15
Magiere war von der Kälte wie betäubt, als sie hinter Vordana durch die Tür trat. Das Haus verursachte ein Prickeln wie von tausend krabbelnden Insekten auf ihrer Haut.
Ein eiserner Stab lehnte neben der Tür an der Wand, fleckig und anscheinend oft benutzt. Auf grob gezimmerten Tischen und in Regalen standen zahlreiche Krüge und Gefäße aus Keramik, Glas und Metall. Im nächsten Glasbehälter sah Magiere eine trübe Flüssigkeit, in der fleischige Dinge schwammen. Ein fingerartiges Etwas aus Knorpeln und Knochen zeigte sich an der einen Seite. Magiere wusste nicht, von welchem Wesen es stammte, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Im Kamin brannte ein Feuer, aber durch seine Wärme fühlte sich der Raum eng und stickig an.
Vordana durchquerte das Zimmer und öffnete auf der anderen Seite eine Tür, die in einen Flur führte.
Magiere folgte ihm in einem Abstand von einigen Metern; der von dem untoten Zauberer ausgehende Gestank ließ sie würgen. Die Wände des Flurs bestanden nicht aus mit Mörtel zusammengefügten Steinen, sondern aus roh behauenem Granit, und an seinem Ende erwartete sie eine große Höhle.
Fackeln brannten an in den Boden gesteckten Stangen, doch ihr Licht reichte nicht bis zur hohen Decke, die im Dunkeln verborgen blieb. Magiere schätzte den Durchmesser der Kaverne auf mindestens hundert Schritte. Direkt voraus, in der Mitte, ruhte eine dicke Granitplatte auf zwei Steinblöcken. Ein zerknittertes weißes Satintuch bedeckte sie teilweise. Davor hing ein gusseiserner Bottich an einem Dreibein über Feuerholz. Magiere näherte sich ihm, während ihr Blick durch die Höhle wanderte.
»Dhampir …«, erklang eine hohle Stimme. Das Wort wehte durch die Kaverne und schien in der Dunkelheit weiter oben zu verschwinden. »Ich hatte schon begonnen, an den Berichten zu zweifeln.«
Magiere sah sich um.
Weiter hinten kam eine Gestalt aus den Schatten, gekleidet in einen dunkelgrauen Kapuzenmantel. Der Fackelschein zeigte Zeichen und Symbole, die zwischen den Falten des Mantels erschienen und wieder verschwanden. Eine Ledermaske bedeckte die obere Hälfte des Gesichts, und die Lippen darunter waren verschrumpelt.
Vordana verbeugte sich vor dem Neuankömmling.
Als die Gestalt im Kapuzenmantel näherschwebte, stellte Magiere fest, dass die Maske keine Augenschlitze aufwies. Sie fragte sich, ob dieses Geschöpf sie sehen konnte. Warnend hob sie ihr Falchion.
»Das ist nahe genug.«
Der Maskierte verharrte jenseits der Reichweite ihrer Waffe, drehte den Kopf und schien zu horchen. Chap näherte sich langsam und blieb still, fletschte aber die Zähne. Der Mann mit der Maske wandte sich ihm zu.
Magieres Dhampir-Natur erwachte und erweiterte ihre Sinne. Sie sah, wie sich unter dem Kapuzenmantel die Brust des Maskierten hob und senkte. Er atmete und lebte, war also sterblich, soweit sie feststellen konnte.
»Bist du Ubâd?«, fragte sie.
»Es ist einer meiner Namen«, erwiderte er, und ein Zischen folgte den Worten.
»Ich habe Fragen«, sagte Magiere kühl. »Du hast Antworten, wie ich hörte.«
»Ja. Und ich habe viele Jahre lang gehofft, sie dir geben zu können.« Ubâd wandte sich den Besuchern zu, hob eine ledrige Hand und deutete damit auf Magiere. »Perfekt. Dein Haar, die Haut … Deine Kraft. Tag und Nacht zusammen. Das Leben und der Tod.«
»Heraus mit den Antworten, Alter«, sagte Leesil scharf. »Ich schätze, die Fragen kennst du bereits.«
Sofort erschienen Geister um sie herum. Der Soldat mit dem offenen Bauch schwebte in der Nähe von Leesil.
»Du bist hier, weil er es wollte, der Unterdrücker«, sagte Ubâd zu Leesil und deutete dabei auf Chap. »Daran kann ich nichts ändern, aber du bedeutest mir nichts. Hüte deine Zunge, wenn du sie nicht verlieren willst.«
»Schon gut«, flüsterte Magiere und legte Leesil kurz die freie Hand auf die Brust. »Es ist alles in Ordnung.«
Sie bemerkte, dass sich Wynn hinter Leesil versteckte. Mit großen Augen spähte sie hinter ihm hervor und hielt noch immer die kalte Lampe in der Hand, aber ihr Blick galt nicht dem Maskierten, sondern Vordana. Es beunruhigte Magiere, dass Vordana, der alle Anzeichen des körperlichen Verfalls zeigte, noch immer existierte, obwohl Wynn von seiner Vernichtung berichtet hatte.
»Wieso kann er noch stehen und gehen?« Magieres Frage galt Ubâd, aber sie deutete dabei auf Vordana.
Ubâd machte eine Geste, die den Geistern um sie herum galt. »Ich rufe die Toten in meine Dienste und habe während meines Lebenswerks viel gelernt. Vordana ist loyal … und nützlich. Er hat mich um Hilfe gebeten, und so habe ich ihn bewahrt.«
»Wäre er dir immer noch nützlich, wenn ich ihn jetzt köpfen würde?«, fragte Magiere.
Vordana schwebte zur Seite, und sein Umhang raschelte dabei – Magieres Drohung verunsicherte ihn offenbar. Ubâds Reaktion war wegen der Maske schwerer abzuschätzen, aber er presste kurz die Lippen zusammen.
»Bist du gekommen, um über das Wohlergehen meiner Diener zu reden?«, fragte er und wartete auf eine Antwort. Als keine kam, fuhr er fort: »Wie hast du mich gefunden? Vordana erfuhr erst vor kurzer Zeit von deiner Rückkehr in dieses Land.«
Magiere fühlte sich nicht verpflichtet, irgendeine von Ubâds Fragen zu beantworten, doch was diese betraf, hatte sie bei Leesils Leben geschworen. »Osceline hat uns hierhergeschickt.«
Meine Schülerin?, ertönte Vordanas Stimme in Magieres Kopf. Allem Anschein nach war Osceline nicht nur mit Ubâd verbunden, sondern auch mit Vordana.
»Das ist unerwartet«, sagte Ubâd, ohne auf seinen Diener zu achten. »Aber es gibt viel zu besprechen, und ich habe dir viel zu zeigen.«
»Wer ist mein Vater?«, fragte Magiere. »Heißt er Welstiel Massing?«
»Zu schnell, zu weit«, erwiderte Ubâd und schüttelte den Kopf. Er drehte sich und glitt zur Steinplatte in der Höhlenmitte. Sein Kapuzenmantel bewegte sich nicht. »Ich zeige es dir, und anschließend wirst du mir dankbar dafür sein, dass ich dir die Augen öffne. Ich zeige dir den richtigen Weg.«
»Antworte mir, und ich rate dir, es sollte nach der Wahrheit klingen«, sagte Magiere. »An deinen verdrehten Geschichten über meine Vergangenheit bin ich weder interessiert, noch traue ich ihnen.«
»Du verstehst mich falsch«, entgegnete Ubâd. »Ich will dich nicht mit irgendwelchen magischen Tricks beeindrucken. Ich arbeite mit den Toten, die die Vergangenheit sind … und manchmal auch die Zukunft. Die Vergangenheit führt uns zur Zukunft; du kannst die junge Weise und den Hund danach fragen. Komm her, Kind. Hier ist deine Vergangenheit.«
Er griff nach dem weißen Satintuch und zog es fort.
Sorgfältig angeordnete Knochen lagen auf der Steinplatte, fast so weiß wie das Tuch, das sie bedeckt hatte. Ganz rechts lag der Schädel auf dem Unterkiefer; er wirkte geputzt, wie etwas Kostbares gehütet und gepflegt. Es war ein menschliches Skelett mit dünnen Knochen.
Magiere hielt unwillkürlich den Atem an.
