8

Am nächsten Morgen überraschte es den Kapitän des Kahns sehr, dass sie an Land bleiben wollten, und er bot sich an, ihnen den größten Teil des Fahrgeldes zurückzuzahlen. Leesil nahm es, dankte ihm und half Wynn, ihr Gepäck von Bord zu schaffen. Dann schickte er sie mit dem Auftrag zum Gutshaus zurück, all das vorzubereiten, was sie brauchte, um Vordana zu finden.

Magiere hoffte, Vordana im Wald zu stellen, aber sie verließen sich nicht darauf und verbrachten den Morgen in Pudúrlatsat, um mit den Örtlichkeiten vertraut zu werden. Bei dem Anblick von ins Leere starrenden Menschen und dürren Tieren wünschte sich Leesil, sie hätten den Kahn am vergangenen Abend gar nicht verlassen. Überall außerhalb des Gutes begleitete ihn Müdigkeit. Sie kehrten zu Stefans Haus zurück, um bis zum Abend neue Kraft zu schöpfen, denn sie vermuteten, dass Vordana nur nachts unterwegs sein konnte. Solange Wynn keine Gründe nannte, die dagegen sprachen, wollten sie so vorgehen wie bei den anderen Jagden auf Untote.

Geza gab ihnen Armbrustbolzen, und Leesil erhitzte Knoblauchwasser in einem Topf. Die ältere und recht beleibte Köchin war über den ungebetenen Gast in der Küche verärgert und warf ihm immer wieder böse Blicke zu. Leesil bot ihr sein bezauberndstes Lächeln, ohne Erfolg. Als das Knoblauchwasser fertig und nicht mehr so heiß war, legte er die Bolzen hinein und sagte der Köchin, dass sie sie darin liegen lassen sollte. Er füllte kleine Flaschen mit Öl und bereitete Fackeln vor, ging dann zu Wynn, um zu sehen, wie sie vorankam. Sie saß im Saal am Tisch, las dort in ihren Tagebuchaufzeichnungen und einigen entrollten Pergamenten. Chap, Magiere und Schatten leisteten ihr Gesellschaft.

Der Saal war ein angenehmer Ort, wenn Leesil für einen Moment vergaß, was auf sie wartete. Im Kamin loderte ein Feuer, und es gab frischen Minztee und Brot. Leesil bediente sich.

»Hast du etwas gefunden?«, fragte er.

Magiere seufzte. »Nichts, das uns weiterhelfen könnte.«

Wynn wölbte eine Braue und schürzte die Lippen, als hielte sie eine Antwort zurück. Ihre Aufmerksamkeit galt Leesil, als sie sagte: »Beschwörer können einen Geist binden, aber der Körper bleibt tot. Ich glaube, Vordanas Körper ist vor allem ein Gefäß für den Geist. Was bedeutet, dass er vielleicht nicht von Dauer ist. Nach Stefans Beschreibungen erneuert sich Vordanas Körper nicht wie der eines Vampirs, aber es bedeutet vielleicht auch, dass es bei ihm nicht genügt, den Kopf abzuschlagen.«

Leesil kaute ein Stück Brot und beugte sich näher zu Wynn und den Unterlagen vor ihr. Die Schriftsprache kannte er nicht. Ein Pergament zeigte sonderbare Diagramme und Symbole und eine Liste mit einem belaskischen Wort: Dhampir.

»Er könnte auch ohne Kopf existieren?«, fragte Leesil.

Einige braune Strähnen hatten sich aus Wynns Zopf gelöst und hingen seitlich an ihrem Gesicht herab. »Ich weiß es nicht genau. Vielleicht würde der Verlust des Kopfes nur dazu führen, dass sich sein Sehvermögen vom Körper trennt, wodurch ihm die Orientierung schwerfiele.«

Magiere rieb sich die Stirn. »Warum hast du das nicht früher gesagt?«

Wynn atmete tief durch. Einige Sekunden schwieg sie, und als sie schließlich antwortete, sprach sie mit erzwungener Ruhe. »Weil ich eigentlich keine Ahnung habe, was Vordana ist! Dies alles sind nur Mutmaßungen.«

»Was ist mit Knoblauch?«, warf Leesil ein.

Eigentlich ging es ihm nur darum, die beiden Frauen abzulenken, um zu vermeiden, dass sie durch Frust und Müdigkeit aneinandergerieten. Wynn zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf, und Leesil trank einen Schluck Tee. Eins musste er der jungen Weisen lassen: Sie hatte inzwischen gelernt, besser mit Magieres Temperament fertig zu werden.

»Das größte Problem besteht darin, dass Vordana dir und mir die Kraft nehmen wird, wenn er uns sieht«, sagte Wynn. »Magiere und Chap scheinen davon weniger betroffen zu sein.«

»Ja«, sagte Magiere. »Und ich möchte nicht, dass ihr beide etwas gegenübertretet, das ihr nicht bekämpfen könnt.«

»Denk nicht einmal daran, dir Vordana allein vorzuknöpfen«, warnte Leesil.

Wynn rollte ihre Pergamente sorgfältig zusammen und schob sie nachdenklich in einen ledernen Zylinder, den sie zu ihrem Gepäck auf den Boden legte.

»Vordana hat Stefans Frau und ihren Sohn relativ schnell getötet, aber das erforderte wahrscheinlich Konzentration. Andererseits … auch das ist nur eine Vermutung. Wenn Magiere und Chap ihn sofort zum Kampf stellen können, erhält er keine Gelegenheit, sich auf Leesil und mich zu konzentrieren, und dann kommt Leesil vielleicht nahe genug an ihn heran.«

»Klingt gut«, kommentierte Leesil. »Ihr braucht mir nur zu sagen, wann und von wo er kommt.«

Die junge Weise schloss ihr Tagebuch und rieb mit dem Daumen über den Buchrücken. Nachdenklich blickte sie auf den Tisch.

Leesils Wachsamkeit wuchs, als er Wynn so in Gedanken versunken sah. Bevor er etwas sagen konnte, kam Elena mit einer Tasche herein, die sie in beiden Händen hielt.

