13

Welstiels Traumherrin spürte, dass er Nahrung aufgenommen hatte und stärker war, und während er schlief, flüsterte sie ihm zu.

Die Schwester der Toten wird dir den Weg zeigen.

Chanes leises Klopfen an der Tür weckte Welstiel. Er erwachte desorientiert, wie immer, wenn er mit der schwarzen Schlange kommuniziert hatte. Er sah sich verwirrt um, und erst nach einigen Sekunden fiel ihm ein, dass sie in einem Gasthaus untergekommen waren. Die Tür seines Zimmers war abgeschlossen, und er stand auf, um Chane eintreten zu lassen.

Sein Reisegefährte trug bereits ein weißes Hemd und einen mitternachtsblauen Umhang. Hoch aufgerichtet stand er in der Tür, musterte Welstiel kurz und wich einen Schritt zurück. »Entschuldige. Ich dachte, du wärst auf.«

»Komm herein«, sagte Welstiel. »Ich werde nach der Dhampir Ausschau halten. Vielleicht hat sie noch nicht aufgegeben, so stur wie sie ist, und ich möchte ihren Weg verfolgen. Hättest du etwas gegen einige weitere Nächte in dieser Stadt einzuwenden?«

»Kéonsk ist nicht Bela, aber jede Stadt ist besser als die Wildnis dort draußen.«

Welstiel holte den Messingteller und das Messer hervor, nahm damit am Tisch Platz. Die neue Kraft in ihm hatte alle Spuren der früheren Schnitte beseitigt – der Stummel seines kleinen Fingers zeigte glatte Haut. Er ritzte sie mit der Klinge, ließ einen Tropfen auf die Mitte des Tellers fallen und murmelte dabei magische Worte.

Der Tropfen zitterte, kroch zur Seite und verharrte eine Daumenbreite von der Mitte entfernt auf der östlichen Seite.

»Nein«, flüsterte Welstiel und starrte auf den Teller hinab. »Warum sollte sie noch weiter nach Osten reisen?«

Die Richtung war noch beunruhigender als der Umstand, dass sich Magiere erneut davongemacht hatte. Welstiel kannte keinen Ort östlich von Kéonsk, der mit ihrer Vergangenheit in Verbindung stand. Nur er selbst hatte Erinnerungen an jene verfluchte Gegend.

Magiere konnte unmöglich eine Spur entdeckt haben, die dorthin führte, zu seiner eigenen Vergangenheit selbst wenn der verhutzelte Irre dort nach so vielen Jahrzehnten noch existierte.

Chane näherte sich. »Was ist passiert?«

»Sie will offenbar nach Apudâlsat, dem Dorf der Wassertiefen«, sagte Welstiel; er hatte Chanes Frage nur mit halbem Ohr gehört.

Magiere war zur Sclävên-Provinz unterwegs. In Welstiels Jugend waren die Sclävên das erste adlige Haus gewesen, dem sein Vater nach der Ankunft in diesem Land, auf diesem Kontinent, gedient hatte. Damals war Bryen eines Abends mit einem verschrumpelt aussehenden alten Sumaner, der einen dunklen Umhang und eine Maske ohne Augenschlitze trug, zur Feste bei Apudâlsat heimgekehrt, am Rande der ausgedehnten Sümpfe von Everfen.

Magiere hatte sich auf den Weg zu Ubâd gemacht.

»Wovon redest du da?«, fragte Chane.

»Sei still und lass mich nachdenken«, erwiderte Welstiel scharf.

Er blickte auf den Tropfen hinab und fragte sich, wie Magiere von Ubâd erfahren haben konnte.

Chane betrachtete den Messingteller ebenfalls. »Soll ich erneut versuchen, sie aufzuhalten? Musst du jenen Ort vor ihr erreichen?«

Welstiel überlegte. Nein, es war nicht ratsam, überstürzt aufzubrechen und zu versuchen, vor Magiere in Apudâlsat zu sein. Derartige hektische Aktivitäten hätten Ubâd aufmerksam gemacht, und Welstiel wollte seine eigene Präsenz nicht preisgeben.