Chap sprang knurrend vor, durch einige Geister direkt vor ihm. Der Kontakt mit ihnen ließ ihn zusammenzucken, und er wich nach rechts aus, wandte sich dann wieder Ubâd zu.
»Nein … nein«, flüsterte Wynn.
Ubâd achtete überhaupt nicht auf Chap, doch Vordana konzentrierte sich auf den Hund. Magiere hörte einen seltsam nachhallenden Sprechgesang in ihrem Hinterkopf, als der untote Zauberer den Blick auf Chap richtete. Bevor sie eingreifen konnte, wankte der Hund zur Seite, und sein Knurren hörte auf. Er schüttelte sich und sprang, landete vor Vordana und bellte.
Der untote Zauberer wich nicht zurück, duckte sich aber, und sein Sprechgesang verklang.
»Diesmal gibt es nicht den Vorteil der Überraschung«, sagte Leesil. »Mir scheint, dein Zauber funktioniert bei ihm nicht mehr.«
Magiere starrte auf die weißen Knochen.
»Sie kann es nicht sein«, sagte sie. »Als Kind habe ich das Grab besucht, in dem meine Tante Bieja sie bestattet hat.«
»Mach von deiner besonderen Wahrnehmung Gebrauch«, erwiderte Ubâd. »Berühr die Knochen und sieh selbst.«
»Sie ist nicht an diesem Ort gestorben. So funktioniert das nicht, und ich glaube, das weißt du.« Zorn durchwogte Magiere.
Ubâd seufzte und schüttelte den Kopf. »Hier liegt der Fall anders. Sie war deine Mutter, dein Fleisch und Blut. Ihre Knochen sind wie deine. Berühr sie.«
Magiere war nicht imstande, den Blick abzuwenden, als sie zur Steinplatte trat. Leesil griff nach ihrem Arm. »Es ist ein Trick«, sagte er. »Und selbst wenn nicht … Ich habe es dir auf dem Friedhof gesagt: Es wäre schrecklich für dich, den Tod deiner Mutter mitzuerleben.«
Die Luft um Magiere geriet abrupt in Bewegung und fuhr durch ihr Haar. Im gleichen Augenblick griff der Soldatengeist Leesil an.
Die durchscheinende Faust schlug nach der Schläfe und versank im Kopf. Leesil krümmte sich zusammen und verdrehte die Augen.
Von einem Augenblick zum anderen ging es drunter und drüber.
Geister huschten herbei, machten einen Bogen um Magiere und zielten wie vom Wind getriebene Nebelfetzen auf Leesil. Wynn wich in Richtung Flur zurück, doch nicht schnell genug: Zwei Schemen erreichten sie und bohrten sich ihr in die Brust. Sie brachte nicht einmal ein Wimmern zustande, als sie zu Boden ging, und die kalte Lampe rutschte ihr aus der Hand.
»Ubâd …«, stöhnte Leesil.
Er klammerte sich an Magieres Arm fest, ließ aber die Klingen fallen. Magiere drehte sich um, brachte sich selbst zwischen ihn und den Maskierten. Mit der freien Hand zog sie Leesil näher und versuchte, ihn mit ihrem Körper abzuschirmen. Sie hörte, wie Wynn einen schmerzerfüllten Schrei ausstieß. Leesil zog ein Stilett aus dem Ärmel und hielt es zwischen ihnen, wo es niemand sehen konnte.
Verwirrt blickte ihm Magiere in die bernsteinfarbenen Augen, und er flüsterte: »Schnapp dir Ubâd!«
Leesil schob sie zurück und hob das Stilett an der Klinge. Als er die Klinge warf, verstand Magiere plötzlich.
Sie drehte sich um und lief los, folgte dem fliegenden Stilett.
Es zielte auf Ubâds Maske, doch der verhutzelte Alte rührte sich nicht. Aus dem Augenwinkel sah Magiere, wie Vordana erschrocken die Hand hob.
Das Stilett verharrte mitten in der Luft, nur die Länge einer Hand von Ubâds Gesicht entfernt.
Magiere kam heran und holte mit dem Falchion aus. Vordana eilte von der Seite herbei, das Topasamulett in der einen Hand. Plötzlich stolperte er, als lautes Knurren erklang.
Vordana kippte zur Seite und aus Magieres Blickfeld, und das Stilett fiel mit einem dumpfen Pochen zu Boden. Magiere hörte, wie Chap immer wieder zuschnappte, woraus sie schloss, dass der untote Zauberer beschäftigt war. Sie stand ganz still, die Spitze des Falchions lag an Ubâds Kehle.
»Ruf deine Toten zurück«, sagte sie. »Oder du kannst ihnen Gesellschaft leisten.«
Ubâd rührte sich nicht von der Stelle, und kein Ton kam über seine Lippen.
Chaps Knurren wurde leiser, und die von Vordana kommenden Geräusche – der untote Zauberer zappelte auf dem Boden – wichen der Stille.
»Leesil?«, rief Magiere, ohne den Blick von Ubâd abzuwenden. Sie erhielt keine Antwort. »Leesil!«
»Alles in Ordnung«, sagte er hinter ihr, und sie hörte, wie er schnaufend näher kam.
»Und Wynn?«
Eine Pause. Dann: »Sie ist wieder auf den Beinen.«
»Tot … lebendig«, flüsterte Ubâd, und seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Der Unterschied ist nicht so groß, wie manche Leute meinen. Nicht für dich und mich. Möchtest du noch immer deine Antworten?«
Er glitt langsam zurück, fort vom Falchion, und tastete nicht einmal nach der kleinen Wunde am Hals. Magiere behielt ihn im Auge, als sie die Hand nach dem Schädel auf der Steinplatte ausstreckte. Bilder entstanden in ihr.
Blauer Stoff … ein Kleid. Jenes Kleid, das Tante Bieja ihr gegeben hatte. Und langes dunkles Haar.
Magieres Hand zuckte zurück.
»Nein«, hauchte sie und sah zu Ubâd. »Du hast das Grab meiner Mutter öffnen lassen?«
Er winkte mit einer Hand, als sei die Frage bedeutungslos, streckte sie dann Vordana entgegen.
Der untote Zauberer kam auf die Beine, und Chap näherte sich ihm von hinten. Vordana bewegte sich vorsichtig, als er eine Fackel aus dem Boden zog und mit ihr zur Höhlenmitte ging. Magiere wich zurück, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und Vordana entzündete das Feuerholz unter dem eisernen Bottich. Flammen züngelten.
»Ich kann dir die Möglichkeit geben, mit ihr zu sprechen«, sagte Ubâd. »Sie wird dir zeigen, wer du bist.«
Magieres Herz klopfte schneller. Mit ihrer Mutter zu sprechen, die sie nie kennengelernt hatte, Magelia auch nur für einen Moment zu hören … So etwas hätte sie nicht für möglich gehalten. Ausgerechnet der Totenbeschwörer Ubâd bot ihr dieses Geschenk an.
Sie brachte es nicht fertig, es abzulehnen.
»Nur sie und ich?«, fragte Magiere.
Ubâd nickte. »Sie wird in dir sein und dir all das zeigen, was du willst.«
»Na schön. Tu alles Notwendige.«
»Magiere!«, stieß Leesil hervor. »Nein!«
Fackelschein tanzte über Ubâds Maske, und Magiere fragte sich, wie das Gesicht dahinter aussehen mochte. Abscheu und Ekel regten sich in ihr.
»Schon gut, Leesil«, erwiderte sie. »Ich durchschaue es, wenn das ein Trick ist und jemand anders versucht, sich als meine Mutter auszugeben.«
Ubâd holte einen Dolch mit schmaler Klinge hervor und nahm einen Knochen von der Steinplatte. Als Magiere sah, wie dieses Geschöpf die Reste ihrer Mutter berührte, hätte sie es am liebsten mit ihrem Falchion in Stücke geschlagen. Die dunkle Brühe im Bottich kochte. Spritzer kamen über den Rand und fielen zischend ins Feuer.
Ubâd hielt das Knochenstück über den Bottich und kratzte mit der Schneide des Dolches. Weiße Schnipsel lösten sich und fielen in die brodelnde Flüssigkeit. Der Maskierte legte den Knochen beiseite und streckte die Hand nach Magiere aus.