Sie trug ein frisch gebügeltes waldgrünes Kleid, und ihr weizengelbes Haar wogte bei jedem Schritt. »Bitte entschuldigt, dass ich erst jetzt komme«, sagte sie. »Ich habe den ganzen Tag gebraucht, um das Geld zu sammeln.«

Magiere sah auf. »Um das Geld zu sammeln? Was soll das heißen? Stefan bezahlt uns aus eigener Tasche.«

Elena sah sie verwirrt an. »Stefan hat kein Vermögen. Was Lady Byanka ihm hinterließ, kann er nicht erreichen, solange er in diesem Haus gefangen ist. Ein kleiner Teil der Steuern wird für den Unterhalt des Anwesens verwendet. Euer Honorar stammt aus dem für Vorräte bestimmten Haushaltsgeld, aber keine Sorge, Korn und gemahlenen Hafer haben wir genug. Heute Morgen hat er außerdem zwei Pferde auf dem Markt eines benachbarten Ortes verkaufen lassen. Der Rest des für euch bestimmten Geldes stammt von den Leuten in Pudúrlatsat. Man hat ihnen von euch erzählt, und sie waren sofort bereit, einen Beitrag zu leisten.«

Elena klang weder bitter noch verärgert, als sie alles so zu erklären versuchte, als hätte sie einen Fehler gemacht. Die Dhampir war gekommen, um sie zu retten, und Elena war so dankbar, dass sie wenn nötig den ganzen Winter nichts als Haferbrei gegessen hätte.

Leesil drehte den Kopf, weil er es nicht ertragen konnte, Elenas Blick zu begegnen. Wie es der Zufall wollte, sah er zu der Karaffe mit Rotwein auf einem Beistelltisch. Er brauchte seine ganze Willenskraft, um nicht aufzustehen, durch den Raum zu gehen und sich einen Becher mit Wein zu füllen. Ein kurzer Blick von Magiere genügte als Aufforderung, und er nahm die Tasche von Elena entgegen.

»Wie viel hat Stefan für die Pferde bekommen?«, fragte er.

»Er hat seinen Kriegshengst und ein Reitpferd verkauft. Vierzig Silberschillinge oder etwa neun Taler. Genügt es nicht?«

Mit den Preisen von Pferden kannte sich Leesil kaum aus, aber für seine Ohren klang es nach weniger als der Hälfte des wahren Wertes solcher Tiere. Er zählte von dem Geld vierzig Schillinge ab und reichte die Tasche dann Elena.

»Kauf richtiges Essen für euch und gib den Rest den Leuten im Ort zurück.«

»Aber die Dhampir hat gesagt …«

»Schon gut.« Leesil legte die Münzen in seiner Hand auf den Tisch. »Dies genügt.«

Elena betrachtete den Haufen und sah dann Leesil an. Verwirrt runzelte sie die Stirn, nickte und verließ den Saal mit der Tasche.

Leesil wandte sich mit einem halbherzigen Lächeln an Magiere. »Immer das Gleiche.«

»Ja.« Magiere seufzte leise und stand auf. »Die Sonne geht unter, und wir sollten zum Rand des Ortes gehen. Wynn, ich möchte, dass die Leute nichts von alldem bemerken, wenn es geht.«

»Natürlich«, pflichtete ihr die junge Weise bei. »Aber ich kann erst feststellen, wo Vordana erscheinen wird, wenn ich ihn spüre.«

Leesil streifte sein nietenbeschlagenes Lederhemd über, schnallte die Scheiden der Klingen um und beobachtete, wie sich Magiere vorbereitete. Sie zog ihre eigene Lederrüstung an und vergewisserte sich, dass sie das Falchion leicht aus der Scheide ziehen konnte. Das schwarze Haar war hinten mit einer Lederschnur zusammengebunden, und der flackernde Feuerschein ließ es hier und dort rot glänzen. Leesil hätte sie gern noch etwas länger auf diese Weise beobachtet. Ihnen standen zwei Armbrüste zur Verfügung, und er reichte die kleine Wynn.

»Bind sie dir auf den Rücken, nur für den Fall. Ich hole die Bolzen. Wir treffen uns draußen.«

Sie verließen das Anwesen in Richtung Pudúrlatsat. Als sie sich dem Ort näherten, blieb Wynn auf der Straße stehen, die zur Anlegestelle am Fluss führte, und ging in die Hocke. Sie rollte den aus einer Kaltlampe stammenden Kristall zwischen ihren zitternden Händen, bis er zu leuchten begann, legte ihn zusammen mit ihrer Armbrust auf den Boden.

Es gab so viel zu bedenken, was sie in früheren Jahren gehört und gelernt hatte. Sie erinnerte sich an Theorien und Beschreibungen aus dem Unterricht bei der Gilde ihres Heimatlandes. Es war kaum mehr, als alle Lehrlinge und Novizen der Gilde lernten, und in den meisten Fällen fehlte der praktische Aspekt. Wynns Wissen war vor allem theoretischer Natur, und sie hoffte, dass es genügte.

»Ich muss mich konzentrieren«, sagte sie. »Es gilt, mein Sehvermögen auf das Element des Geistes zu richten, das diesen Ort durchdringt. Nur dann kann ich feststellen, ob es zu Veränderungen kommt.«

Eine sehr vereinfachte Erklärung. Sie wünschte, es wäre so simpel gewesen.

»Nur zu«, sagte Magiere. »Wir halten Wache.«

Wynn ballte die Hände zu Fäusten, damit sie nicht mehr zitterten.

Ein Ritual war die sicherste Methode, da sie nicht die Erfahrung hatte, alle Symbole in ihren Gedanken festzuhalten wie bei einer Zauberformel. Sie kratzte das Zeichen des Geistes in den Boden, umgeben von einem großen Kreis, kniete dann innerhalb des Kreises und zog einen kleineren um sich. Zwischen den beiden Kreisen fügte sie Siegelsymbole hinzu.

Reglos hockte sie da, verdrängte ihre Ungewissheit und ließ die Symbole, die sie in den Boden geritzt hatte, auch vor dem inneren Auge erscheinen. Sie senkte die Lider und legte die Hände darauf.

Innerlich öffnete sie sich den Zeichen, nahm ihre Essenz in sich auf. Sie stellte sich vor, sie einzuatmen, sie durch die Hände in ihre Augen fließen zu lassen. In der Dunkelheit hinter den gesenkten Lidern erschienen die Symbole und flogen auf sie zu … in sie hinein … erreichten den Kern ihres Wesens und ließen ihn erbeben. Die Zeit dehnte sich, bis Wynn nicht mehr wusste, wie lange sie schon auf dem Boden kniete. Sie wiederholte den Vorgang immer wieder und fühlte schließlich, wie Gesicht und Augen zu prickeln begannen.

»Wynn?«

»Pscht … Lass sie, Leesil.«

»Es dauert zu lange«, sagte er.

Wynn sackte in sich zusammen und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab. Dann öffnete sie die Augen.