»Nein, das nützt diesmal nichts«, erwiderte er. »Nichts wird sie von ihrem Ziel abbringen. Aber wir müssen zu ihr aufschließen und in ihrer Nähe bleiben. Magiere ist zu einer Gefahr unterwegs, mit der sie nicht fertig werden kann.«

Er sah Chane an.

»Aus dem Verborgenen müssen wir ihr helfen«, fügte er hinzu. »So wie du deiner jungen Weisen geholfen hast.«

Bei der Erwähnung von Wynn beobachtete Welstiel, wie Schmerz durch Chanes Gesicht huschte. Er verschwand sofort wieder.

»Natürlich«, sagte Chane und ging zur Tür. »Ich bereite die Pferde vor.«

Welstiel wusste, dass es seinem Reisegefährten vor allem um die junge Weise ging. Schon allein durch den Hinweis, dass sich Wynn in Gefahr befand, ließ sich Chane zur Zusammenarbeit bewegen. Aber nur Magiere war wichtig, und sie hielt an der Entschlossenheit fest, Antworten auf ihre Fragen zu suchen, auch wenn sich daraus eine Katastrophe ergeben konnte. Andererseits: Welstiel kannte Magiere, Ubâd kannte sie nicht. Sie ließ sich nicht leicht manipulieren. Welstiel blieb nichts anderes übrig, als in den Schatten zu bleiben und zu vesuchen, Magiere von dort aus so gut wie möglich vor Ubâd abzuschirmen.

Chanes Vorbereitungen würden eine Weile dauern, und Welstiel sank aufs Bett. Seine Gedanken kehrten zu einer bestimmten Nacht im Bergfried bei Chemestúk zurück. Er sah zu der Kugel mit den drei wandernden Lichtern auf dem Nachtschränkchen – sie hatte ihn von Beginn seiner Existenz als Untoter begleitet. Er erinnerte sich an Furcht … an Furcht vor seinem Vater.

Mehrere Nächte nachdem er beobachtet hatte, wie sein Vater und Ubâd dem Zwerg die Kehle durchgeschnitten hatten, auf dass sein Blut in den Bottich floss, saß Welstiel in seinem Zimmer im Obergeschoss des Bergfrieds.

Ubâd erfüllte ihn mit Abscheu, aber über die Jahre hinweg hatte Welstiel mit dem Lakaien seines Vaters das Spiel von Lehrer und Schüler gespielt: Er verbesserte seine Beschwörungskünste und lernte, dabei Objekte zu benutzen. Zauberformeln mochten vielseitig sein, doch sie unterlagen Beschränkungen. Rituale waren mächtig, aber ihre Wirkung hielt nicht so lange an wie die eines Objekts. Auf dem Schreibtisch vor ihm stand seine jüngste Kreation: eine Kugel aus Mattglas, darin drei tanzende Funken, deren Licht das kleine Zimmer ausreichend erhellte. Diese besondere Lampe erforderte weder Öl noch Feuer. Die Lichter in ihr waren beschworene Elementargeister der einfachsten Art. Keine Feenwesen, sondern weniger gebundene Elementargeschöpfe von Feuer und Luft, den Anweisungen des Besitzers der Kugel unterworfen. Wenn die Sonne ein Feenwesen war, so ließen sich diese Lichter mit fernen Sternen am Nachthimmel vergleichen.

Zufrieden betrachtete er das Ergebnis seiner Bemühungen.

Am Himmelbett lehnte eins seiner ersten Werke: ein Falchion, dessen Klinge eine für Untote tödliche Essenz enthielt. Angesichts des blinden Vertrauens, das sein Vater dem Nekromanten entgegenbrachte, hielt es Welstiel für besser, sich zu schützen. Er hatte gelernt, sich vor allem auf sich selbst zu verlassen.

Es fiel ihm schwer, auf die Notizen konzentriert zu bleiben, während ihm Bilder vom blutigen Inhalt der Kästen durch den Kopf zogen. Magelia war in einem der kleineren Zimmer im Keller eingesperrt und hatte bestimmt die Schreie aus jenem Raum gehört. Welstiel hatte dafür gesorgt, dass die Bediensteten ihr zu essen und zu trinken brachten, war aber nicht selbst zu ihr gegangen.

