14

Der Winter rückte näher, und durch den Schlamm auf den Straßen dauerte die Reise nach Apudâlsat länger als erwartet. Diesen Eindruck gewannen sie jedenfalls.

Als Wynn das erste Mal darauf bestand, vorn zu sitzen und die Zügel zu übernehmen, war Leesil überrascht und Magiere besorgt. Glaubten sie vielleicht, dass sie nicht fähig war, zwei sanfte, gut abgerichtete Pferde in die richtige Richtung zu lenken?

»Ich bin mir nicht sicher, ob …«, begann Leesil.

»Ich habe mehr Zeit mit Pferden verbracht als du«, kam Wynn ihm zuvor. »Und ich habe mich dabei weitaus weniger beklagt.«

Leesil warf ihr einen finsteren Blick zu und kletterte nach hinten, damit sie Platz genug hatte, nach vorn zu kommen. Wynn nahm auf der Kutschbank Platz und ließ sich von Magiere die Zügel reichen. Als Magiere neben ihr sitzen blieb, sah Wynn sie an.

»Ich komme zurecht«, sagte sie betont höflich. »Du solltest dich ebenfalls ausruhen.«

»Ich bin nicht müde«, erwiderte Magiere und behielt die Straße im Auge. Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als Leesil von hinten den Arm um ihre Taille schlang.

»He!«, entfuhr es Magiere, aber es war zu spät.

Leesil zog, und Wynn beugte sich zur Seite, als Magiere nach hinten auf die Ladefläche des Wagens sank.

»Leesil, verdammt!«, stieß Magiere hervor. »Was fällt dir ein …

Sie verstummte, und Wynn sah nicht nach hinten, um festzustellen, wie Leesil Magiere zum Schweigen gebracht hatte. Leesils Stimmung war besser geworden, seit sie Kéonsk verlassen hatten.

Chap kletterte neben Wynn auf die Kutschbank und ließ sich dort mit einem leisen Knurren nieder.

Abgesehen von diesem einen Moment verlief die Reise friedlich, obgleich die Nächte kälter wurden und die Straßen schlechter, als sie sich der sumpfigen Region im Osten von Dröwinka näherten. Tag für Tag waren sie unterwegs, brachen früh am Morgen auf und fuhren manchmal bis nach Sonnenuntergang.

Nicht nur Leesils Verhalten hatte sich verändert, sondern auch Chaps. Er quengelte nicht mehr bei den Mahlzeiten, verzichtete darauf, um den einen oder anderen Happen zu betteln, und war im Großen und Ganzen gefügiger. Wenn Magiere das Ziel der Reise erwähnte, blieb ein Knurren von ihm aus. Wynn wusste nicht, was sie mehr beunruhigte: sein verändertes Gebaren oder die ständige Wachsamkeit, mit der er in den dichter werdenden Wald starrte. Mehrmals versuchte sie festzustellen, was er beobachtete, sah aber kaum etwas und hörte nur quakende Frösche, ein gelegentliches Platschen in einem Teich oder den fernen Ruf eines Vogels. Manchmal wurde der Sumpfgestank so stark, dass sie eine Grimasse schnitt.

Kurz vor der Abenddämmerung des siebten Tages hielt Leesil die Zügel in der Hand und deutete plötzlich nach vorn.

Zuerst konnte Wynn nichts Besonderes erkennen. Grauweiße Wolken hingen am Himmel, und der ferne Horizont zeigte sich nur dort, wo die Straße durch den Wald führte. Weiter vorn ragte etwas Dunkles auf, wie ein kleiner Tafelberg, der sich aus dem Wald erhob. Eine Feste, vermutete Wynn.

Magiere sah ebenfalls in die Richtung, in die Leesil deutete.

In Wynn rang Anteilnahme mit Wachsamkeit, als sie die Anspannung in Magieres Gesicht bemerkte. Jedes bisher entdeckte Stück von Magieres Vergangenheit war finsterer gewesen als das vorherige.

Kurze Zeit später überquerten sie eine aus Stein und Holz bestehende Brücke, die über einen der vielen langsam fließenden Bäche führte.

Schilf wuchs am Ufer, in dem sich viele verrottende Zweige verfangen hatten. Auf der anderen Seite stieg das Gelände an, und der Weg führte zu den Resten eines unbewohnten Dorfes. Die Dächer der Hütten waren voller Löcher oder ganz eingestürzt; Türen fehlten.

Niemand auf dem Wagen sprach ein Wort, als sie durch den Ort namens Apudâlsat kamen.

Leesil hatte früher darauf hingewiesen, dass der Name »Wassertiefen-Dorf« bedeutete, und der Grund dafür wurde klar, als die Straße einen Bogen in Richtung Feste beschrieb und auf eine weitere Brücke traf. Sie überspannte einen breiten Teich mit grünem, schmutzigem Wasser. Das Dorf lag auf einer Anhöhe im Sumpf und war auf allen Seiten von Morast und Mooren umgeben. Hinter dieser Brücke führte die Straße geradeaus weiter, und voraus ragte die Feste auf. Leesil zügelte die Pferde, und alle kletterten vom Wagen herunter.

Wynn nahm ihre Sachen und näherte sich der Feste, bevor die anderen so weit waren. Zusammen mit Domin Tilswith hatte sie einige alte Gebäude und Festungsanlagen untersucht, aber nichts von dieser Art. Im Vergleich hiermit befand sich der Bergfried in der Nähe von Magieres Heimatdorf in einem ausgezeichneten Zustand.