Ein vager Dunst lag auf allem, was in der Nacht zu sehen war, wie eine Mischung aus Weiß und Blau. Er glühte, und sein Licht durchdrang alles, schien ihr eine zweite Welt zu zeigen, die sich über die erste gelegt hatte. Im toten Holz der Gebäude verblasste das Glimmen und hinterließ schattige Mulden in den Formen von Hütten, Läden und Schuppen. In der Nähe des Bodens gewann es an Intensität und wurde noch stärker in ihren Händen. Wynn blickte durch den Wald, und der geisterhafte Nebel verwandelte sich in ein Netz, das durch Zweige, Blätter und Nadeln von Bäumen und Büschen reichte.

Doch auch dort bemerkte sie ein Nachlassen des Glühens, wie bei den Gebäuden des Ortes.

Ein naher Baum mit kahlen Ästen hatte fast seinen ganzen inneren Glanz eingebüßt und wirkte wie ein Skelett aus Schatten – er war fast tot. Wynn schluckte, atmete tief durch und kämpfte gegen Übelkeit an.

»Hat es geklappt, Wynn?«, fragte Leesil. »Kannst du etwas erkennen?«

Sie drehte sich halb um, und Leesils Anblick erstaunte sie. Er schimmerte wie ein von innen leuchtender Geist. Am hellsten schien er dort, wo seine dunkle Haut unbedeckt war, am wenigsten an jenen Stellen, wo sich sein Körper unter dem Lederhemd und dem Rest der Kleidung verbarg. Seine bernsteinfarbenen Augen glitzerten wie Edelsteine im Sonnenschein, so hell, dass ihr Licht Wynn fast blendete.

»Ja …«, antwortete sie. Das Sprechen fiel ihr schwer. »Ich kann sehen.«

Leesils Strahlen verschwamm ein wenig.

Wynn setzte sich auf, obwohl ihr dadurch wieder übel wurde. Sie blickte Richtung Wald und dann zum Ort an der Straße. Nichts veränderte sich.

Dann bemerkte sie es erneut. Ein leichtes Wogen im glühenden Dunst – er bewegte sich.

»Vordana … er kommt«, brachte sie hervor.

»Wo?«, fragte Magiere hinter ihr.

Wynn drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und versuchte festzustellen, woher das Wogen kam und in welche Richtung es ging. Es wurde allmählich stärker, und die einzelnen Strömungen führten in die gleiche Richtung.

»Richtung Osten«, sagte sie und hörte Chaps leises Knurren. »Er kommt aus dem Wald jenseits des Ortes.«

»Leesil, lauf durch den Ort und versuch an ihm vorbeizukommen«, sagte Magiere. »Chap und ich locken ihn zur Straße und versuchen, ihn auf dieser Seite der Brücke zu stellen. Wir lenken ihn ab, bis du von hinten kommst. Wynn, bleib hinter Chap und mir außer Sicht.«

Wynn griff nach den dunklen Konturen der Armbrust.

Die Strömungen des Nebels veränderten sich.

Sie führten noch immer nach Osten, entlang der Straße nach Pudúrlatsat.

»Wartet«, sagte sie rasch. »Ich glaube … ich glaube, er kommt über die Hauptstraße.«

»Valhachkasej’â!«, fluchte Leesil leise. »Er will in den Ort. Kleine Änderung des Plans: Ich laufe nach Osten und versuche hinter ihn zu gelangen. Haltet ihn so lange beschäftigt.«

Wynn beobachtete, wie Leesil seine Fackel löschte und loslief. Sein Glühen vermischte sich mit dem Netz im Wald, und dann war er verschwunden.

»Das genügt, Wynn«, sagte Magiere. »Wir wissen, wo er ist. Komm.«

Wynn stand auf und trat aus dem Kreis.

Die Welt blieb eine Überlagerung geisterhafter und verschwommener Bilder. Es hätte in dem Moment aufhören müssen, als Wynn sich von den Symbolen im Boden abwandte, aber das war nicht der Fall.

Die Übelkeit nahm schlagartig zu. Erneut sank sie auf die Knie und übergab sich.

Zwei Hände ergriffen sie von hinten an den Schultern und zogen sie hoch.

»Was ist los?«, fragte Magiere.

»Es hätte vorbei sein müssen«, ächzte Wynn. »Aber es … hört nicht auf.«

»Schließ die Augen«, sagte Magiere. »Damit du nichts mehr siehst. Wir müssen jetzt los!«

Wynn wurde herumgerissen, noch bevor sie die Augen schließen konnte.

Glühende Bahnen strömten durch Magiere, wie bei Leesil, aber ihnen fehlte sein Glanz.

Und Magieres Essenz enthielt auch dunkle Linien, wie die des sterbenden Baumes. Schwarze Bänder reichten durch das blauweiße Schimmern, und …

Sie bewegten sich.

Wynns Hände schlossen sich fester um Magieres Unterarm. Ein eigenes Glühen ging von ihnen aus, das Licht ihrer Essenz, und es kroch über Magieres Haut. Wynn hob den Blick, fand aber nicht das bernsteinfarbene Schimmern wie bei Leesil.

Magieres Augen waren pechschwarz.

An jenem Abend erwachte Welstiel ohne das Gefühl der Desorientierung. Diesmal war seine Ruhezeit traumlos geblieben, und ohne eine Verzögerung erinnerte er sich an die Ereignisse der letzten Nacht.

Chane hatte eine große Plane besorgt, und als der Sonnenaufgang näher rückte, zogen sie sich in einen dichten Wald zurück. Er versteckte die Pferde, improvisierte ein Zelt aus der Plane und tarnte es mit Ästen und Zweigen.

»Mein Vater hat mich das gelehrt«, erklärte er. »Wenn wir auf der Jagd waren, haben wir oft im Freien übernachtet.«

Beim Erwachen hörte Welstiel das leise Knarren von Leder außerhalb des Zeltes und nahm an, dass Chane die Pferde sattelte. Trotz des ungestörten, friedlichen Dämmerns konnte er nicht den Erinnerungen entkommen, die beim Anblick des Bergfrieds seines Vaters in ihm aufgestiegen waren. Er saß im Zelt, hin- und hergerissen zwischen der Erleichterung über einen Moment der Einsamkeit und dem Wunsch nach Ablenkung von den eigenen Gedanken.

»Bist du wach?«, erklang draußen Chanes Stimme.