Er mied den Keller, seit sein Vater einen Steinmetz und drei Arbeiter aus einem benachbarten Ort gezwungen hatte, im Gang eine neue Mauer zu errichten, die den Zugang zum siebten Raum blockierte. Als die Männer mit ihrer Arbeit fertig waren, kehrten sie nicht heim.

Es klopfte an der Tür, und Welstiel seufzte leise – er wollte nicht gestört werden. »Wer ist da?«

»Ich muss mit dir reden«, erklang die Stimme von Lord Bryen Massing.

Welstiel stand widerstrebend auf und öffnete die Tür.

Sein Vater sah müde und abgespannt aus. Sein Haar war zerzaust, das Gesicht noch bleicher als sonst. Schmutz zeigte sich an seinem weißen Hemd, das zerknittert über der Hose hing. Er trug weder einen Umhang noch sein Schwert.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Welstiel, obwohl es ihm jetzt sogar Mühe bereitete, Sorge auch nur zu heucheln.

Seit ihrer Ankunft im Bergfried war Lord Bryen nie in dieses Zimmer gekommen, und aus irgendeinem Grund weckte seine Präsenz Unbehagen in Welstiel. Er wich zur Seite, bevor er die Tür schloss.

Bryen näherte sich dem Schreibtisch und betrachtete die Gegenstände darauf, ohne einen von ihnen zu berühren. Er stand so lange stumm da, dass sich Welstiel fragte, was einen Mann beunruhigen konnte, der zu einem Gemetzel wie dem im Keller fähig war.

»Es ist an der Zeit, mein Sohn«, sagte Bryen und kehrte Welstiel noch immer den Rücken zu. »Es ist an der Zeit, dass du zu mir kommst.«

»Dass ich zu dir komme? Aber du bist doch hier.«

Bryen schien ihn gar nicht zu hören und starrte weiterhin auf den Schreibtisch.

»Es ist schon spät«, fuhr er fort. »Spät für das, was schon vor Jahren hätte geschehen sollen. Aber du warst immer so verbunden mit den Dingen deiner Welt. Jetzt brauche ich dich in meiner.«

Welstiels Unbehagen wuchs, und er ging zu seinem Bett.

»Versuch nicht, das Falchion zu nehmen«, sagte sein Vater, ohne sich umzudrehen. »Ich weiß, warum du es angefertigt hast, aber du brauchst es nicht. Mein Geschenk für dich macht es unnötig.«

»Ich will dein Geschenk nicht.« Welstiel schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die Absicht, wie du zu werden.«

»Ich … Unser Gebieter braucht dich. Er flüstert seine Pläne, und du spielst eine wichtige Rolle in ihnen. Du wirst stolz sein.«

Von einem Augenblick zum anderen stand Bryen zwischen Welstiel und dem Bett mit dem Falchion. Seine Augen waren hell, wirkten seltsam kristallin, und Welstiels Unbehagen verwandelte sich in Furcht. Er sprang zur Tür, kam aber nur einen Schritt weit. Eine starke Hand packte ihn am Kragen und hielt ihn fest.

Er schlug um sich und traf kalte Haut und Knochen, einen Körper, der nicht zurückwich. »Nein!«, rief er und schlug erneut zu. »Vater … nein!«

Bryens Hand schloss sich wie eine Stahlklammer um Welstiels Arm und drückte ihn so fest zu Boden, dass die Luft aus seinen Lungen entwich.

Er erinnerte sich daran, nach den Wächtern gerufen, wild um sich getreten und versucht zu haben, das Falchion zu erreichen, ohne Erfolg. Die Tür seines Zimmers öffnete sich erneut, und Meister Ubâd glitt herein.

»Denk daran, Bryen«, krächzte Ubâd. »Vergiss den alten Aberglauben. Du musst ihn nur so schnell entleeren, dass seine Essenz gefangen ist, wenn der Körper stirbt. Das ist alles. Deine Präsenz beim Sterben wird ihn über die Schwelle des Todes holen, und wenn Wille und Geist bei ihm stark genug sind, erwacht er bis morgen Abend.«

Lord Massings Gesicht war eine wilde Fratze. Welstiel sah einen größer gewordenen Mund mit spitzen Zähnen, die außer Sicht gerieten, als Bryen den Kopf senkte und in den Hals seines Sohnes biss. Welstiel versuchte erneut, sich zur Wehr zu setzen und seinen Vater abzuschütteln.