Das Holztor in der Außenmauer war halb verfault, und ein ordentlicher Tritt hätte genügt, um die Reste zerbröckeln zu lassen. Der obere Teil des Hauptgebäudes war eingestürzt; große, moosbedeckte Steine lagen auf dem Hof.

Wynn blickte zum Dorf zurück, konnte es durch den Wald aber nicht sehen. »Was ist hier geschehen?«

»Bürgerkrieg, Hunger und vielleicht Krankheiten, vor langer Zeit«, sagte Leesil. »Dadurch kann ein Lehen so viele Menschen verlieren, dass nicht genug übrig bleiben und es zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch kommt. Und besonders gutes Ackerland scheint dies hier nicht zu sein. Wer weiß, wovon die hiesigen Leute gelebt haben.«

Aus irgendeinem Grund glaubte Wynn nicht, dass sich das, was hier geschehen war, so einfach erklären ließ. Durch die Stille dieses Ortes schien es noch kälter zu werden. Zwar konnte sie das Dorf nicht sehen, aber die moosbehangenen Bäume, die ihr den Blick darauf verwehrten, trugen selbst unübersehbare Zeichen.

»Seht nur«, sagte sie und streckte die Hand aus. Magiere trat an ihre Seite.

Eine alte Fichte unweit der Außenmauer hatte sich braun verfärbt. Einige Zweige und Äste waren abgebrochen oder verfault, und ihre Stümpfe hatten sich ebenso verfärbt wie die Reste des Tores, wirkten fast schwarz. Andere Bäume befanden sich in einem ähnlichen Zustand, und selbst auf den Steinen im Hof bildeten Flechten und Moos nur dunkle Flecken. In der Nähe der Feste von Apudâlsat nagte der Tod an der Welt und hinterließ Zeichen, die Wynn nur zu vertraut erschienen.

Chap kam zu ihr und knurrte einmal, schob dann den Kopf unter ihre Hand. Sie streichelte ihn geistesabwesend und beobachtete weiterhin die Spuren des Verfalls im Wald.

»Wir sollten hineingehen«, wandte sie sich an Magiere. »Osceline sagte, ihr Herr würde Bescheid wissen, wenn du eintriffst. Hier wartet niemand auf uns, und wir erfahren nicht mehr, wenn wir hier draußen herumstehen.«

Magiere sah in den Wald, die eine Hand am Griff ihres Falchions, drehte sich dann um und ging los. Wynn folgte ihr. Leesil übernahm vor ihnen die Spitze.

Von der Holztür der Feste war kaum mehr übrig als vom Tor in der Außenmauer. Verfaulte Holzstücke lagen unter dem Steinbogen des Eingangs auf dem Boden. Unter Leesils Stiefeln wurden sie zu Brei, als er eintrat.

Draußen verblasste das Licht, und Wynn holte die Lampen hervor, legte die Kristalle hinein und fügte die gläsernen Aufsätze hinzu. Eine Lampe reichte sie Magiere, und dann folgten sie Leesil durch das Tor. Sie gingen durch einen kurzen Flur und erreichten nach wenigen Schritten einen Saal.

Er war in einem etwas besseren Zustand als der Rest. Die Feste war im alten Stil erbaut und hatte keinen Kamin auf einer Seite, sondern eine große Feuergrube in der Mitte. In den Wänden, die bis zu den Resten eines Obergeschosses aufragten, gab es Torbögen und Türen, die vermutlich zu anderen Räumen führten. Über der Feuergrube hatte es in Decke und Dach früher vermutlich ein Gitter gegeben, durch das der Rauch abziehen konnte, aber jetzt sah Wynn über sich den Himmel – das Dach existierte nicht mehr. Schutt lag rings um die Grube und auf dem angrenzenden Boden.

Riesige Tapisserien hingen an den Wänden, ihre Darstellungen halb von Schmutz und Schimmel verdeckt. Hier und dort lösten sich die einst prächtigen Wandteppiche auf; manche hingen bereits in Fetzen. Einer zeigte einen Kampf zwischen Gegnern, die Wynn nicht erkannte. Sie näherte sich einem anderen, und das Licht ihrer Lampe fiel auf ein Bild von Männern, die cremefarbene Umhänge und um den Kopf geschlungene Tücher trugen – sie saßen auf dünnbeinigen, temperamentvoll wirkenden Pferden.

»Ich glaube, dies ist ein sumanischer Wandteppich«, sagte sie. »Hinter den Reitern sieht man Dünen in der Ferne. Es muss viel Geld gekostet haben, den Gobelin hierherzubringen. Warum sollte ein dröwinkanischer Lord Interesse an so etwas haben?«

Magiere ging um die Feuergrube herum. »Dieser Ort fühlt sich vertraut an, aber ich weiß, dass ich hier nie gewesen bin. So weit im Osten bin ich jetzt zum ersten Mal.«

Wynn trat zu ihr. »Bist du sicher?«

»Ja, ich bin sicher.«

Leesil hatte ebenfalls die Wandteppiche betrachtet, wandte den Blick von ihnen ab und ging weiter, sah durch Torbögen und überprüfte die angrenzenden Räume. Wynn wollte mit der Suche beginnen, in der Hoffnung, dass sie hier alte Aufzeichnungen fanden, als sie die erste tote Ratte bemerkte.

»Leesil!«

»Was ist?« Er eilte zu ihr.

Wynn hatte keine Angst vor Ratten, und sie sah nicht zum ersten Mal eine tote.