Welstiel verzog andeutungsweise das Gesicht. »Ja. Ich komme gleich nach draußen.«

Er schloss die Augen und versuchte, Ruhe in sich zu finden, doch die Verwunderung über den rätselhaften Weg, den Magiere eingeschlagen hatte, ließ ihn nicht los. Dies war die vierte Nacht, seit sie Chemestúk verlassen hatten, und Magiere reiste noch immer nach Osten.

Welstiel holte den Messingteller aus seinem Gepäck hervor und legte ihn mit der gewölbten Seite nach oben auf den Boden. Während er bestimmte Worte murmelte, schnitt er sich in den Stummel des kleinen Fingers und ließ einen Tropfen seines schwarzen Blutes auf den Teller fallen. Für einen Moment blieb er in der Mitte, rollte dann ein wenig zur Seite, nach Osten. Welstiel wischte das Messing ab und wiederholte den Vorgang, mit dem gleichen Ergebnis. Daraufhin verstaute er den Teller wieder und kroch aus dem Zelt. Chane stand bei den Pferden.

»Ist ein Dorf in der Nähe?«, fragte Welstiel. »Hast du die Gegend überprüft?«

»Östlich von uns steigt Rauch auf«, antwortete Chane. »Die Dhampir ist flussaufwärts unterwegs, und deshalb nahm ich an, wir würden uns in jene Richtung wenden. Stimmt was nicht?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Welstiel. »Ich glaube, Magiere hat erneut haltgemacht, nicht weit entfernt.«

Chane runzelte die Stirn und wartete auf Welstiel. Kurze Zeit später ritten sie wieder durch den Wald, und es dauerte nicht lange, bis Welstiel den ersten abgestorbenen Baum entdeckte. Und dann noch einen.

Schließlich ließen sie den Wald hinter sich zurück und sahen vor sich eine Siedlung am Fluss, fast groß genug, um die Bezeichnung Stadt zu verdienen. Die Hauptstraße führte direkt hindurch. Dünne Rauchfäden kamen aus einigen Schornsteinen, doch es waren zu wenige für diese kalte Zeit des Jahres.

Welstiel blickte über die Schulter zurück. In der Ferne, hinter dem Ort, war der Wald üppig und grün.

Chanes Pferd scheute und wieherte.

»Fühlst du es?«, fragte er. Der hochgewachsene Untote stieg ab und griff nach dem Zaumzeug. »Was auch immer sich hier befindet, es beeinflusst die Pferde.«

Bevor Welstiel antworten konnte, ertönte ein vertrautes Geräusch über die Straße: das in die Länge gezogene Heulen eines Hundes.

»Sie sind hier«, sagte Welstiel. »Auf der Jagd.«

Chane hatte sich schon wieder aufs Pferd geschwungen und trieb es an.

Magiere unterdrückte das Verlangen, um die Ecke des Ladens zu stürmen, hinter dem sie sich verbarg. Vorsichtig spähte sie dahinter hervor und sah die Gestalt über die Hauptstraße kommen. Leesil brauchte Zeit, um sich in Position zu bringen, und Magiere hoffte, wenigstens eine Gelegenheit zum Angriff zu bekommen, bevor Vordana reagierte.

Sie hatte dafür gesorgt, dass Wynn ein Stück entfernt hinter einem Wassertrog in Deckung gegangen war, und Chap wartete dort mit ihr. Der jungen Weisen war noch immer übel, doch derzeit konnte Magiere ihr nicht helfen. Sie hatte Chap gesagt, dass er sich gedulden solle, bis sie sich dem Gegner zeigte, und er hatte mit einem kurzen Knurren zu erkennen gegeben, dass er einverstanden war.

Hunger regte sich in Magieres Magengrube, unterschied sich aber von dem, den sie zuvor gefühlt hatte. Er entstand um einen kalten Kern und stieg in ihr nicht in Form einer heißen empor. Sie spürte, wie er sich ausdehnte, wie gleichzeitig die Nachtsicht besser wurde und ihr die Gestalt deutlicher zeigte.

Graue, verschrumpelte Haut hing über den Knochen von Gesicht und Händen. Schmutziges, verfilztes weißes Haar kam unter der Kapuze hervor. Altes Blut bildete dunkle Flecken auf dem weißen Hemd unter dem schmutzigen Mantel. Von der Messingphiole, die Stefan in seinen Schilderungen erwähnt hatte, war nichts zu sehen.

Unsicherheit erfasste Magiere, als ihre Wachsamkeit wuchs. Bei ihren bisherigen Kämpfen gegen die Untoten hatten die Schattenwesen immer versucht, im Verborgenen zu bleiben, doch diesmal zeigte sich ihr Gegner ganz offen. Sie hielt das Falchion in der einen Hand und die Fackel in der anderen, tief hinter sich. Von den Öltöpfen an der Kreuzung ging so viel Licht aus, dass sie hoffen durfte, sich nicht durch die Fackel zu verraten.

Sie blickte über die Straße nach Osten, doch von Leesil war weit und breit nichts zu sehen. Ob er sich dort befand oder nicht: Vordana war nur noch eine Gebäudelänge entfernt. Magiere wartete, zählte fünf weitere Schritte Vordanas und sprang dann hinter der Ecke hervor.

Chaps Heulen hallte durch die stille Nacht.

Vordana wandte sich in die Richtung, aus der es kam, und Magiere holte mit dem Falchion aus, zielte auf seinen Hals. Ohne einen Blick zurück trat er zur Seite, und die Klinge strich vor ihm durch leere Luft. Magiere schlug mit der Fackel nach der Brust ihres Gegners, und Vordana musste erneut ausweichen.

Aus der Nähe gesehen wirkten seine tief in den Höhlen liegenden Augen sehr trüb. Er starrte sie an und hob die Hand.

Chap stürmte herbei, sprang und schnappte nach dem ausgestreckten Arm. Vordana riss die Hand zurück, und der Hund fiel, rollte links von ihm über den Boden. Magiere näherte sich von rechts.

»Bleib auf der anderen Seite!«, rief sie Chap zu. »Gib ihm nicht die Möglichkeit, gleichzeitig gegen uns beide zu kämpfen.«

Hinter Vordana bemerkte Magiere kurz einen huschenden Schemen auf den Dächern. Das musste Leesil sein.

Sie drängte Vordana zurück, schwang Falchion und Fackel und trieb ihn zur rechten Seite der Straße. Chap blieb links, fletschte die Zähne und knurrte die ganze Zeit über. Magiere wusste nicht, wie lange sich der Hund noch zurückhalten würde.

Ein Schatten kam aus der Nacht. Magiere wusste, dass es Leesil war, aber sein Erscheinen lenkte sie trotzdem kurz ab.