»Ihr teilt Blut und Knochen. Gib mir deine Hand.«
Magiere hielt das Falchion erhoben und reichte Ubâd die andere Hand. Er schnitt in die Kuppe des kleinen Fingers und drückte, bis ein Tropfen Blut zu den Knochenschnipseln in den Bottich fiel.
Der Maskierte begann mit einem Sprechgesang.
Die Geister in der Höhle verschwanden, und Vordana wich zurück.
Magiere sah noch die Sorge in Leesils Gesicht und Wynns furchtsam blickende Augen, als sich die junge Weise langsam näherte.
Die Flüssigkeit im Bottich stieg, schwappte über den Rand und tropfte mit lautem Zischen ins Feuer. Dampf stieg auf und hüllte das Dreibein in eine dichte Wolke. Die Umrisse einer Gestalt formten sich darin.
Die Frau war jung und schön und hätte Magieres Schwester sein können. Ihre Haut war nicht so hell, und es zeigte sich kein blutrotes Schimmern im Haar, aber die Ähnlichkeit war unübersehbar: eine hohe, glatte Stirn über schmalen, gewölbten Brauen und einer langen, geraden Nase. Die Frau war groß und schlank und trug das blaue Kleid, das Magiere selbst bei einigen Gelegenheiten getragen hatte. Verwirrt sah sie sich um, bis ihr Blick Magiere erreichte.
Ubâds Sprechgesang wurde lauter.
Die junge Frau hatte bisher geschwebt und sank nun auf den granitenen Boden. Sie sah Magiere in die Augen und streckte die Hand aus. Magiere zögerte kurz und ergriff sie dann. Sie fühlte keinen Schmerz, als die Höhle um sie herum verschwand.
Plötzlich stand sie auf einem grasbewachsenen Hügel inmitten eines Waldes, und zwischen den Bäumen sah sie die kleinen, niedrigen Hütten von Chemestúk. Es war Anfang Herbst, und auf den nahen Feldern, die harte Arbeit dem Wald abgerungen hatte, ernteten die Dorfbewohner Kürbisse. Eine Frau unter ihnen weckte Magieres Aufmerksamkeit. Zuerst dachte sie, dass es sich um die gleiche Frau handelte, die sie in der Höhle gesehen hatte, aber sie war kleiner, kräftiger gebaut und trug violette Kleidung. Als sie sich aufrichtete und den Schweiß von der Stirn wischte, erkannte Magiere sie.
Es war Tante Bieja, aber jünger, ohne die Last der Jahre.
Magiere hörte ein Rascheln im leichten Wind, drehte den Kopf und stellte fest, dass die Frau im blauen Kleid neben ihr stand.
»Mutter?«, fragte sie. »Magelia?«
Die Frau berührte Magiere an der Wange. »Tochter. Ich kenne dich.«
»Magiere. Ich heiße Magiere. Tante Bieja hat mir diesen Namen gegeben.«
Tränen rannen über Magelias Gesicht. »Bieja hat dich aufgezogen? Bist du glücklich gewesen?«
Magiere wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie wollte die Tränen ihrer Mutter berühren, sie trösten, aber aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht bewegen.
»Er hat dich an jenem Abend genommen«, flüsterte Magelia. »An dem Abend, als du geboren wurdest. Aber er versprach, dich zu schützen. Ich erinnere mich an dein weiches Haar. Du kamst mit schwarzem Haar zur Welt. Und mit dunklen Augen, nicht mit blauen wie die meisten Babys.«
»Mutter.« Es fiel Magiere schwer, dieses eine Wort auszusprechen. »Ich muss wissen, was geschehen ist. Und wie es geschah.«
»Hast du mich deshalb gerufen?« Magelias Gesicht verdunkelte sich, und Magiere hatte das Gefühl, den eigenen Zorn in einem Spiegel zu sehen. »Du möchtest erfahren, wer dein Vater ist?«
»Ich muss Bescheid wissen.«
Magelias Züge wurden wieder weicher. »Es ist mir gleichgültig, solange ich dich sehen und berühren kann.« Magelias Finger lösten sich von Magieres Wange und schlossen sich um ihre Hand. »Komm mit mir, zurück zum Bergfried.«
Der grasbewachsene Hügel verschwand zusammen mit dem Herbsthimmel darüber.
Magelia war in ein Zimmer weiter oben im Bergfried gebracht worden, in einen Raum ohne Fenster. Sie untersuchte die verschlossene Tür, die aus massivem Holz bestand, drückte vergeblich die Klinke.
Sie war gefangen und allein.
Trotz ihrer Furcht dachte sie immer wieder an Bieja, an die Angst ihrer Schwester am Abend der Entführung und daran, wie besorgt sie sein musste. Wirre Gedanken zogen ihr durch den Kopf. Sie dachte daran, Bedienstete zu bestechen, auf dass sie Bieja eine Mitteilung von ihr zukommen ließen, doch sie sah nur die Wächter, die ihr zu essen brachten. Es waren immer zwei. Einer blieb draußen im Flur stehen, während der andere den Teller in ihrem Zimmer neben die Tür stellte. Magelia gab es schließlich auf, ihnen Fragen zu stellen und sie zu bitten, ihr Auskunft zu geben – die beiden Männer blieben stumm, sagten kein Wort.
Die einzige andere Person, die sie gesehen hatte, war Welstiel, der Adlige mit den weißen Flecken an den Schläfen, ein Mann von kühler Höflichkeit. Auf seine Anweisung hin hatte man sie in diesem Zimmer untergebracht.
Es war ein kalter, fast leerer Raum, mit einer dünnen Matratze auf dem Boden und einer Waschschüssel daneben, mehr nicht.
Magelia unterbrach ihre Überlegungen, als sie hörte, wie im Flur der Riegel beiseitegeschoben wurde. Die Tür öffnete sich, und Lord Massing trat ein, jener Mann, den man Bryen nannte.
Er war groß und nutzte seine stattliche Erscheinung, um die Leute in seiner Nähe einzuschüchtern. Magelia sah sein dunkles Haar und die helle Haut und dachte, dass er ohne die seltsame Leere in seinem Gesicht vielleicht attraktiv gewesen wäre. Sie hatte nur einen Ausdruck darin gesehen: Arroganz.
Magelia verabscheute ihn.
An diesem Abend kam er besonders gut gekleidet und trug eine schwarze Hose, ein hellbraunes Hemd und einen schokoladenbraunen Umhang. Das Haar war sorgfältig nach hinten gekämmt. Hinter ihm stand eine junge Bedienstete, die ganz offensichtlich schreckliche Angst vor ihrem Herrn hatte. Magelia kannte sie nicht, was bedeutete, dass sie nicht aus Chemestúk stammte. Sie brachte ein seidenes Gewand, eine Haarbürste und Nadeln. Die Farbe des Gewands lag irgendwo zwischen Elfenbein und Zartrosa.
»Zieh deine Lumpen aus«, sagte Lord Massing. »Diese Bedienstete wird dir beim Ankleiden helfen.«
»Nicht solange du dich in diesem Zimmer befindest«, erwiderte Magelia. Sie wollte keine Angst zeigen.
»Zieh deine Sachen aus, oder ich reiße sie dir vom Leib«, sagte er.
Es war keine leere Drohung. Magelia begriff, dass Lord Massing ihr einfach nur sagte, was geschehen würde, wenn sie sich widersetzte. Sie fügte sich und begann damit, ihr blaues Kleid aufzuknöpfen. Die Bedienstete eilte herbei und half ihr.
Magelia wandte sich von Lord Massing ab, als sie nur noch in ihrer Unterwäsche dastand. Die Bedienstete streifte ihr das Seidengewand über und schnürte es zu. Anschließend bürstete sie ihr das Haar, steckte es auf dem Kopf zusammen und ließ einige lockige Strähnen auf Schultern und Rücken fallen.
»Herr?«, fragte sie, als sie fertig war.
Bryen nickte. »Ja, viel besser.«
Er ergriff ihren Arm, bevor sich Magelia umdrehen konnte. Sie versuchte nicht, Widerstand zu leisten, denn das hätte keinen Sinn gehabt. Lord Massing zog sie aus dem Zimmer, durch den Flur und in einen anderen Raum.
Ein Himmelbett stand dort, und auf einem kleinen Tisch ruhte eine Kugel auf einem eisernen Sockel. Lichter tanzten in ihrem matten Glas. Als Magelia eintrat, weckte eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit, und sie sah sich selbst in einem hohen Spiegel an der Wand neben dem Tisch. Sie sah aus wie eine Lady, die ihrem Lord in seiner Feste Gesellschaft leistete.