Aber dieses Exemplar war nicht aufgedunsen oder halb verwest, sondern verschrumpelt. Unter dem Fell zeichneten sich deutlich die Knochen ab, als wäre das Tier verhungert. Und das schien hier, in der Nähe eines dichten Waldes, kaum möglich zu sein.

Chap beschnüffelte die Ratte und knurrte.

»Hier ist noch eine«, sagte Magiere, die einige Meter entfernt stand.

Sie hielten auf dem Boden Ausschau und achteten dabei nicht auf die herumliegenden Steine, sondern insbesondere auf dunkle Ecken. Mindestens ein Dutzend Ratten lagen in dem Saal, und alle waren in dem gleichen Zustand wie die erste von Wynn entdeckte.

»Na schön«, flüsterte Leesil. »Muss ich darauf hinweisen, wie wenig mir dies gefällt?«

Chap wirbelte herum, knurrte laut und heulte dann.

Sein Heulen hallte von den Wänden wider, und Wynn hielt sich die Ohren zu. Chap drehte sich, knurrte erneut und sah zu den Torbögen und Türen.

»Leesil, deine Klingen!«, rief Magiere. Wynn hörte sie kaum – Chaps Bellen übertönte alles.

Leesils Mantel lag bereits auf dem Boden. Er trug sein nietenbesetztes Lederhemd, löste die Halteriemen der Scheiden an den Oberschenkeln und zog beide Klingen.

»Sei still, Chap!«, rief er, und aus dem Bellen des Hundes wurde ein neuerliches Knurren. »Wo?«

Der Hund sprang zu einem kleinen Torbogen auf der gegenüberliegenden Seite des runden Saales. Magiere und Leesil folgten ihm rasch.

Wynn hielt beide kalten Lampen in den Händen und lief ebenfalls los – sie hatte mehr Angst davor, allein zurückzubleiben, als vor dem, was sie vielleicht erwartete. Sie erinnerte sich an Vordana und daran, wie der Zauberer im Rauch verschwunden war, nachdem Chane die Messingkapsel in die glühenden Kohlen der Esse geworfen hatte. Doch die sterbenden Bäume und verschrumpelten Ratten weckten Zweifel in ihr, ob er nicht doch überlebt hatte.

Sie gingen durch einen schmalen Flur, und hinter Magiere und Leesil konnte Wynn nicht viel sehen. Chap knurrte erneut, und Leesil blieb abrupt stehen. Im Licht der Lampen sah Wynn, wie sich Magiere nach links wandte, und Leesil folgte ihr. Wynn lief noch schneller und versuchte, zu den anderen aufzuschließen.

Als sie an einer breiteren Stelle des Flurs an einem Eingang vorbeikamen, wandte sich Chap zur Seite und sprang durch die Öffnung. Magiere und Leesil folgten ihm, ohne zu zögern. Wynn trat hinter ihnen durch den Zugang und sah einen davonhuschenden Schemen.

Furcht packte sie und ließ sie innehalten.

Ein Geschöpf wie Vordana würde nicht fliehen. Dazu hatte es gar keinen Grund.

»Nein, nein!«, rief jemand. »Bitte nicht!«

Leesil und Magiere waren vor ihr, die Waffen erhoben, aber sie blieben stehen. Zerbrochene Regale, Töpfe und andere Gegenstände auf dem Boden teilten Wynn mit, dass sie sich in einer Art Küche befanden. Vordana oder jemand wie er würde nicht um Gnade flehen.

Sie schob sich an Leesil und Magiere vorbei, sah den Hund und rief: »Nein, Chap! Hör auf!«

Leesil nahm beide Klingen in eine Hand, packte Wynn von hinten, schlang den freien Arm um ihre Taille und zog sie hinter seinen Rücken. Wynn reckte den Hals und versuchte zu erkennen, wen sie da in die Enge getrieben hatten. Die kalten Lampen wackelten in ihren Händen und ließen Schatten über die Wände tanzen. Hinter Chap sah sie nicht mehr als den Herd.

Leesil grub seine freie Hand in das Fell von Chaps Genick. »Das reicht. Zurück mit dir.«

Chap knurrte erneut, gehorchte aber, und Wynn hob eine Lampe, leuchtete damit über den Hund hinweg.

Neben dem leeren Herd hockte ein in Lumpen gekleideter und völlig verdreckter Junge. Er war mager, hatte schulterlanges, verfilztes braunes Haar und drückte sich ganz hinten in eine Ecke. Die Hände hatte er vors Gesicht geschlagen; ein Auge blickte entsetzt durch eine Lücke zwischen den dünnen Fingern. Die frischen Kratzer an seinen Armen stammten von Chaps Krallen.

»Was hast du getan, Chap?«, rief Wynn.

Magiere näherte sich geduckt, bereit dazu, sich auf den Jungen zu stürzen. Ihre Stimme klang gepresst und ein wenig undeutlich, als sie sagte: »Lass Chap los, Leesil!«

Wynn wollte widersprechen, überlegte es sich aber anders, als sie Leesils wachsamen Blick bemerkte, mit dem er die kleine Gestalt in der Ecke beobachtete.

Das Topasamulett, das er von Magiere erhalten hatte, war deutlich zu sehen; es glühte.

»Es ist doch nur ein Junge«, flüsterte Wynn, wandte sich wieder dem Herd zu und starrte ungläubig herüber.

Der Junge bebte am ganzen Leib und versuchte sich noch weiter in die Ecke zu drücken.