Mit den Klingen in den Händen der ausgestreckten Arme sprang er vom Dach des nächsten Gebäudes, wie ein Vogel mit stählernen Schwingen. Er landete auf dem Boden, und beide Klingen stießen nach Vordanas Rücken.

Wieder wich die wandelnde Leiche sofort aus.

Leesils Klingen trafen den Boden, als ihn das Bewegungsmoment nach vorn trug. Seine Armbrust hing auf dem Rücken, und vorn glühte der Topas an der Halskette. Chap hörte auf zu heulen, griff von links an und schnappte nach dem Zauberer. Neuerliche Unsicherheit regte sich in Magiere. Das Geschick, mit dem Vordana ihnen auswich, ließ nur einen Schluss zu: Er folgte ihren Bewegungen nicht nur mit den Augen.

Zorn brodelte in ihr und schärfte ihre Nachtsicht – dies war nur ein weiterer Untoter. Neuer Hunger brachte ihr neue Kraft.

Vordanas totes Gesicht wandte sich ihr zu.

Magiere fühlte einen plötzlichen Schmerz, als griffe eine Hand in ihren Körper und risse etwas heraus. Plötzliche Mattigkeit folgte dem Stechen. Sie schüttelte sich und hielt an ihrem kraftspendenden Hunger fest, woraufhin das Gefühl verschwand.

Vordanas Augen wurden größer, und er wich einem weiteren Sprung des Hundes aus, ohne den Blick von Magiere abzuwenden.

Du … bist du das, worauf wir gewartet haben?

Magiere hörte die Worte, obwohl sich seine Lippen nicht bewegten. Sie schlug mit der Fackel nach seinem Gesicht.

Leesil drehte sich in der Hocke, trat nach den Beinen des Untoten und versuchte, ihn zu Fall zu bringen. Als Vordana zur Seite sprang, richtete sich Leesil auf und zielte mit einer Klinge nach seiner Kehle. Die Kreatur neigte den Kopf zur Seite, und die Spitze der Klinge schnitt durch die Kapuze.

Vordana drehte den Kopf wie eine Eule und sah Magiere mit überraschtem Interesse an.

Die ganze Zeit zu wachen … und so finden wir dich wieder. Du bist heimgekehrt, zu uns!

Er lächelte und zeigte schiefe gelbe Zähne in verfaulendem Zahnfleisch.

Magiere versuchte zu verstehen. Wer hatte gewacht und auf sie gewartet? Hatte Vordana das mit dem an Stefan gerichteten Hinweis gemeint, er würde hinter einer Marionette wachen?

Vordanas Blick ging zu Leesil.

Leesil schnappte nach Luft und sank auf ein Knie, und Magiere beobachtete, wie er am ganzen Leib erbebte. Er versuchte, mit einer Klinge zuzuschlagen, doch auch das andere Bein knickte ein.

Magiere sprang nach vorn, aber Chap war noch schneller, prallte gegen Vordana und warf ihn zu Boden. Der Untote hob einen Arm, um sich zu schützen, und Chaps spitze Zähne bohrten sich hinein. Sofort begann der Hund, mit aller Kraft zu zerren.

Magiere trat mit der Absicht vor, Chap zu helfen. Vordana griff nach einem Hinterbein des Hundes und schwang ihn in ihre Richtung.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als Falchion und Fackel zurückzuziehen, damit Chap nicht davon getroffen wurde, als er gegen sie prallte. Sie fielen beide zu Boden, und als sie sich voneinander lösten, wandte sich Vordana Leesil zu.

Angst um Leesil fegte Magieres Zorn fort, und sie sprang vor ihn. Im gleichen Augenblick setzte Chap zu einem neuen Angriff an und stürzte sich auf den Zauberer. Vordana blieb stehen, wich zurück und hob beide Hände, die Finger gekrümmt.

Chap verharrte plötzlich, blickte die Straße hinauf und hinunter und jaulte. Dann lief er über die Straße, erst in die eine Richtung und dann in die andere, und aus dem Jaulen wurde ein Knurren.

»Komm zurück, Chap!«, rief Magiere.

Der Hund schien sie nicht zu hören. Er drehte sich mehrmals und schien zwischen den Gebäuden nach etwas zu suchen. Mit einem klagenden Heulen stob er schließlich davon und nahm den Weg zum Gut.

Für einen Augenblick war Magiere vor Schreck wie gelähmt. Dann griff sie Vordana an und schwang ihr Falchion.

Er wich aus, und diesmal zeigte sich Sorge in seinem grauen Gesicht. Magiere schlug mit der Fackel zu, in der Hoffnung, dass sein Kapuzenmantel Feuer fing, aber wieder trat Vordana rechtzeitig einen Schritt zurück.

Dein Elf ist fast erledigt, und seine Kraft wird mich für eine ganze Weile nähren.

Magiere sah zu Leesil, der aufstand und nicht mehr ganz so mitgenommen wirkte wie noch vor wenigen Sekunden.

Sofort begriff sie ihren Fehler. Als sie herumwirbelte, war es schon zu spät. Vordana hatte sie beide im Blick.

Ein Prickeln strich über Magieres Haut. Ein seltsamer Gesang ertönte hinter ihrer Stirn und erfüllte sie mit einem Gefühl, das alles andere verblassen ließ.

Furcht.

Wynn stand mit weichen Knien da und rang mit ihrer Armbrust, noch immer schwindelig von dem blauweißen Dunst, der alles durchdrang, was sie sah. Chap war geflohen, und ihre Übelkeit hatte sie daran gehindert, Magiere und Leesil zu helfen, die dadurch in große Bedrängnis geraten waren. Beide schienen den Verstand zu verlieren. Leesil ließ seine Klingen fallen, drehte sich um die eigene Achse und starrte in die Nacht. Er wankte über die Straße und verschwand zwischen den Gebäuden.

Magiere wich von Vordana zurück und schien ihn überhaupt nicht zu sehen, als ihr Blick nach etwas suchte, das Wynn nicht erkennen konnte. Die junge Weise sah nur Vordanas Präsenz. Im Gegensatz zu dem sterbenden Mann mit einem Rest von vitaler Essenz in seinem Innern bestand Vordana nur aus Dunkelheit.

Die glühenden Essenzen der Welt trieben auf ihn zu, und wo sie ihn berührten, verschwanden sie wie Wasser in einem dunklen Loch. Blauweiße Ranken hafteten kurz an den schattenhaften Strängen in Magiere, lösten sich dann von ihnen und tasteten nach dem untoten Zauberer.

