel sah die Augen des Toten: Kleiner und dunkler als die des Elfen blickten sie leer zur Decke hoch. Die Lippen waren zusammengepresst, das Gesicht zu einer Grimasse erstarrt. Blut verklebte den dichten Bart bis hin zur Brust.
»Gut gemacht, mein Sohn«, sagte Bryen. »Der Zwerg hat uns weitaus mehr Schwierigkeiten gemacht, als wir erwartet haben.«
Welstiel begriff plötzlich, was gerade geschehen war, und er hatte das Gefühl, dass von Bryens anerkennendem Blick eisige Kälte ausging. Lord Massing führte ein unnatürliches Leben, doch dieses gedankenlose Vergießen von Blut schockierte Welstiel. Das vor ihm stehende Etwas, das ihn leidenschaftslos lobte, war weniger sein Vater als jemals zuvor.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, drängte Ubâd. »Es hat begonnen, und das bedeutet: Wir müssen die Vorbereitungen sofort vollenden.«
Bryen warf dem Nekromanten einen verärgerten Blick zu, nickte aber. Ohne ein weiteres Wort zu Welstiel ging er zu der käfigartigen Kiste mit den Drillichplanen. Dort zog er seinen Dolch und schnitt eine Seite auf. Der Stoff gab nach und fiel zur Seite.
Welstiel sah die Gefangene.
Sie wirkte sehr zart und war nicht mit eisernen Schellen gefesselt, sondern mit Lederriemen. Voller Furcht hatte sie sich in der hinteren Ecke zusammengekauert, aber Welstiel wusste, dass sie ihm stehend kaum bis zum Brustbein gereicht hätte.
Mit ihrer schlanken Geschmeidigkeit schien sie das genaue Gegenteil des breiten, schwerfälligen Zwerges zu sein. Selbst neben dem toten Elfen hätte sie zart gewirkt. Ihre beiden Augen, voller Entsetzen aufgerissen, waren ohne Iris und ganz schwarz wie die eines Spatzen. Die dunklen Ringe darunter zeigten, dass sie seit Tagen nicht geschlafen hatte. Von den schmalen Füßen bis zum Kopf mit dem fedrigen Haar: Alles an ihr schien flaumig zu sein, bis auf einige Stellen, an denen der Flaum abgescheuert war – dort zeigte sich cremefarbene Haut.
Die aus ihrem Rücken ragenden grau und weiß gefleckten Flügel waren am unbedeckten Oberkörper festgebunden. Bei der ersten Begegnung mit dieser Kiste im Saal hatte Welstiel ihre Versuche gehört, die Schwingen aus den Fesseln zu lösen.
Bryen ergriff sie an den zusammengebundenen Handgelenken, zog sie aus dem Käfig und hielt sie hoch erhoben, als er sie zum Bottich trug.
»Du solltest gehen«, sagte Ubâd zu Welstiel. »Hier gibt es noch viel zu tun, und du hast genug gesehen.«
Welstiel wollte sich seinem Vater nähern, aber der Nekromant glitt ihm in den Weg und folgte dann Bryen durch den Raum. Welstiel kam sich plötzlich ausgeschlossen und allein vor.
Er wandte sich zum Gehen. Hinter ihm erklang ein verzweifelter Schrei und endete abrupt. Er dachte an Magelia in ihrer Zelle, die dies alles mit anhören musste, und senkte den Blick, als er an ihrer Tür vorbeikam.
In seinem Zimmer verriegelte Welstiel die Tür und nahm an einem kleinen Schreibtisch Platz, der von drei tanzenden Lichtern in einer Kugel erhellt wurde. Dort verbrachte er den Rest einer schlaflosen Nacht. Mit geschlossenen Augen saß er da und zuckte zusammen, als zwei weitere Schreie aus dem siebten Raum im Keller drangen und durch den Bergfried hallten.