Magiere sah Wynn an. »Es ist mir gleich, was er war

Ihre Augen waren schwarz, die Worte kaum zu verstehen, als fiele es Zunge und Mund schwer, sie zu formen. Wynn war nicht ganz sicher, aber Magieres Zähne schienen länger geworden zu sein.

»Denk nach«, sagte sie. »Niemand lebt hier. Dorf und Feste wurden vor langer Zeit verlassen. Findest du es nicht seltsam, dass er allein ist?«

»Versuch dies nicht noch einmal, Wynn«, warnte Leesil.

»Nein!«, rief sie und wich zurück, als er sie festhalten wollte.

Chap schnappte nach ihrem kurzen Umhang, aber Wynn sprang zur Seite und war mit einigen Schritten an der Wand beim Herd. Dort ging sie in die Hocke, setzte die kalten Lampen auf den Boden und schaute vorsichtig um den Rand des Herds. Inzwischen hatte sie genug Dröwinkanisch gelernt, um mit einfachen Sätzen Gespräche zu führen.

»Wenn … du angreifst«, sagte sie leise, »… köpfen sie dich. Verstanden? Bleib stehen und … wir tun dir nichts.«

»Von wegen«, zischte Magiere hinter ihr.

»Nicht jetzt, Magiere.« Wynn hielt den Blick auf den Jungen gerichtet. »Wie heißt du?«

Er starrte sie mit dem einen Auge an und ließ schließlich die Hände sinken. »Tomas«, flüsterte er, und es klang so, als vertraute er ihr ein großes Geheimnis an.

»Hast du die Ratten … gegessen?«

Der Junge duckte sich und sah zu Magiere, dann schüttelte er den Kopf.

»Nein. Mein Essen jetzt immer tot. Kann nichts Lebendiges mehr finden.« Seine Stimme brach. »Ich hungere.«

Mitleid erfasste Wynn.

»Keine Kröten, keine Ratten oder Schlangen, auch keine Vögel mehr«, hauchte Tomas und schloss halb die Augen. Er wirkte sehr erschöpft. »Ich schlafe. Ich hungere. Ich schlafe wieder.«

In seinem Gesicht klebte so viel Schmutz, dass es braun war und nicht die Blässe aufwies, die Wynn bei Chane und den Untoten in Bela gesehen hatte. Sein dürrer Leib zitterte die ganze Zeit über.

Wynn griff mit einer Hand blind in ihren Rucksack und behielt Tomas dabei im Auge. Ihre Finger ertasteten einen Apfel, dann noch einen. Sie holte sie hervor.

»Wir haben etwas für dich«, sagte sie und zeigte dem Jungen die Äpfel. »Dies kommt von … lebendem Baum. Frisch. Vielleicht steckt etwas … Leben in ihnen.«

Tomas stürzte auf sie zu.

»Zurück, Wynn!«, rief Leesil.

Sie fühlte seine Hand an ihrer Schulter, und gleichzeitig sprang Chap vor und fletschte die Zähne. Bevor Leesil sie wegziehen konnte, rissen ihr Tomas’ dünne Finger die Äpfel aus den Händen. Sofort wich er zurück, und Wynn streckte den Arm aus, woraufhin Chap verharrte.

Tomas suchte wieder in der Ecke Zuflucht und bohrte spitze Zähne in einen Apfel. Er sah zu Chap und saugte – sein Hunger war größer als die Furcht.

»Was machst du da, Wynn?« Magiere trat vor, aber Leesil hielt sie zurück.

»Wer hat dir dies angetan?«, fragte Wynn den Jungen.

Tomas saugte noch immer an dem Apfel und hielt ihn so fest in der Hand, dass seine Finger Abdrücke darin hinterließen. Er runzelte die Stirn, schien die Frage nicht zu verstehen, und sein Blick huschte umher. Schließlich nahm er den Apfel aus dem Mund und sagte:

»Vor langer Zeit … sehr langer Zeit.« Er starrte zu Boden, sah dann Wynn an. »Zu viele vor mir liefen weg. Er sagte, er würde mich bleiben lassen. Wollte sicher sein, dass er es kann … gute Übung, sagte er.«

Tomas legte den anderen Apfel auf den Boden, stützte sich neben ihnen mit einer Hand ab und beugte sich zu Wynn vor.

»Er trank mich … wie eine Ratte«, sagte der Junge. Der Vergleich schien ihm gerade eingefallen zu sein. »Wie eine Kröte. Wie eine Eidechse. Wie eine Schlange. Aber nicht wie einen Vogel, denn die sind schwer zu fangen. Er machte mich zu einem, wie er selbst es war, Lord Massing, aber ich habe ihn überlistet. Der junge Herr zeigte mir, wie.«

Wynn stützte sich an der Wand ab, als sie sich von Kälte und Übelkeit erfasst fühlte. Ihr Blick ging zur Seite.

Magiere duckte sich noch tiefer und kam einen weiteren Schritt näher. »Massing? Er hat hier gelebt? War er der Herr dieses Lehens?«

Tomas wich zurück, zischte leise und legte sich den zweiten Apfel zwischen die nackten Füße.

»Bleib zurück«, forderte Wynn Magiere auf.

»Warm … die warme Frau ist besser«, flüsterte Tomas.

Er starrte Wynn an, und für einen Moment gewann sie den Eindruck, dass seine Augen die Farbe verloren. Der Junge hob den halb zerquetschten Apfel.

»Noch netter als der junge Herr«, fügte er hinzu.