»Magiere!«, rief Wynn.

Vordana drehte sich zu ihr um.

Seine Augen waren ebenso schwarz wie die der Dhampir, noch finsterer als seine Gestalt. Er wirkte wieder ruhig und gelassen, und sein Lächeln kehrte zurück. Langsam trat er auf sie zu, und seine Stimme ertönte in ihrem Kopf.

Ein Leckerbissen … bevor ich mit der guten Nachricht heimkehre. Ich schmecke dich schon von hier!

Wynn hob die Armbrust und schoss. Sie versuchte, auf die Brust zu zielen, wie Leesil ihr geraten hatte, aber als sie den Abzug betätigte und die Sehne nach vorn zuckte, wackelte die Waffe in ihren Händen.

Der Bolzen bohrte sich Vordana ins rechte Auge, mit solcher Wucht, dass der Kopf zur Seite ruckte und das Geschoss die Schläfe durchstieß. Vordana schrie auf und griff nach dem Bolzen, als Dampf aus der Wunde kam und sein Gesicht umgab.

Wynn wartete nicht und rannte los. Sie hastete an den Gebäuden vorbei, ohne dass sich etwas an ihrer desorientierenden Sicht änderte, und fast wäre sie über eins der Dreibeine mit den Öltöpfen gestolpert. Die Flamme blendete sie für einen Moment – und plötzlich kam ihr eine Idee.

Magiere und Leesil bekämpften die Untoten auch mit Feuer.

Der eiserne Topf war so heiß, dass sie ihn nicht anfassen konnte. Er hing an einer Kette, schien aber zu schwer zum Hochheben zu sein, und es gab nichts in der Nähe, das sie mit Hilfe der Flamme hätte entzünden können. Wynn erinnerte sich an einen Ort, wo sie vielleicht etwas Nützliches fand.

Sie eilte weiter, zur Schmiede beim Gemeinschaftshaus. Bei ihrem Eintreffen am vergangenen Abend war Rauch aus den Schornsteinen gekommen. Wenn dort ein Schmied wohnte und arbeitete, mochten von der Tagesarbeit noch glühende Kohlen übrig sein. Wynn näherte sich der Tür und stellte erleichtert fest, dass sie nicht verriegelt war. Sie hörte Schritte dicht hinter sich, als sie die Schmiede betrat.

Chane trieb sein müde werdendes Pferd an und ritt durch den Wald zur flussabgewandten Seite des Ortes. Er hörte Chaps gespenstisches Heulen und brauchte freie Sicht, um zu erkennen, was geschah. Es war ihm gleichgültig, ob Welstiel ihm folgte oder nicht.

Das Bellen hörte auf.

Hier war das Gelände größtenteils flach, aber Chane fand eine kleine Anhöhe, die es ihm erlaubte, über die niedrigen Gebäude an der Kreuzung zu blicken. Als er von dort Ausschau hielt, präsentierte sich ihm eine bizarre Szene.

Magiere trug ihre Lederrüstung; mit einer Fackel in der einen Hand und einem Schwert in der anderen stand sie einer Gestalt gegenüber, die einen schmutzigen Kapuzenmantel trug. Chane konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf den Gegner der Dhampir, und was er wahrnahm, beunruhigte ihn.

Die Präsenz des Fremden war nicht leer wie bei Welstiel, aber es steckte kein Leben in ihm. Chane spürte keine Ähnlichkeit mit einem Angehörigen seiner Art, sondern eine tiefe Todesleere, der er nie zuvor begegnet war … zumindest nicht bei Geschöpfen, die sich noch bewegten.

Chap warf sich gegen die Beine des Fremden, brachte ihn zu Fall und biss ihn in den Arm. Leesil lag auf dem Boden, und Chane konnte nicht feststellen, ob er verletzt war. Plötzlich schleuderte das Geschöpf den Hund Magiere entgegen, die unter seinem Gewicht zu Boden fiel. Doch sowohl Chap als auch Magiere kamen sofort wieder auf die Beine. Der Untote war bereits aufgestanden, hob die Hände und deutete auf den Hund.

Chap drehte sich mehrmals und lief dann heulend über den landeinwärts führenden Weg davon. Als er außer Sicht geriet, stieg Chane ab, um sich das Geschehen aus der Nähe anzusehen. Magiere griff den Fremden erneut an, und Chane fand, was er suchte.

Wynn hockte hinter einem Wassertrog auf der anderen Straßenseite, mit einer geladenen Armbrust in den Händen. Als er zum Kampf zurücksah, zeigte der Untote auf die Dhampir, die vor dem Halbelfen stand.

»Magiere!«, rief Wynn.

In Chane schien sich jeder Muskel zu verkrampfen, als die junge Weise ihre Position preisgab.

Magiere und Leesil liefen in unterschiedliche Richtungen davon und verschwanden im Wald. Sie ließen Wynn zurück, und der Untote drehte sich um und sah sie an. Sie schoss mit der Armbrust.

Chane wollte zu Wynn laufen, aber etwas hielt ihn von hinten am Mantel fest.

»Nein«, sagte Welstiel.

Chane wirbelte herum und stieß Welstiels Hand weg. »Sie ist allein dort unten!«

»Die junge Weise hat mit dieser Sache nichts zu tun«, sagte Welstiel. Sein dunkler Mantel ließ ihn zu einer schwarzen Silhouette in der Nacht werden. »Magiere ist in Gefahr. Wir müssen ihr folgen.«

Wenn Wynn nicht so dringend Hilfe gebraucht hätte, wäre Chane bereit gewesen, sich auf Welstiel zu stürzen und ihn zu köpfen. Er wich zwei Schritte zurück, drehte sich um und lief zwischen den Häusern hindurch zur Kreuzung.

Bei den Öltöpfen blieb er stehen und sah sich um. Im Westen auf der Hauptstraße hörte er jemanden laufen und wandte sich in diese Richtung. Weiter vorn verschwand Wynn durch eine breite Tür im Innern eines Gebäudes, und der Untote war dicht hinter ihr. Die Luft in der Nähe des Gebäudes roch nach Holzkohle und Metall. Chane zog sein Schwert, als er die offene Tür der Schmiede erreichte.

Drinnen suchte das Geschöpf in den leeren Boxen auf der einen Seite nach dem Mädchen. In der Mitte des Raumes befand sich eine Esse aus Ziegelsteinen, und darin glühten Kohlen.

»Wynn!«, rief Chane. »Wo immer du bist, bleib unten!«

Die Gestalt im Kapuzenmantel drehte sich um.