Das Zimmer schien sauber zu sein, aber es roch nach einem umgestoßenen Nachttopf, und hinzu kam ein süßlicher Geruch, den sie nicht zu deuten wusste. Lord Massing folgte ihr, und Magelia sah nicht nur ihn im Spiegel, sondern auch noch zwei andere Personen. Sie drehte sich um.
Neben dem Bett stand der Maskierte namens Ubâd. Seine dünnen Lippen formten ein Lächeln, und er hatte die Hände in die Ärmel seines holzkohlegrauen Kapuzenmantels geschoben. Auf der anderen Seite des Bettes stand Welstiel.
Magelia erinnerte sich daran, dass er Lord Massing »Vater« genannt hatte, obwohl er der Ältere von ihnen beiden zu sein schien. Dünne Falten umgaben seine kalt blickenden Augen, und das dunkle Haar war weiß an den Schläfen. Welstiel wirkte ruhig und distanziert, schien sowohl Magelias Präsenz als auch ihre Gefangenschaft zu missbilligen.
Neben Ubâd bemerkte Magelia ein sonderbares Gefäß auf einem Podest, einer Blumenvase nicht unähnlich. Es bestand offenbar aus Metall, vielleicht aus Kupfer, war gelbrot und wies seltsame Zeichen auf. Eine dunkle Flüssigkeit füllte es fast bis zum Rand. Unruhe erfasste Magelia, als sie begriff, dass der süßliche Geruch im Zimmer vom Inhalt des Gefäßes ausging. Sie wollte zurückweichen, aber Lord Massings flache Hand an ihrem Rücken hinderte sie daran. Sie trat vor, weg von der Hand.
Welstiel musterte sie, und sie stellte fest, dass sein Gesicht anders aussah. Die dunklen Augen hatten ihren Glanz verloren und wirkten so emotionslos wie die Lord Bryens. Außerdem wirkte er bleicher als vorher.
»Sieht sie nicht viel besser aus, mein Sohn?«, fragte Lord Bryen. »Das Gewand stammt aus Strawinien. Ich habe es extra für diese Nacht aus der Hauptstadt Wudran kommen lassen. Ich weiß, dass du derart gekleidete Frauen bewunderst.«
Furcht regte sich in Magelia.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte sie.
Die drei Männer schenkten ihr keine Beachtung.
»Ich habe nicht das geringste Interesse, Vater«, erwiderte Welstiel. »Du kannst sie genauso gut in ihr Zimmer zurückbringen. Oder besser noch: Lass sie frei und hör mit diesem Wahnsinn auf.«
Bryen gab Magelia einen Stoß in Welstiels Richtung. Sie taumelte und hielt sich am nächsten Pfosten des Himmelbetts fest. Ein großes Schwert mit gewölbter Klinge lehnte hinter Welstiel am Kopfende, und Magelia erstarrte, als sie es sah.
»Du wirst tun, was ich dir sage!«, befahl Bryen, und so etwas wie Zorn erschien in seiner Stimme. »Meister Ubâds sorgfältige und kostspielige Vorbereitungen dürfen nicht umsonst gewesen sein. Er hat sein ganzes Leben lang auf diese Nacht hingearbeitet.«
Er senkte die Stimme und sprach sanfter, aber Magelia hielt den Blick auf Welstiel gerichtet und sah gelegentlich zum Schwert hinter ihm.
»Du spielst eine weitaus größere Rolle, als du glaubst, mein Sohn«, fuhr Bryen fort. »Du wirst die Person zeugen, die unser Gebieter braucht. Ein Edler Toter kann nicht seine eigene Art führen bei dem, was kommen wird, und ein Sterblicher ist dazu ebenso wenig imstande. Etwas von beidem ist erforderlich. Du wirst der stolze Vater eines Wesens, wie es die Welt noch nicht gesehen hat, nicht seit der vergessenen Zeit. Ein Vorbote für das, was wir begrüßen dürfen, wenn unser Gebieter wieder erwacht.«
In Magelia verkrampfte sich etwas. Sie hatte nicht alles verstanden, aber ihr wurde klar, was sie hier erwartete.
»Befolge die Anweisungen von Meister Ubâd«, sagte Bryen zu seinem Sohn. »Trink das für dich vorbereitete kollektive Leben der Fünf. Nimm dann die Frau und zeuge ein Kind von Tag und Nacht, vor dem die ganze Welt knien wird. Ich weiß, es scheint eine einfache Bauernfrau zu sein, aber sie ist von altem Blut, von sehr altem Blut, und damit ein geeignetes Gefäß für diese Zeugung.«
Welstiels trübe Augen wurden groß.
»Du willst, dass ich noch mehr Blut trinke und … ein Kind zeuge, mit … mit ihr?« Er deutete auf Magelia. »Nein! Selbst wenn ich bereit gewesen wäre, alles für dich zu tun – dies kommt nicht in Frage. Nie wieder trinke ich Blut, und diese Frau rühre ich nicht an.«
»Junger Herr, du verstehst nicht …«, begann Ubâd sanft.
»Sei still!«, rief Welstiel. »Du bist schuld an dieser ganzen Sache, und ich habe deine giftige Zunge satt.«
Er trat an seinem Vater vorbei, und zu Magelias großer Überraschung schien es ihm leichtzufallen, Bryens Hand von seiner Schulter zu lösen.
An der Tür zögerte Welstiel. »Wenn du jener maskierten Abscheulichkeit dienen willst, so musst du dabei auf mich verzichten«, sagte er zu seinem Vater.
Er verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Bryen ging ums Bett herum zur Tür und blieb davor stehen, ohne sie zu öffnen. Magelia schob sich langsam dem Schwert entgegen.
Lord Massing und Meister Ubâd standen reglos da.
»Kann ich seinen Platz einnehmen?«, fragte Bryen plötzlich. »Funktioniert es trotzdem?«
Ubâds Gesichtsausdruck blieb hinter der Maske verborgen, aber Magelia wusste, dass er verblüfft war. Sein Mund öffnete sich kurz, als wäre er von Bryens Vorschlag entsetzt.
Magelia erreichte den anderen Pfosten am Fußende des Bettes und machte einen weiteren Schritt in Richtung Schwert.
Ubâd fand schließlich die Stimme wieder. »Es muss eine Möglichkeit geben, seinen Gehorsam zu erzwingen. Er ist dein Sohn.«
Bryen sah zu Magelia, und sie blieb wie angewurzelt stehen. »Begehren kann nicht befohlen werden«, sagte er. »Und nach all den langen Vorbereitungen darf es jetzt nicht zu einem Fehlschlag kommen.«
Ubâd senkte den Kopf, so tief, dass Magelia nicht mehr seine Maske sah. Etwas in seiner Stimme deutete auf Kummer und Schmerz hin, als er erwiderte: »Nein, wir dürfen nicht versagen. Ich habe unseren Gebieter gehört und bin in seinem Traum vor ihn getreten. Mein ganzes Leben habe ich dieser Aufgabe gewidmet … Mach dich bereit.«
Lord Bryen ließ seinen Umhang fallen und zog das Hemd aus. Brust und Arme waren sehr muskulös, aber bleich und haarlos. Nichts deutete auf die Wunde hin, die ihm Magelia in ihrer Hütte mit dem Messer zugefügt hatte. Ubâd hob das metallene Gefäß und reichte es Bryen.
Magelia versuchte, ganz klein und unsichtbar zu werden. Sie behielt Bryen im Auge, als sie Zentimeter um Zentimeter an der Seite des Bettes entlangkroch.
»Du musst sofort trinken, wenn die Geister verschwinden«, wandte sich Ubâd an Lord Bryen.
Er begann mit einem leisen Sprechgesang, der langsam lauter wurde. Magelia spürte, wie ein Windstoß durchs Zimmer ging, obwohl die Tür verschlossen war und es auch hier keine Fenster gab. Das Bettzeug hob sich von der Matratze, und Magelia schreckte zurück.