»Ich heiße Wynn«, sagte sie. »Der junge Herr … Hatte Lord Massing einen Sohn? Tomas, kennst du … kennst du den Vornamen des Lords?«

Der Junge schüttelte den Kopf und leckte an dem Apfel. »Weiß nicht, nie gehört. Niemand ihn mir genannt. War nicht lange hier, bevor sie weggingen. Aber der junge Herr zeigte mir die Ratten, Eidechsen und Schlangen, damit ich keine Leute aus dem Dorf brauchte. Kann nicht das Blut von Menschen trinken. Nicht richtig. Der junge Herr hat’s mich gelehrt.«

»Bei den verfluchten Heiligen!«, ächzte Leesil. »Welstiel war hier, und er hat einen Sohn? Oder ist er der Sohn? Was behauptet das kleine Ungeheuer da?«

Tomas sah Leesil mit leerer Miene an und schien sich nicht daran zu stören, »Ungeheuer« genannt zu werden. Er hob den Apfel und saugte wieder daran.

»Sie ließen ihn hier zurück«, sagte Wynn. »Sie verließen ihn, und er hat hier von Ratten gelebt.«

»Gelebt?«, wiederholte Leesil. Und an den Jungen gerichtet: »Du isst Ratten?«

Tomas schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Sind alle tot. An einem Tag ausgetrocknet. Alle.«

»Alle gleichzeitig?«, fragte Wynn. »Wann geschah das?«

»Vor Kurzem.« Tomas runzelte die Stirn und senkte den Blick. »Ich schlafe manche Nächte. Zu hungrig. Ich erwache, nicht sicher, ob die gleiche Nacht. Weiß nicht genau. Aber nicht lange her.«

Wynn wandte sich an Leesil. »Der Zustand der hiesigen Bäume ist nicht ganz so schlecht wie bei denen, die wir in der Nähe von Pudúrlatsat gesehen haben, und der Junge sagt, dass die Ratten alle gleichzeitig gestorben sind. Weißt du, wonach das klingt?«

»Aber du hast uns doch gesagt, dass Vordana vernichtet worden ist.«

»Seine Kapsel wurde zerstört, und ich habe gesehen, wie er verschwand, ja.«

Magiere stand noch immer wie zum Sprung geduckt da, den Blick auf Tomas gerichtet, aber als sie sprach, galten seine Worte nicht ihm. »Welstiel … Die ganze Zeit steckte Welstiel dahinter.«

»Wir können nicht absolut sicher sein«, sagte Leesil. »Wir wissen nur, dass er vor langer Zeit hier war und eine Familie hatte. Oder jemand mit dem gleichen Nachnamen.«

»Gibt es hier irgendwo einen Mann, Tomas?«, fragte Wynn. »Lebt jemand … in der Nähe, im Wald?«

Der Junge beugte sich zu ihr, und Eifer zeigte sich plötzlich in seinem verdreckten Gesicht. »Geht nicht in den Wald, warme Wynn«, sagte er, und Trauer oder Furcht erschien in seinen Augen. »Dort gibt es tote Dinge, die sich bewegen. Schlimmer als ich. Deshalb verließen all die Leute das Dorf vor langer Zeit, aber ich konnte nicht mit ihnen gehen.«

Wynn hatte keine Ahnung, wie alt Tomas war. Er sah wie ein neun- oder zehnjähriger Junge aus, aber er lebte – beziehungsweise existierte – hier schon seit einer ganzen Weile. Vielleicht war er älter als sie, Leesil oder Magiere.

»Welche toten Dinge?«, fragte Leesil.

Tomas schüttelte den Kopf, und Wynn bemerkte seine verstohlenen Blicke zu den Türen auf beiden Seiten der Küche.

»Ich glaube nicht, dass wir noch viel mehr von ihm erfahren können«, sagte sie. »Wir sollten ihn gehen lassen.«

»Ihn gehen lassen?« Magiere richtete sich auf. »Wesen wie ihn lassen wir nicht gehen.«

Wynn erhob sich ebenfalls und trat direkt vor Magiere. »Er ist ein Opfer – wie du! Dies ist nicht seine Schuld. Er trinkt nicht das Blut von Menschen. Wir sollten ihm helfen. Rede mit ihr, Leesil.«

»Hast du diesen Unsinn noch immer nicht überwunden?«, erwiderte Magiere. »Er ist tot, wurde aus dem Jenseits zurückgeholt und braucht für seine Existenz die Kraft der Lebenden. Unschuldig ist er gewiss nicht.«

Leesil setzte sich vor dem Herd in die Hocke. Wynn ballte die Hände zu Fäusten und war bereit, sich auf ihn zu werfen, wenn er etwas gegen Tomas unternehmen sollte. Er ließ die Klingen sinken, die er noch immer beide in einer Hand hielt.

»Du musst diesen Ort verlassen und dir tiefer im Wald Nahrung suchen. Mehr gibt es jetzt nicht mehr für dich. Wir machen Jagd auf Geschöpfe deiner Art. Wenn wir hören, dass du etwas anderes angerührt hast als Tiere, kehren wir zu dir zurück. Hast du verstanden?«

Tomas nahm Leesils Worte in sich auf. Seine braunen Augen waren groß, als er nickte.

Leesil deutete zu einer der beiden Küchentüren. »Geh.«

Chap knurrte plötzlich wieder, und Leesil wich ein wenig zurück und legte dem Hund die Hand auf die Schnauze.

Tomas sah Wynn an. Er duckte sich, Scham erfüllte sein schmales, hohlwangiges Gesicht. Dann huschte er zur Tür und war einen Moment später verschwunden.