Chane hatte es in seiner kurzen Zeit als Edler Toter mit so mancher Leiche zu tun gehabt, doch es war eine Weile her, seit er zum letzten Mal eine vom Verfall betroffene gesehen hatte. Der Armbrustbolzen, den Wynn in sein linkes Auge geschossen hatte, war fort und hatte ein dunkles Loch hinterlassen, aus dem Schleim auf die graue, runzlige Wange tropfte.

»Dir gefällt Magie?«, fragte Chane. »Komm und probier sie an mir aus.«

Es war reine Prahlerei, denn er wusste nicht, welche Art von Magie dieses Ding bei Magiere und Leesil benutzt hatte. Doch er selbst kannte auch den einen oder anderen Trick.

Der Untote betrachtete Chanes teuren Mantel und das Schwert, seine schrumpeligen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er kniff das eine Auge zusammen und konzentrierte sich. Für einen Augenblick spürte Chane ein Zerren in seinem Innern, doch das Gefühl verschwand sofort wieder.

Der Untote hörte auf zu lächeln.

Er musterte Chane von Kopf bis Fuß, und Chane beobachtete, wie sich sein Blick auf ein bestimmtes Objekt richtete: die deutlich sichtbare Messingkapsel, mit der er dienstbare Geister band.

Du glaubst, mir gewachsen zu sein … Vampir?

Die Worte erklangen zwischen Chanes Gedanken.

Chane hatte sich über Jahre hinweg mit diesen Dingen beschäftigt und wusste daher, dass es bestimmte Methoden der Beschwörung und Thaumaturgie gab, mit denen sich Gedanken projizieren ließen. Er zögerte kurz und fragte sich, wie er reagieren sollte.

Er hatte es mit einem Zauberer zu tun.

Und das bedeutete: Er war in ernsten Schwierigkeiten, und Wynn ebenfalls.

Chane sprang vor, schlug mit dem Schwert zu und griff auf die Lebensenergie zurück, die er in den vergangenen Nächten aufgenommen hatte – sie machte ihn schneller und stärker. Es galt, den Untoten zu köpfen. Das Geschöpf war nicht einmal überrascht und duckte sich unter der Klinge hinweg. Es schien im Voraus zu wissen, was er plante.

Der Fremde nahm einen schweren Schmiedehammer von der Wand und holte damit aus. Sein Kampfgeschick ließ zu wünschen übrig, aber Chane war trotzdem überrascht. Er wankte zurück und stieß gegen die Esse, stützte sich dort mit der einen Hand ab und berührte glühende Kohlen; er riss die Hand zurück.

Vielleicht brauchte das Geschöpf Zeit für seine Zauberei, wie es auch bei Chane der Fall war. Als es erneut unbeholfen zuschlug, wich Chane zurück, und seine Gedanken glitten in eine neue Richtung.

Sie formten scharlachrote Linien, und er murmelte magische Worte, stellte sich dabei vor, wie die Linien den Untoten umhüllten. Zuerst ein Kreis, dann ein Dreieck und in seinen Ecken Symbole und Zeichen, eins nach dem anderen. Ein imaginäres Diagramm entstand, mit dem Zauberer in seiner Mitte.

Er hörte das Lachen des Geschöpfs in seinem Kopf.

Ein Beschwörer? Und ich dachte, du könntest gefährlich sein.

Etwas hielt Chane fest. Er fühlte seinen Körper, der sich keineswegs versteift hatte, aber nicht mehr seinem Willen gehorchte.

Als das letzte Wort der Beschwörung von seinen Lippen kam, veränderte sich die Wahrnehmung durch das Diagramm in seinen Gedanken, und er schauderte.

Seine Perspektive wechselte. Er sah die Esse, die eigentlich hinter ihm sein sollte, und die Tür der Schmiede. Er sah sich selbst von der anderen Seite des Raumes, wie mit den Augen von jemandem, der ihm gegenüberstand.

Mit den Augen des toten Zauberers.

Eine Flamme elementaren Feuers züngelte unter ihm und nicht um die Füße seines Kontrahenten.

Das Geschöpf war in sein Bewusstsein gekrochen und hatte ihm die eigene Wahrnehmung gegeben, mit dem Ergebnis, dass sich Chanes Beschwörung gegen ihn selbst richtete. Seine Stiefel wurden heiß, und Feuer tastete nach dem Saum des Mantels.

Er konnte sich noch immer nicht bewegen.

Dann wurde das Gesicht des Zauberers plötzlich zu einer Fratze, und sein Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei.

Das Geschöpf griff nach hinten, dorthin, wo Dampf an seinem Rücken aufstieg.

Chane spürte, wie er die Kontrolle über seinen Körper zurückbekam. Er sank zu Boden und rollte sich durch den Schmutz, um die Flammen zu ersticken. Das von ihm selbst beschworene Feuer verschwand, aber die Hose über den dampfenden Stiefeln war angesengt. Er kam wieder auf die Beine und achtete nicht auf den Schmerz in den Füßen.

Wynn stand weiter hinter in der Schmiede, bei einer schmalen Werkbank, und hielt eine leere Armbrust in den Händen. Sie versuchte, die Waffe wieder zu laden, doch ihre Finger zitterten zu sehr, und sie blinzelte mehrmals. Ein Rasseln lenkte Chanes Aufmerksamkeit wieder auf seinen Gegner, der versuchte, sich einen qualmenden Bolzen aus dem Rücken zu ziehen.

Das Geräusch kam von der Messingphiole an seiner Halskette. Sie baumelte unter dem blutbesudelten Hemd des Zauberers hervor, als er sich hin und her wand.

Zauberei erforderte keine Beschwörungsgefäße. Warum trug der Fremde eins?

Chane griff spontan nach dem Mantel des Untoten und drehte ihn herum. Der Zauberer war vom Schmerz in seinem Rücken so abgelenkt, dass er nicht schnell genug reagierte, und Chane ergriff die Phiole. Mit einem Ruck zerriss er die Kette, und er warf die Phiole in die glühenden Kohlen der Esse. Die Pein im Gesicht des Untoten wich Entsetzen, als die Phiole zu schmelzen begann.

Nein! Ich kann nicht …

Mit ausgestreckten Händen lief der Zauberer zur Esse, und Chane schlug mit seinem Schwert zu. Der Untote wich zur Seite, den Blick noch immer auf die Messingphiole gerichtet. Sie verformte sich in der Hitze und setzte plötzlich eine Dampfwolke frei. Die Gestalt im Kapuzenmantel riss das eine Auge auf, und ihr Mund stand weit offen. Ein verzweifelter Blick huschte durch den Raum.