Zwei matt glühende Schemen erschienen bei Ubâd und gewannen deutlichere Konturen, als seine Stimme lauter wurde. Sie waren transparent, aber Magelia sah die Farbe ihres Haars und der Kleidung. Die eine Gestalt war eine schöne Frau in mittleren Jahren mit hellbraunem Haar. Sie trug ein lohfarbenes Wollkleid und auf dem Kopf eine Krone aus Blättern. Ihre Begleiterin wirkte wild und hatte zerzaustes, verfilztes Haar. Ihre schwarze, rüstungsartige Kleidung schien wie die Haut einer Schlange aus Schuppen zu bestehen. Als sie Ubâd ansah, den Mund öffnete und fauchte, sah Magelia spitze Eckzähne.
Es waren die Geister toter Frauen, doch sie machten einen recht lebendigen Eindruck, sahen sich wütend und verwirrt um. Sie begannen zu schreien, als Ubâds Sprechgesang noch lauter wurde.
Die Gestalten zitterten und flackerten, verschmolzen plötzlich miteinander und verschwanden.
Ubâds laute Stimme hallte in Magelias Ohren, und Bryen hob das Gefäß an die Lippen und trank. Er vergoss etwas, und dunkelrote Flüssigkeit rann ihm aus den Mundwinkeln, über den Hals und auf die Brust.
Ubâds Sprechgesang hörte auf, und er lehnte sich erschöpft an die Wand. »Jetzt«, brachte er hervor.
Bryen ging erneut ums Bett herum.
Magelia sprang zum Schwert. Es glitt aus der Scheide, als sie herumwirbelte und die Klinge mit beiden Händen schwang. Bryens glasige Augen starrten sie hungrig an. Die Spitze des Schwertes berührte seine rechte Schulter und kratzte ihm über die Brust.
Er stieß einen schmerzerfüllten und überraschten Schrei aus. Magelia wankte unter dem Gewicht der Waffe, und das Bewegungsmoment trug sie zur Wand. Als sie versuchte, die Klinge erneut zu heben, kam Bryen plötzlich heran und versetzte ihr einen Schlag mit dem Handrücken.
Vor Magelias Augen blitzte es, und sie spürte, wie sie fiel. Das Schwert wurde ihr aus der Hand gerissen. Plötzlich fühlte sie die Matratze unter sich, und es entstand wieder ein Bild vor ihren Augen. Bryen saß auf ihr und zerriss das Seidengewand. Als er sie am Arm ergriffen und durch den Flur in dieses Zimmer gezogen hatte, war seine Haut kalt gewesen, doch jetzt schien sie zu brennen. Er beugte sich herab, und das Blut an seiner Brust befleckte ihren Oberkörper.
Magelia versuchte, sich zur Wehr zu setzen, aber es hatte keinen Sinn – er war viel stärker als sie und hielt sich gar nicht damit auf, ihre Arme festzuhalten. Er drang in sie ein, und ein stechender Schmerz zuckte durch ihren Körper.
An mehr erinnerte sich Magelia nicht. Kälte holte sie schließlich aus der Bewusstlosigkeit zurück, und sie sah Bryen, der am Fußende des Bettes stand, mit einem Gesichtsausdruck, den sie bei ihm nicht erwartet hatte.
Furcht.
Voller Pein verzog er das Gesicht, als es im Zimmer noch kälter wurde. »Nein!«, ächzte er entsetzt.
Tiefe Falten bildeten sich in seinem Gesicht, und die Haut verlor noch mehr an Farbe.
Zwischen Magelias Beinen schien ein Feuer zu lodern, und der Rest ihres Körpers fühlte sich an wie in Eis gehüllt. Aber sie achtete nicht auf diese Empfindungen und beobachtete, wie Bryen alterte.
»Ubâd!«, rief er, seine Stimme so brüchig wie die eines alten Mannes. »Warum hast du mir nicht den Preis genannt?«
»Weil du nicht bereit gewesen wärst, deinen Sohn zu opfern«, lautete die hohle Antwort, und Ubâd wandte den Blick ab.
»Und du bist bereit, mich zu opfern?«, fragte Bryen. Es war kaum mehr als ein Krächzen.
»Wir dürfen nicht versagen«, erwiderte Ubâd.
Bryen verschrumpelte immer mehr, und das Haar fiel ihm aus. Seine Haut trocknete ein, spannte sich über den Knochen und riss dann wie altes, gebleichtes Pergament.
Magelia wollte nicht noch mehr sehen und schloss die Augen.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie erneut das Bewusstsein wiedererlangte. Düsternis umgab sie – das einzige Licht im Raum stammte von den tanzenden Lichtern in der Glaskugel. Welstiel stand neben ihr an der Seite des Himmelbetts.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
Magelia holte tief Luft und gab keine Antwort. Sie hielt ihre Tränen zurück – diese Wesen sollten nicht sehen, wie sie weinte. Ihr ganzer Körper schmerzte, und sie hatte nicht die Kraft, sich aufzusetzen.
»Hilf ihr«, sagte Welstiel und sah durchs Zimmer.
Magelia drehte mühsam den Kopf. Einer der beiden Wächter stand auf der anderen Seite des Bettes. Er beugte sich vor, schob die Arme unter sie und hob sie hoch.
»Vorsichtig«, fügte Welstiel hinzu.
Magelia war so erschöpft, dass sie kaum merkte, was mit ihr geschah. Der Wächter trug sie in ein anderes Zimmer mit einem großen Bett und einem weißen Kleiderschrank. Die Bedienstete, die sie zuvor angekleidet hatte, eilte umher, füllte Schüsseln mit Wasser und brachte Handtücher. Magelia wurde aufs Bett gelegt, und Welstiel beobachtete das Geschehen kummervoll, ohne selbst einzugreifen.
»Mein Vater ist fort, und jetzt bin ich hier der Herr«, sagte er. »Du trägst sein Kind, und niemand wird dir etwas zuleide tun. Dieses Dienstmädchen hier wird sich um dich kümmern. Wenn du irgendetwas brauchst, so bringt sie es dir.«
Während der folgenden Tage und Nächte durfte Magelia die Feste nicht verlassen. Sie fühlte eine Veränderung in sich und begegnete der Sorge, die Welstiel ihr nun entgegenbrachte, mit immer mehr Dankbarkeit. Ihre Abhängigkeit von ihm wuchs, bis sie fast die Schatten in ihrem eigenen Zimmer fürchtete, wenn er nicht da war. Sie schlief am Tag, damit sie während ihrer wachen Stunden nicht allein sein musste, sondern bei ihm sein konnte.
Manchmal zog er sich zurück, aber in den meisten Fällen hatte er nichts gegen ihre Präsenz einzuwenden, solange sie ihn nicht berührte und nicht zu oft sprach, wenn er beschäftigt war. Als die Schwangerschaft ihren Bauch anschwellen ließ, achtete er mehr darauf, dass sie es bequem hatte. Er bestellte sogar Wollkleider mit offenen Leibchen, damit es für das ungeborene Kind nicht zu eng wurde.
Welstiel zog in ein anderes Zimmer um und ließ die Einrichtung seines alten – darunter auch das Himmelbett – wegschaffen und verbrennen. Er behielt die Kugel mit den tanzenden Lichtern, kehrte aber nie in jenen Raum zurück. Meister Ubâd durfte bleiben, unter der Bedingung, dass er Welstiel aus dem Weg ging.
»Warum schickst du den grässlichen Mann nicht weg?«, fragte Magelia eines Nachts.
Sie saßen in Welstiels neuem Zimmer, wo sie eine Decke für das Kind bestickte. Er verbrachte dort viele Stunden damit, seltsame Objekte anzufertigen, ritzte Symbole hinein und murmelte dabei Worte, die Magelia nicht verstand.
»Weil du ihn vielleicht brauchst, wenn das Kind geboren wird«, erwiderte er.
Seine Antwort war so unerwartet, dass sie innehielt. Die alte Magelia hätte ihm gedroht, ihn mit einem Schwert zu durchbohren, wenn er so dumm gewesen wäre, Ubâd in die Nähe des Kindes zu lassen. Aber sie fürchtete, dass er ging, wenn sie unfreundlich wurde, und sie wollte an diesem Ort nicht allein sein.
»Warum glaubst du das?«, fragte sie. »Es gibt eine gute Hebamme im Dorf.«
Seit einer Weile arbeitete Welstiel an einem dünnen Messingring, der einen großen Teil seiner Zeit beanspruchte. Einmal brauchte er fast eine ganze Nacht, um mit seinem Stahlgriffel ein einziges winziges Symbol in die Innenseite des Rings zu ritzen. Abgesehen davon gab es noch ein Objekt, das Magelia faszinierend fand: einen glühenden Topas neben den in Leder gebundenen Büchern.