Wynn fühlte Erleichterung, aber sie ärgerte sich auch darüber, dass Tomas erst nach Leesils Eingreifen hatte gehen dürfen. Magiere hatte überhaupt nicht mit ihm gesprochen und Wynns Worten keine Beachtung geschenkt.

Magiere drehte sich langsam und ließ den Blick durch die Küche schweifen. »Welstiel. All die Zeit und der lange Weg … Nur um zu ihm zurückzukehren.«

»Wir können noch immer nicht sicher sein«, gab Leesil zu bedenken. »Wir wissen nur, dass er irgendwie beteiligt war.«

Wynn versuchte, ihren Ärger zu vergessen. »Deine Tante Bieja sprach von drei Personen, die deine Mutter entführten. Von Osceline haben wir erfahren, dass Ubâd bei deiner Geburt zugegen war. Wenn Welstiel ebenfalls dabei war … Wer könnte dann die dritte Person gewesen sein?«

Magieres Blick kehrte zu Wynn zurück. Die Nachdenklichkeit in ihren Zügen verschwand und wich Entschlossenheit. »Wir fragen Ubâd, wenn wir ihn finden. Offenbar will er nicht zu uns kommen.«

Als sie nach draußen gingen, waren Wynns Gedanken bei Tomas. Er trug keine Schuld an dem, was aus ihm geworden war. Ebenso wenig wie jemand anders von seiner Art, der ihr in einem Zimmer voller Bücher und Schriftrollen Gesellschaft geleistet hatte, in friedlicher Stille. Sie stellte sich Tomas’ Zukunft vor und sah lange, einsame Jahre in einem feuchten, kalten Wald.

Sie hätten mehr tun sollen. Es hätte eine Möglichkeit geben müssen, den Jungen von diesem Ort fortzubringen. Zwar würde er nie zu einem Erwachsenen werden, aber er verdiente mehr als das, was ihm nach dem Ende seines kurzen Lebens geblieben war. Irgendwann mussten Magiere – und Chap – lernen, das Individuum anstelle des natürlichen Feindes zu sehen, den ihr Instinkt jagen wollte.

Sie erreichten den Hof und traten durchs Tor in der Außenmauer. Wynn schnappte nach Luft, als sie Taff und Teufelchen im Licht ihrer kalten Lampen sah.

Teufelchen war, noch immer an den Wagen gebunden, zu Boden gesunken und hatte die Beine unter sich gefaltet. Taffs Augen waren halb geschlossen, und er ließ den Kopf hängen; seine dicken Beine zitterten. Wynn eilte zu ihnen, und die anderen folgten ihr. Taff blinzelte einmal, hob aber nicht den Kopf.

Wynn sah sich im Dunkeln um, und Furcht kroch in ihr hoch.

»Ich bin nicht müde«, sagte sie. »Leesil?«

Er blickte sich ebenfalls um. »Ich auch nicht.«

Chap knurrte erneut.

»Hier drüben«, sagte Magiere.

Wynn und Leesil wandten sich der südlichen Seite der Außenmauer zu, als etwas Graues aus dem Wald kam. Das Gesicht der Erscheinung war so stark verschrumpelt, dass selbst bei geschlossenem Mund die Lippen nicht mehr über den Zähnen lagen. Weiße Haarbüschel reichten bis auf die Schultern.

Es gab keinen Zweifel daran, um wen es sich handelte.

Vordana.

Chane erwachte in dem Augenblick, als die Sonne unterging.

Die Morgendämmerung hatte sie gezwungen, in diesem feuchtkalten Wald ihr Zelt aufzubauen und es zu tarnen, doch Welstiel hatte ihm versprochen, dass sie Apudâlsat kurz nach Einbruch der Nacht erreichen würden. Wynn könnte bereits in Gefahr sein, und Chane wollte nicht länger warten.

»Wach auf, Welstiel. Wir müssen los.«

Sein Gefährte stand auf und rieb sich das Gesicht. »Gib mir einen Moment.«

Chane schnallte sein Schwert an den Gürtel und bedauerte, nicht genug Zeit zu haben, einen weiteren Wolf oder irgendein anderes großes Tier in dieser elenden Wildnis zu rufen und zu seinem Diener zu machen. »Während du dir deinen Moment nimmst … Erklär mir bitte, womit wir es zu tun haben. Dieses Schwert und meine Beschwörungen … Genügt das?«

Welstiels Schweigen war mehr als nur ärgerlich. Chane konnte Wynn nicht helfen, wenn er nicht wusste, was vor ihnen lag. Unschlüssigkeit zeigte sich in Welstiels Gesicht. Er sah älter aus mit dem zerzausten Haar und in dem cremefarbenen Hemd, das gewaschen werden musste.

»Weißt du, was ein Nekromant ist?«, fragte Welstiel.

»Ich habe von Beschwörern gehört, die sich auf die Geister der Toten spezialisiert haben.« Chane zögerte. »Ist Magiere zu einer solchen Person unterwegs?«

»Er heißt Ubâd und ist weitaus mehr, als deine Worte andeuten. Er hat meinem Vater gedient … und dabei geholfen, Magiere zu erschaffen.«

Erneut gab er nur einen Teil der Wahrheit preis, und selbst den nur im letzten Augenblick. Magiere war »erschaffen« worden? Chane bezweifelte, dass ein Untoter ein Kind zeugen konnte. Die Beteiligung eines Beschwörers – eines Nekromanten – sagte ihm wenig, deutete aber darauf hin, dass wesentlich mehr hinter den Ursprüngen der Dhampir steckte, als Welstiel zugab.