Ein Wort – oder war es ein Name? heulte durch Chanes Gedanken.

Ubâd!

Unverständliche Laute flüsterten durch Chanes Bewusstsein. Er fürchtete einen Zauber des Untoten und stürzte erneut auf ihn zu, aber plötzlich wogten graue Wolken durch die Schmiede. Er verlor seinen Gegner aus den Augen und konnte nichts mehr sehen. Während er mit dem Schwert um sich schlug, lösten sich die dichten Dunstschwaden fast ebenso schnell auf, wie sie gekommen waren.

Der Zauberer war verschwunden. Außer Chane befand sich nur Wynn in der Schmiede und starrte ihn von der anderen Seite her an, bevor sie zu Boden sank.

Die großen braunen Augen starrten ungläubig, und der Anblick ihres ovalen Gesichts traf Chane, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Es war so lange her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Er wankte zu der jungen Weisen und ließ sich neben ihr zu Boden sinken.

»Du hast dich verbrannt«, flüsterte sie.

Ihre Haut hatte eine kranke Blässe, die sich nicht allein durch Furcht erklären ließ, und sie blinzelte immer wieder, während sie ihn ansah. Ihre zitternden Hände hielten noch immer die Armbrust.

»Das kommt von allein wieder in Ordnung«, erwiderte er.

»Ist er weg? Ist Vordana weg?«

»Ja, ich denke schon. Aber wie und warum … Ich weiß es nicht. Ein Zauberer braucht eigentlich kein Beschwörungsgefäß. Doch ich habe gehofft, dass er es für seine Existenz benötigte.«

Chane streckte die Hand aus, um Wynn auf die Beine zu helfen, doch sie schreckte vor ihm zurück. Ihr Blick strich über ihn, als suchte sie nach etwas. Er schaute an sich herab, zu den angesengten Stiefeln und der an mehreren Stellen rußgeschwärzten Hose.

»Es wird alles gut«, sagte er.

Wynn schien erst jetzt zu begreifen, wer da vor ihr auf dem Boden saß. »Was machst du hier?«

»Ich habe gesehen, wie dich das Geschöpf verfolgte, und ich konnte nicht zulassen, dass es …«

Wynn schüttelte den Kopf, und der braune Zopf rutschte unter ihrer Kapuze hervor. »Nein, ich … Du weißt, was ich meine.«

Wie konnte er sie belügen und daran hindern, dass sie der Dhampir von ihm erzählte? Wie konnte er in ihren Augen etwas Freude darüber finden, ihn wiederzusehen? In seiner neuen Existenz hatte es nur wenige Gelegenheiten gegeben, bei denen er wirklich zufrieden gewesen war: wenn er mit Wynn an einem Studiertisch gesessen hatte, mit ausgerollten alten Pergamenten und Pfefferminztee. Er entschied sich zu einer Mischung aus Wahrheit und Lüge und streckte die Hand aus.

»Ich bin dir gefolgt«, sagte er. »Dieses rückständige Land mit seinen ungebildeten Bewohnern ist kein Ort für dich. Ich habe ein gutes Pferd, das uns beide zurück nach Bela und zu deiner Gilde bringen kann. Ich bin nicht, was du glaubst, und mit deiner Hilfe können wir Domin Tilswith davon überzeugen.«

Wynns Augen wurden noch größer.

»Bitte«, drängte Chane. »Ich tue alles, was du von mir verlangst, wenn wir nach Bela zurückkehren und dort so leben können wie vorher.«

Chane hatte nie in seinem Leben um etwas gebeten.

Eine Träne rann über Wynns Wange. Sie ließ die Armbrust in den Schoß sinken und hob die zitternden Hände zum Kopf.

»Ernährst du dich noch immer von Menschenblut? Gehst du noch immer auf die Jagd? Tötest du, um deine eigene Existenz zu sichern? Würdest du für mich damit aufhören?«

Anspannung erfasste Chane. Wie sollte er ihr verständlich machen, dass die meisten Menschen nur Vieh waren, ihrer Sorge nicht wert? Sie bedeuteten nichts. Nur wenige, wie sie und Domin Tilswith, spielten eine Rolle.

Als er nicht antwortete, wischte sich Wynn mit dem Ärmel das Gesicht ab. Sie hörte auf zu weinen, sah ihn aber nicht an.

»Hast du beobachtet, wohin die anderen gelaufen sind?«, fragte sie leise. »Weißt du, was Vordana mit ihnen gemacht hat?«

Für einen Moment hatte Wynn Interesse an ihm gezeigt, doch nun dachte sie wieder an ihre Reisegefährten. Chane hatte ihr seinen innigsten Wunsch anvertraut, und sie sprach nur von Magiere, Leesil und dem Hund.

»Sie sind in Panik geraten. Ich nehme an, das Geschöpf richtete ihre eigenen Gedanken gegen sie. Vielleicht täuschte es sie mit falschen Bildern.«

»Ich muss sie finden«, sagte Wynn, und eine weitere Träne rollte über ihre Wange. »Du darfst uns nicht folgen. Wenn Magiere dich sieht, wird sie versuchen, dich zu köpfen. Das gilt auch für Leesil.«

Sagte sie ihm jetzt, was er tun sollte?

»Vermisst du die Gilde nicht?«, fragte Chane. »Unsere gemeinsamen Abende?«

»Ach, Chane.« Wynn senkte den Kopf. »Geh weg! Selbst wenn ich jene Abende vermissen würde … Ihnen fehlte Aufrichtigkeit. Du hast über dich selbst nicht die Wahrheit gesagt, und jetzt muss ich Magiere und Leesil in Hinsicht auf dich belügen. Steig auf dein Pferd und bring dich in Sicherheit, solange du noch kannst.«

Wynn stand auf und stützte sich dabei mit einer Hand an der Werkbank ab. Als Chane ihr helfen wollte, erstarrte sie für einen Moment. Sie wich nicht vor seiner Berührung zurück, mied aber noch immer seinen Blick. Mit einem Ruck schob sie sich den Riemen der Armbrust über die Schulter und ging zur Tür.

»Ich weiß, dass für dich alles ruiniert ist und du dein altes Leben verloren hast«, sagte sie, und ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Aber du musst fort von hier. Entferne dich so weit wie möglich von uns.«

Mit diesen Worten verließ Wynn die Schmiede, und Chane versuchte nicht, sie aufzuhalten.