Welstiel sah ein wenig verärgert von dem Ring auf. »Du trägst kein natürliches Kind in dir, und deshalb kann man auch keine natürliche Geburt erwarten. Vielleicht brauchen wir Meister Ubâds Wissen.«
Magelia nickte und konzentrierte sich wieder auf ihre Stickerei. Sie würde einen Weg finden, Ubâd von ihrem Kind fernzuhalten.
Welstiel schob sich den Ring auf den Finger. Das Glühen des Topas auf dem Schreibtisch hörte plötzlich auf, und Welstiel nickte zufrieden.
»Perfekt«, murmelte er. Magelia fragte nicht nach dem Grund seiner Zufriedenheit.
Während des fortgeschrittenen Stadiums ihrer Schwangerschaft befürchtete er, dass sie nicht genug Bewegung und frische Luft bekam. Früh am Abend ging er mit ihr auf dem Hof spazieren. Manchmal brachte er die Kugel mit, damit er sitzen und lesen konnte, während sie den Spaziergang fortsetzte – es machte ihr nichts aus, solange er in Sichtweite blieb. Immer wieder fragte sie sich, ob seine Sorge ihr oder dem ungeborenen Kind galt.
Als sie eines Abends auf dem Hof ihre Runden drehten, wirkte Welstiel zerstreuter als sonst.
»Stimmt was nicht?«, fragte Magelia vorsichtig, denn er mochte keine Neugier in Hinsicht auf seine persönlichen Angelegenheiten.
»Nein.« Er schien mehr zu sich selbst zu sprechen. »Während meines heutigen Schlafes hatte ich einen Traum. Ich wusste gar nicht, dass ich noch träumen kann, denn ich hatte keinen seit … seit längerer Zeit.«
»Ein Albtraum?«, fragte Magelia.
Welstiel sah sie an. Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn, als bereitete es ihm Unbehagen, über eine persönliche Angelegenheit zu sprechen. Er machte eine beiläufige Bemerkung über Reparaturarbeiten an der Hofmauer, zögerte dann und hob die Hand zur weißen Stelle an der Schläfe.
»Was ist?«, fragte Magelia. »Bist du krank?«
Er antwortete nicht und flüsterte mit jemandem, den sie nicht sah. Nach einigen Momenten fand er wieder zu sich selbst zurück und führte sie ins Innere des Bergfrieds.
Nach jener Nacht veränderte sich Welstiel auf subtile Weise.
Er war nie unhöflich, schränkte ihre wenigen Unterhaltungen aber noch weiter ein. Wenn er sprach, so begnügte er sich damit, Magelia nach ihrem Befinden und dem Ungeborenen zu fragen. In manchen Nächten wirkte er ausgeruht, in anderen so erschöpft, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Wenn das der Fall war, flüsterte er vor sich hin und rieb sich die Schläfen, wie von Kopfschmerzen geplagt.
Zwei weitere Monde lang schwoll Magelias Bauch an, und sie spürte, wie das Baby sich in ihr bewegte. Sie fand das Gefühl angenehm und sprach mit dem Kind, da es sonst praktisch niemanden mehr gab, mit dem sie sprechen konnte. Es war ihr gleich, wer das Kind gezeugt hatte. Es gehörte ihr, ihr allein.
Welstiel braute Elixiere zusammen, trank sie und verbrachte mehr Zeit mit nächtlichen Sprechgesängen. Sein Geisteszustand verbesserte sich. Was auch immer ihm zusetzte, er schien es allmählich unter Kontrolle zu bekommen. Gleichzeitig wuchs sein Interesse an dem Kind.
Eines Nachts, als er in seinem Zimmer arbeitete, kam Magelia ohne anzuklopfen herein und sah ihn am Schreibtisch sitzen, mit einem blutigen Verband um den linken kleinen Finger. Er ließ etwas in eine Schüssel fallen, und die Flüssigkeit darin zischte und blubberte. Magelia trat hinter Welstiel, der so sehr auf seine Arbeit konzentriert war, dass er sie gar nicht bemerkte. Neben der Schüssel lagen die einzelnen Teile eines Anhängers mit einer leeren Zinnhalterung und daneben ein blutiges Küchenmesser.
Magelia senkte den Blick und schnappte nach Luft. Was da in der Schüssel zischte, war der obere Teil seines kleinen Fingers. Säure löste die Haut auf.
Als sie ihn an der Schulter berührte, zuckte er zusammen und drehte sich ruckartig um. »Hinaus mit dir!«, befahl er. »Ich arbeite.«
Magelia floh in ihr Zimmer und hielt sich den Bauch. Die alte, grimmige Magelia flüsterte in ihr, dass sie das Kind vielleicht vor mehr schützen musste als nur vor Ubâd.
In jener Nacht setzten ihre Wehen ein. Welstiel verhielt sich wie der höflich-umsichtige Mann, der er zu Anfang und in der Mitte ihrer Schwangerschaft gewesen war, vor seinen Träumen. Er ließ ihr von dem Wächter, dessen Namen sie sich nie gemerkt hatte, ins Bett helfen und rief das Dienstmädchen.
»Ich hole die Hebamme«, sagte er.
»Sie heißt Betina«, teilte ihm Magelia mit. »Sie hat mich auf die Welt gebracht.«
Trotz der Schmerzen, die ihr die Wehen bereiteten, brachte sie ein Lächeln für Welstiel zustande. Er wollte sich selbst auf den Weg zur Hebamme machen, anstatt einen Wächter zu schicken. Das Stechen in ihrem Unterleib wurde stärker und häufiger, doch sie schrie nicht. Einige Zeit nachdem Welstiel gegangen war, rollte sie sich auf die Seite und sah zur Tür.
Meister Ubâd stand dort und schien sie durch seine augenlose Maske zu beobachten.
»Bleib von uns weg«, sagte Magelia.
Er glitt fort von der Tür und verschwand im Flur.
Welstiel schien lange unterwegs zu sein, aber dies war Magelias erstes Kind, und die Wehen dauerten lange. Sie fühlte, wie das Kind kam, und sie dachte daran, dass sie pressen musste. Als sie es versuchte, war der Schmerz so enorm, dass sich das Zimmer um sie herum verdunkelte und sie schrie.
Die Bedienstete eilte zu ihr. »Was ist los?«
Bevor Magelia antworten konnte, drückte das Kind in ihr von ganz allein nach unten, und sie schrie erneut.
Welstiel kam herein, dichtauf gefolgt von der Hebamme Betina. Er trug ein kleines Bündel in einer blutigen, ausgefransten Decke.
»Was ist das?«, flüsterte Magelia.
»Hinaus!«, befahl er der Bediensteten.
Die junge Frau verließ das Zimmer, und Magelia war mit Betina und Welstiel allein.
Das Kind drückte erneut, und der stechende Schmerz war so stark, dass sie weder sprechen noch atmen konnte. Kleine Messer schienen sie von innen zu zerschneiden – es fühlte sich an, als kratzte sich das Ungeborene mit Krallen einen Weg nach draußen. Betina beugte sich über sie. Ihr Gesicht war kalkweiß, als hätte sie Schreckliches hinter sich oder als ginge es ihr nicht gut.
»Magelia …«, sagte sie. »Halt aus, Mädchen. Lass mich mal sehen.«
Welstiel setzte das Bündel ab und ging neben Magelia am Kopfende des Bettes in die Hocke. Sie fühlte plötzlich warme Nässe zwischen ihren Beinen und vermutete, dass ihr Fruchtwasser kam.
Betina schnappte nach Luft, und da wusste Magelia, dass sie sich irrte.
»Sterbe ich?«, flüsterte sie Welstiel zu.
»Ja.«
»Hast du das gewusst?«
»Ich habe es vermutet.«
»Du musst das Kind schützen«, flehte sie ihn an. »Bring es vor Ubâd in Sicherheit.«
Er blickte ihr in die Augen und griff dann nach ihrer Hand. Es war das erste und letzte Mal, dass er sie berührte.