»Wenn er Magiere findet, wird er nach all den Jahren sehr aufgeregt sein«, fuhr Welstiel fort. »Die Einzelheiten entziehen sich meiner Kenntnis, aber ich vermute, dass Ubâd ein ganzes Leben lang Vorbereitungen für Magieres Geburt traf. Er wird versuchen, sie dazu zu bringen, ihm zu folgen, wohin auch immer. Wenn sie ablehnt, lässt er bestimmt nicht zu, dass sie und ihre Begleiter dieses Land lebend verlassen.«

Chane blickte in die Dunkelheit. Sie hätten ihr Vorgehen schon vor einigen Nächten planen sollen. Durch Welstiels selbstsüchtige Geheimniskrämerei waren sie jetzt im Nachteil.

»Ich hoffe, du hast mehr Spielzeuge bei dir als nur einen Messingteller und einen Ring!«

Er warf Welstiel seinen Rucksack zu. Inzwischen war er fast sicher, dass sich sein Reisegefährte mit dem Ring vor Entdeckung durch mantische und divinatorische Magie schützte – und auch vor der Wahrnehmung durch die übernatürlichen Sinne anderer Untoter.

Die scharfen Worte beeindruckten Welstiel nicht, und er fing den Rucksack auf.

»Du kennst Magiere nicht so gut wie ich«, sagte er. »Ihre Macht wird groß sein, wenn sie Ubâd begegnet. Sie ist einfallsreich, und ihre Erfahrung wächst. Und meine ›Spielzeuge‹ sind nützlicher, als du ahnst. Wir werden Magiere aus dem Verborgenen helfen.«

Magiere interessierte Chane nicht. Ihm ging es nur um Wynn.

»Ich sattle die Pferde«, sagte er. »Während du deinen Moment beendest.«

Leesils Topasamulett glühte hell.

Vordanas Präsenz war keine Überraschung. Im Hinterkopf hatte Leesil die ganze Zeit über gewusst, dass der untote Zauberer nicht so einfach verschwunden sein konnte. Inzwischen war ihnen klar, wozu er fähig war, und alles in Leesil drängte danach, ihn zu köpfen. Doch wie sollte er gegen ein Wesen kämpfen, an das er nicht einmal herankam?

Vordana lächelte, was bei ihm bedeutete: Die Lippen wichen noch weiter zurück und zeigten graues, geschrumpftes Zahnfleisch und zusammengebissene Zähne. Er hob eine Hand, und Magiere trat vor Leesil.

»Lauf!«, rief sie.

Warte.

Das Wort ertönte hinter Leesils Stirn.

Der Topas erzitterte am ledernen Halsband, stieg auf und schwebte vor seinem Gesicht. Das Band riss, und der Stein daran flog Vordanas ausgestreckter Hand entgegen. Knochige Finger schlossen sich darum, und erneut lächelte der untote Zauberer.

Folgt mir.

Wieder erklang die Stimme in Leesils Kopf. Er sah Magiere an, und dann Wynn. Sie schienen die Worte ebenfalls gehört zu haben.

»Eine Eskorte«, sagte er. »Ich glaube, Wynn sollte hierbleiben.«

»Nein«, erwiderte die junge Weise und hielt den Blick auf die wandelnde Leiche gerichtet.

»Schon gut«, sagte Magiere. »Du hast gedacht, ihn erledigt zu haben. Wie dem auch sei: Du hast uns und die Bewohner des Ortes gerettet. Nur darauf kommt es an.«

Wynn wandte sich ab. »Einen Augenblick.«

Sie setzte eine ihrer kalten Lampen ab, eilte zum Wagen und legte dort ihren Rucksack und die andere Lampe auf die Ladefläche. Mit einer Armbrust und dem Bolzenköcher kehrte sie zurück, schlang sich beides auf den Rücken, nahm die kalte Lampe vom Boden und leuchtete damit.

Leesil nickte Magiere zu, und gemeinsam traten sie in den Wald. Chap blieb still, aber am Genick sträubte sich sein Fell. Magiere hob ihr Falchion, und Leesil hielt beide Klingen in den Händen. Wynn und Chap gingen hinter ihm, und der Hund blieb dicht neben der jungen Weisen.

Vordanas Kleidung hatte sich verändert. Er trug nicht mehr das blutbesudelte Hemd von dem Abend, als Stefan ihn ermordet hatte, und an seinem umbrabraunen Umhang fehlte der Dreck des Grabes, aus dem er geklettert war. Doch der Zauberer selbst wirkte noch verhutzelter als vorher. Er war kein Vampir, dessen Körper sich regenerierte. Ganz gleich, wie viel Lebenskraft Vordana seiner Umgebung entzog, er konnte damit nichts gegen den eigenen physischen Verfall ausrichten.

Eine neue Messingkapsel baumelte an seinem Hals.

Mit einem Wink forderte er Magiere und ihre Begleiter auf, ihm zu folgen.

Moosfladen hingen an Zweigen und Ästen, reichten fast bis zum Boden und wirkten wie dunkelgrüne Vorhänge zwischen den Bäumen. Vordana ging einfach hindurch, aber Leesil und Magiere mussten sich mit ihren Klingen den Weg freihacken, und es dauerte nicht lange, bis ihre Hände und Ärmel nass waren. Die Sterne blieben jenseits der Baumwipfel verborgen, und ohne sie war es selbst für Leesils Elfenaugen stockfinster. Er war dankbar für das Licht von Wynns kalter Lampe.