»Nicht!« So lautete das letzte Wort, das er hervorbrachte.

»Unser Gebieter hat große Pläne mit dir«, sagte Ubâd zu ihm. »Eine Braut und eine Tochter.«

Schmerz ließ sein Bewusstsein schwinden, bis er sich ebenfalls in der Kälte auflöste, die Welstiels Körper schneller füllte als Dunkelheit sein Blickfeld.

Als er die Augen wieder öffnete, lag er in den eigenen Ausscheidungen auf dem Boden seines Zimmers und stank wie ein ungewaschener Bauer. Es dauerte einige Momente, bis er begriff, dass er nicht mehr atmete, und voller Panik schnappte er nach Luft.

Das Atmen brachte ihm keine Ruhe – es blieb ohne jede Wirkung. Sein Körper fühlte sich so kalt und fern an wie die steinernen Wände seines Zimmers.

Schrecken erweiterte seine Sinne. Welstiel hörte das Geräusch einer Spinne, die in der Ecke ihr Netz spann. Er setzte sich in seiner schmutzigen Kleidung auf. Sein Vater und Ubâd standen in der Tür und beobachteten ihn. Direkt vor ihnen sah er ein gefesseltes und geknebeltes Bauernmädchen, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Wie lange hatte er in diesem Zimmer gelegen?

Welstiel spürte die Körperwärme der jungen Frau.

Ihr Anblick … der Geruch ihres warmen Körpers … Ein intensives Hungergefühl erfasste Welstiel.

»Komm, mein Sohn«, sagte Bryen. »Der Instinkt wird dich leiten. Schieb die Gedanken an den vergangenen Abend beiseite. Dafür ist später noch genug Zeit. Jetzt brauchst du Nahrung.«

Welstiel erinnerte sich nicht daran, dass sein Vater jemals zuvor mit einem Hauch von Anteilnahme in der Stimme zu ihm gesprochen hatte. Am vergangenen Abend hätte er viel für ein freundliches Wort gegeben. Jetzt war ihm alles gleich, bis auf …

… die warme Haut unter dem Kinn der jungen Frau. Ihr Puls pochte dort schnell und verlockend.

Er kroch zuerst und vergaß dabei seinen Gestank, krabbelte dann wie ein Tier auf allen vieren und lief durchs Zimmer. Die Gefesselte wand sich unter den Stricken hin und her. Sie versuchte, durch den Knebel zu schreien, als Welstiel sie erreichte, seine Zähne in den Hals der Wehrlosen bohrte und ihr warmes Blut trank.

Kraft und Wohlbehagen strömten durch ihn, gefolgt von einem Frieden, den er nie zuvor auf diese Weise gefühlt hatte. Er hörte auf zu trinken, schmeckte das Blut auf der Zunge und schluckte langsamer.

Als er genug hatte, hob er den Kopf und sah auf den Körper in seinen Armen hinab.

Die Augen der jungen Frau standen weit offen. Der Mund war um den Knebel herum erschlafft, die Kehle aufgerissen. Blut war ihr aufs Kleid getropft. Das Herz schlug noch einige Male, und dann war sie tot.

Welstiel sah an sich selbst herab. Sein Hemd war voller Blut, und sein besserer Geruchssinn nahm den Duft von Kupfer im Gestank seiner Ausscheidungen wahr. Er ließ die Leiche fallen, wankte fort und kauerte sich neben dem Bett zusammen.

»Was hast du mir angetan?«, brachte er hervor.

Welstiel kannte die Antwort. Es gab keine Rückkehr zu Licht und Leben. Keine seiner arkanen Künste war imstande, dies rückgängig zu machen.

»Wie konntest du nur?«, flüsterte Welstiel.

Ubâd schwebte zu ihm und goss Wasser in eine Schale. Er nahm saubere Handtücher und näherte sich damit Welstiel.

»Zieh deine Kleidung aus und säubere dich. Dein Vater braucht dich.«

»Weg mit dir. Weg mit euch beiden.«

»Tu, was er dir gesagt hat«, wies ihn sein Vater an. »Deine Braut wartet.«