»Ich habe Vorkehrungen getroffen«, sagte er. »Ubâd wird das Kind nicht bekommen – wenn er fest daran glaubt, dass es tot ist. Hilf mir, wenn du dein Kind liebst.«
Magelia verstand nicht, was er meinte, und Schmerz zerriss ihre Gedanken, als sie erneut die Schnitte der Messer in ihrem Bauch spürte. Nach einer gefühlten Ewigkeit rutschte das Kind aus ihr und in Betinas Hände.
»Ist alles in Ordnung mit ihm?«, fragte sie schwach.
»Ein Mädchen«, antwortete Betina. »Ein gesundes Mädchen mit deinem schwarzen Haar.«
Sie wischte das Neugeborene ab, hüllte es in ein weiches Wolltuch und legte es neben Magelia. Das Kind war noch immer blutverschmiert, aber wunderschön.
Welstiel trat hinter Betina, die vorgebeugt stand und mit einem gezwungenen Lächeln auf Mutter und Kind hinabblickte.
Er fasste nach ihrem Hals und brach ihr mit einer Hand das Genick.
Magelia glaubte sich in einem Albtraum, als Betina tot zu Boden sank. Welstiel nahm das Bündel, mit dem er hereingekommen war, und öffnete es. Darin befand sich ein totes Kind mit dunklem Haar. Die Kehle war durchgeschnitten.
»Was hast du getan?«, brachte Magelia hervor.
Er holte den Messingring heraus und schob ihn auf den Finger. »Ubâd wird bald hier sein. Sag ihm, dass ich dies getan habe. Sag ihm, ich hätte das Kind getötet, um meinen Vater zu rächen, und wäre dann geflohen. Er wird mich verfolgen, aber nicht finden.«
Magelia betrachtete den Ring und erinnerte sich: Vor Monaten, als Welstiel ihn zum ersten Mal auf den Finger gesteckt hatte, war das Licht des Topas verschwunden. Sie wusste nicht, was es bedeutete, aber Welstiel schien sicher zu sein, mit dem Maskierten fertig werden zu können.
»Ich muss einige Dinge für das Kind zusammensuchen«, sagte er. »Anschließend bringe ich es fort von hier. Wenn Ubâd es für tot hält, wird er nicht zurückkehren.«
Er nahm das Neugeborene, und Magelia hob die Hand. Welstiel zögerte lange genug, um ihr Gelegenheit zu geben, ihre Tochter zu berühren. Dann wandte er sich ab, hüllte das Baby in ein sauberes Tuch und legte den toten Säugling ans Fußende des Bettes.
»Sag Ubâd, was du eben von mir gehört hast, Magelia, dann wird deine Tochter sicher sein.«
»Mein blaues Kleid«, flüsterte sie. »Bewahr es für sie auf.«
Welstiel nickte, und das war alles. Er trat in den Flur, sah in beide Richtungen und verschwand.
Zeit verging, und Magelia versuchte, die Augen offen zu halten und bei Bewusstsein zu bleiben, bis sich der Feind zeigte.
Eine verschwommene Gestalt, in einen Kapuzenmantel gehüllt, erschien neben ihrem Bett. Sie blickte auf Betinas Leiche hinab, betrachtete dann das tote Kind am Fußende des Bettes.
»Welstiel«, flüsterte Magelia. »Er hat seinen Vater gerächt. Du wirst meine Tochter nie bekommen.«
Ubâd war nicht mehr als ein Schemen im dunklen Zimmer, doch sein schmerzerfülltes Stöhnen brachte ihr Befriedigung. »Wo ist er?«, rief der Magier.
»Fort«, hauchte Magelia. »Weit weg.«
Sie schloss die Augen – die Lider waren zu schwer, um sie weiter oben zu halten.
Magiere fühlte den Höhlenboden unter ihren Knien. Über dem Bottich erschien Magelias Gesicht mit einem traurigen Lächeln, und dann verschwand sie.
»Du Mörder«, zischte Magiere und sah Ubâd an.
Sie sprang auf und schwang das Falchion. Er löste sich einfach in Luft auf, und Magiere wirbelte herum, als seine Stimme hinter ihr erklang.
»Du fühlst mit ihr, und das solltest du auch«, sagte er. »Aber denk nach, Dhampir. Du bist ein Geschöpf aus Leben und Tod, aus Tag und Nacht. Denk an die langen Vorbereitungen dafür, an die Opfer, die dargebracht wurden, um dich in diese Welt zu bringen. Du bist Jahre hinter dem zurück, wo du in Hinblick auf Macht und Bewusstsein sein solltest, aber du bist zu mir zurückgekehrt, und es war deine eigene Entscheidung. Das ist kein Zufall.«
»Du hast ihr das alles angetan und sie dann einfach sterben lassen.«
Der matte Fackelschein in der Höhle wurde heller, und Magiere wusste, dass ihre Augen schwarz geworden waren. Sie fühlte, wie die Eckzähne im Mund wuchsen, ebenso ihre Fingernägel, die sich in Krallen verwandelten.
»Möchtest du sehen, wie groß meine Macht geworden ist?«
Vordana trat zu Ubâd, Sorge zeigte sich in seinem von Verwesung halb zerfressenen Gesicht. Magiere hörte Leesil hinter sich, nicht weit entfernt, und Chap, der sich nach rechts wandte.
»Hör mir zu!«, rief Ubâd. »Du bist, was du bist, und nichts kann daran etwas ändern, also stell dich der Wahrheit und akzeptiere sie. Unser Gebieter wird dich über alle anderen stellen, und du musst dich nur mit dem abfinden, wer du bist. Gib dein lächerliches Rollenspiel auf – du kannst nicht jemand anders sein. Tritt an die Seite des Gebieters.«
Magiere spürte, wie die Kontrolle zurückkehrte. Sie verstand Ubâds Worte nicht, und sie scherte sich auch nicht um den »Gebieter«, wer oder was auch immer das sein mochte. Sie hielt ihre Veränderungen fest und ließ nicht zu, dass ihre Dhampir-Aspekte zurückwichen.
Ubâd war kein vager Schemen mehr, von dem etwas Einschüchterndes ausging. Magiere sah nur einen weiteren armseligen, egoistischen Verschwörer – wie Welstiel –, der dabei geholfen hatte, ihre Mutter zu töten. Spontan drehte sie den Kopf und sah zu Leesil.
Er beobachtete sie, die Klingen in beiden Händen. Das lange weißblonde Haar war hinter die spitz zulaufenden Ohren geschoben, und Misstrauen lag in den schrägen Augen. Es löste sich auf, als er sah, dass sie diesmal keiner unkontrollierten Wildheit zum Opfer fiel.
»Du bist Magiere«, sagte er mit fester Stimme. »Nichts kann daran etwas ändern. Und ich kenne dich. Du gehörst zu mir, nicht zu ihnen … wem auch immer sie dienen.«
Er sah zu Ubâd und hob ein wenig die Klingen, bereit zum Angriff.
Magiere spürte die Furcht hinter seinem Zorn – sie schien mit seinen Empfindungen verbunden zu sein. Etwas in Ubâds Worten brannte in ihm, etwas, das nicht nur den Fanatismus und die Machtgier des Maskierten betraf. Magiere trat einen Schritt vom Nekromanten und seinem untoten Diener zurück.
»Euer Stündchen hat geschlagen!«, sagte Leesil scharf.
Er sprang vor und schlug mit einer Klinge nach Vordanas Kehle. Der Zauberer wich aus, auf die gleiche Weise wie während des Kampfes auf der Straße. Leesil folgte ihm mit dem Bewegungsmoment seines Körpers und schwang herum – die linke Klinge schnitt durch Vordanas Schulter.
»Chap!«, rief der Halbelf.
Vordana taumelte und hielt sich die Schulter, als Chap heranjagte. Unterdessen hatte sich Wynn genähert, ihre Armbrust genommen und sie geladen. Magiere wandte sich Ubâd zu, holte mit dem Falchion aus und zielte auf seinen Hals.
Wieder befand sich der Maskierte plötzlich außerhalb ihrer Reichweite.
Magiere setzte zu einem neuerlichen Hieb an, und diesmal sah sie ein kurzes Wogen um Ubâd herum. Seine Gestalt wurde undeutlich und durchsichtig, und dann stand er einen Schritt weiter hinten. Das Wogen hörte auf, doch zuvor sah Magiere noch einige grauweiße Schlieren, wie die Geister, die Leesil und Wynn angegriffen hatten.