Wynn schnappte nach Luft und griff nach seinem Mantel. »Leesil!«

Sie deutete an ihm vorbei, und er erstarrte.

»Auf der anderen Seite ebenfalls«, sagte Magiere. »Und hinter uns.«

Glühende Schemen umgaben sie auf der kleinen Lichtung. Leesil hörte ihre flüsternden Stimmen, verstand aber kein Wort, als die Phantome aus dem Wald kamen.

Tomas hatte gesagt, dass die Dorfbewohner gegangen waren, ohne dass er ihnen folgen konnte. Leesil hatte angenommen, dass sie aus dem Dorf geflohen waren und den Jungen zurückgelassen hatten.

Neben einer Ranke aus Moos schwebte die durchscheinende Gestalt eines alten Soldaten. Sein Kettenhemd war aufgeschnitten, und darunter zeigten sich innere Organe, die aus dem Körper zu quellen drohten. Neben ihm sah Leesil eine kleine, zerlumpte junge Frau mit einem dicken roten Striemen am Hals – er stammte offenbar von einem Seil, das sie erdrosselt hatte. Sie öffnete den Mund und versuchte zu sprechen, aber ihre Zunge fehlte.

Ein vogelscheuchendürrer Bauernjunge starrte Magiere hasserfüllt an. Er trug kein Hemd, und seine Gestalt flackerte, zeigte sich mal deutlicher und verschwand dann wieder fast in der Dunkelheit – der Junge war so abgemagert, dass die Rippen hervortraten. Durch einen Vorhang aus nassen Blättern kam eine hübsche junge Frau, nicht älter als Wynn, mit baumelnden schwarzen Locken. Sie streckte die Hand nach Leesil aus, und er wich zur Seite, obwohl sie ihn sicher nicht berühren konnte. Etwas hatte ihr die Kehle zerfetzt.

Leesil nahm den intensiven Geruch von feuchter Erde und Zerfall wahr. Kälte breitete sich in ihm aus, und mit ihr kam Verzweiflung. Er hörte, wie Magiere neben ihm schneller atmete, und er sah zu Wynn zurück.

Ihr Blick war gesenkt, auf den Boden gerichtet, und sie hielt die kalte Lampe wie einen Schild. Die freie Hand war zwischen Chaps Schultern ins Fell gegraben, und der Hund zog sie nach vorn.

»Achtet nicht auf sie«, brachte Leesil mühsam hervor. »Bleibt in Bewegung.«

Er konzentrierte sich auf Vordanas Mantel und versuchte, die glühenden Erscheinungen um sie herum zu ignorieren.

»Es sind nur Geister«, sagte Magiere.

In ihrem blassen Gesicht zeigte sich keine Furcht, aber sie atmete noch immer schneller als sonst. Vordana hob die Hand mit dem Topas, und Leesil und die anderen ließen sich von seinem Schein leiten.

Leesil zitterte vor Kälte, als sie eine größere Lichtung erreichten und Rauch sahen, der aus dem Schornstein eines kleinen Steinhauses kam. Es stand auf einem Felsenhügel.

Vordana ging zur ovalen Tür des Hauses und öffnete sie. Er forderte sie auf, ihm zu folgen, trat dann ein.

Leesil griff nach Magieres Handgelenk. »Was auch immer wir hier finden … Es ändert nichts daran, wer du bist.«

Sie streifte seine Hand sanft ab und ging zur offenen Tür.

Welstiel blieb zusammen mit Chane in der Finsternis des Waldes und beobachtete von dort aus, wie Magiere und die anderen aus der Feste kamen. Die junge Weise lief zu den beiden grauen Pferden; eins von ihnen war bereits zu Boden gesunken.

»Bleib dicht bei mir«, sagte Welstiel zu Chane. »Wenn du dich von mir entfernst, nimmt dich der Hund wahr.«

Chane widersprach nicht und stellte keine Fragen. Seine Aufmerksamkeit galt Wynn.

Welstiel hoffte, dass er die Feste nicht betreten musste. Hierher war eines Abends sein in einen Edlen Toten verwandelter Vater heimgekehrt, begleitet von dem abscheulichen und hinterhältigen Ubâd. Kurze Zeit später begannen die Bewohner des nahen Dorfes zu sterben. Als die Überlebenden geflohen waren, hatte sich Welstiels »Familie« auf den Weg gemacht und den Äntes ihre Dienste angeboten. Wie Bryen und Ubâd Kenntnis davon erhalten hatten, wo genau Magiere gelebt hatte, blieb ein Rätsel für Welstiel.

Er spürte eine hohle Präsenz in der Nähe und bemerkte zwischen den Bäumen ein kurzes Wogen von grauem Haar. Der untote Zauberer trat aus dem Wald und näherte sich Magiere und ihren Begleitern.

»Ich dachte, du hättest ihn vernichtet«, flüsterte Welstiel.

»Das habe ich auch«, erwiderte Chane.

Der Zauberer streckte die Hand aus, und das Topasamulett des Elfen-Halbbluts flog ihm entgegen. Die wandelnde Leiche lächelte und kehrte in den Wald zurück, gefolgt von Magiere und den anderen. Chane wollte aufstehen, aber Welstiel legte ihm die Hand auf die Schulter und hinderte ihn daran.

»Warte, bis sie tief genug im Wald sind.«

Welstiel dachte daran, was Magiere bevorstand, und ein kleiner Teil von ihm hatte Mitleid mit ihr, so wie er einst auch Mitleid mit ihrer Mutter gehabt hatte.