Ubâd griff auf die Hilfe der Geister zurück, um ihr zu entkommen. Irgendwie trugen sie ihn fort, wenn er es wünschte, ohne dass er ein Wort sprach.
Die Geister kehrten zurück.
Sie huschten durch die Höhle und verschmolzen dabei teilweise miteinander. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde es kälter. Die junge Frau mit dem Striemen am Hals flog durch Wynn hindurch, die aufschrie und ihre Armbrust fallen ließ.
»Schluss damit!«, rief Magiere.
Zwei weiße Schemen sausten ihr entgegen, und sie versuchte ihnen auszuweichen. Einer traf ihre Schulter, der andere ihren Unterleib. Magiere spannte unwillkürlich die Muskeln.
Nichts geschah.
Der erwartete Schmerz blieb aus. Der Angriff der Geister blieb ohne jede Wirkung auf sie.
Die Frau mit den dunklen Locken und der zerfetzten Kehle erschien. Ihre Gestalt schien feste Substanz zu gewinnen und dann wieder zu verlieren, als sie durch Chap hindurchflog. Der Hund bellte nicht, sondern rollte sich von Vordana herunter und wich verwirrt zurück.
Ein leises Schmatzen erklang aus dem rückwärtigen Teil der Höhle, begleitet von schweren Schritten. Zwei Gestalten kamen aus der Düsternis, und ihr Anblick ließ Magiere schaudern.
Sie hatten graugrüne Haut, waren wie Seeleute gekleidet und mit Säbeln bewaffnet. Dem einen fehlte ein Ohr. Der größte Teil ihres Haars war ausgefallen, und an den kahlen Stellen löste sich die Haut auf. In den Gesichtern wies nichts auf Bewusstsein oder Gefühle hin, während sich die Münder immer wieder öffneten und schlossen – dabei ertönten die schmatzenden Geräusche. Wynn wankte von ihnen fort in Richtung Leesil, presste sich dabei die Hand auf die Brust.
Vordana stand desorientiert auf und hielt sich noch immer die verletzte Schulter. Er wandte sich Leesil zu, der einem weiteren weißen Schemen auswich. Magiere wusste, dass er den Geistwesen nicht lange entgehen konnte, und Wynn schien in dieser Hinsicht noch ein ganzes Stück hilfloser zu sein als er. Diese Konfrontation stellte etwas völlig Neues dar. Leesils Kampfgeschick und Wynns Wissen nützten ihnen hier kaum etwas.
Magieres innere Unruhe wuchs, als sie in einem Scheinangriff ihre Klinge nach Ubâd stieß. Sie musste etwas unternehmen, um zu verhindern, dass Leesil oder Wynn in dieser Höhle starben. Als sie erneut das Flirren um Ubâd herum beobachtete, langte sie mit der freien Hand nach vorn – sie fuhr genau durch die Stelle, an der sich der Maskierte eben noch befunden hatte.
Für einen Moment hatte es den Anschein, als verschwände Magieres Hand in seinem Körper, und dann stand er einen Schritt weiter von ihr entfernt. Sie setzte die Bewegung fort, beugte sich nach vorn und bekam Ubâds Kehle zu fassen. Rasch trat sie neben ihn, den anderen zugewandt, und legte ihm den Waffenarm so um die schmale Brust, dass die Klinge des Falchions an seiner Kehle lag.
»Ruf sie zurück!«, befahl sie. »Sie alle. Oder ich schneide dir die Kehle durch.«
Die Geister verharrten, ebenso die beiden halb verwesten Seemänner. Vordana drehte sich zu ihr um.
Er war wachsam und still. Die Wunde, die Leesil ihm zugefügt hatte, machte ihm offenbar mehr zu schaffen, als Magiere erwartet hatte.
Seine Worte erklangen deutlich hinter Magieres Stirn.
Wenn du ihm etwas antust, Dhampir, so wirst du es auf eine Art und Weise bereuen, die du dir nicht vorstellen kannst.
»Leesil … Wynn!«, rief Magiere. »Ihr beide, lauft! Mir können die Geister und Vordana nichts anhaben.«
Leesil wandte sich halb um und richtete einen ungläubigen Blick auf sie. »Nein. Sie wollen dich.«
»Bring Wynn weg von hier!«, rief sie. »Diese Geister können sie und dich töten, aber nicht mich oder Chap. Lauft zum Wagen. Wir treffen uns dort.«
Ihr Blick beschwor Leesil, auf sie zu hören. Selbst wenn Vordana seine Schwäche überwand – er konnte ihr oder Chap nicht so die Kraft nehmen wie Leesil oder Wynn. Bei diesem Kampf war ihr Partner nicht in der Lage, ihr zu helfen. Ganz im Gegenteil: Wenn er blieb, musste sie sich Sorgen um ihn machen. Aber er konnte Wynn retten und ihr und Chap damit zusätzlichen Bewegungsspielraum verschaffen.
Chap bellte einmal – ein klares »Ja!« – und fügte ein Knurren hinzu, das Vordana galt.
Leesils Blick ging zum Hund, kehrte dann zu Magiere zurück. Er schien zu verstehen, verzog das Gesicht und wich zurück, ergriff Wynn, die gerade ihre Armbrust aufhob, am Arm. Er zog sie mit sich, vorbei an den beiden grässlichen Seemännern und in den Flur, der zum Haus führte.
Chap umkreiste Vordana. Der Zauberer neigte den Kopf von einer Seite zur anderen, um gleichzeitig ihn und Magiere im Auge zu behalten.
Magiere sah nur einen Ausweg aus dieser Pattsituation. Sie hoffte, dass Chap Vordana zu Fall bringen konnte, bevor sich die Gedanken des untoten Zauberers erneut einen Weg in sein Selbst bahnten.
Sie machte sich daran, Ubâds Hals aufzuschlitzen.
Als sich die Muskeln in ihrem Arm spannten, schlossen sich seine knochigen Finger um ihr Handgelenk, und weißes Wabern umhüllte sie beide.
Die Geister hatten es nicht auf sie abgesehen. Sie durchdrangen Ubâds Kapuzenmantel und verschwanden darunter, ohne wieder zum Vorschein zu kommen. Magiere beobachtete, wie einer im Unterarm des Maskierten versank, und daraufhin wurde der Griff an ihrem Handgelenk so fest, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte.
Ubâds andere Hand flog nach vorn, und von seinen Fingern ging eine Wolke weißen Pulvers in Richtung Bottich aus.
Licht blitzte durch die Höhle. Als die Dunkelheit zurückkehrte, wurden Magieres Arme beiseitegestoßen. Sie taumelte zurück und fiel auf den kalten Boden.
Magiere blinzelte zweimal, kam wieder auf die Beine und schwang das Falchion nach vorn. Das Bild vor ihren Augen klärte sich, und sie sah Chap, der durch die Höhle lief, am Boden schnüffelte und in die Schatten jenseits des Fackelscheins spähte.
Ubâd, Vordana, die Geister und die beiden Untoten mit den Säbeln – sie alle waren verschwunden.
Chap lief zum Flur, drehte sich um und bellte. Magiere blieb kurz stehen, nahm den Kristall aus Wynns kalter Lampe und steckte ihn ein. Dann folgte sie dem Hund in den Flur.
Sie lief durch das kleine Haus, vorbei an den Krügen mit Körperteilen, und erreichte die vordere Tür. Der Eisenstab, der daneben an der Wand gelehnt hatte, war nicht mehr da. Als sie nach draußen trat, rannte Chap sofort über den Hof, schnüffelte und versuchte offenbar, Witterung aufzunehmen. Weit und breit war niemand zu sehen.
Hier und dort glühte es zwischen den Bäumen, und Magiere beobachtete, wie überall Geister durch den Wald flogen.
Chap begann zu bellen. Er lief ein kurzes Stück auf die Bäume zu, blieb stehen und sah zurück. Magiere folgte ihm, und daraufhin rannte der Hund wieder los. Er stob in den Wald und hielt nur lange genug inne, damit Magiere zu ihm aufschließen konnte.
Eine matt phosphoreszierende Gestalt trat hinter einem Baum hervor und Chap in den Weg. Mit einem kehligen Knurren, das seinen ganzen Körper erzittern ließ, blieb er stehen.
Der Geist eines kleinen Mädchens stand vor Magiere und sagte:
»Folge mir.«
Ubâds hohle Stimme erklang in diesen beiden Worten.