17

Magiere musste sich sehr bemühen, das beiseite zu schieben, was der Geist ihrer Mutter ihr gezeigt hatte. Von all den Gesichtern, die ihr durch den Kopf gingen – Betinas, das des Säuglings mit der durchschnittenen Kehle und Bryens –, kehrte eins immer wieder vor ihr inneres Auge zurück.

Welstiel – ihr Bruder.

Sie setzte den Weg durch den Wald fort und folgte dem kindlichen Geist, der sie zu Ubâd führte. Die Untoten dieses Ortes dienten ihm, griffen auf seinen Befehl alle an – ausgenommen Chap und sie selbst; sie stellten noch immer eine große Gefahr für Leesil und Wynn dar. Die beste Möglichkeit, diese Gefahr aus der Welt zu schaffen, bestand darin, Ubâd so schnell wie möglich zu finden und zu töten.

Welstiels Gesicht begleitete sie bei jedem Schritt.

Magiere sah zu Chap zurück.

Er war nicht mehr hinter ihr. Auch mit Hilfe ihrer Nachtsicht fand sie keinen Hinweis auf den Hund mit dem silbergrauen Fell.

Sie durfte den Geist, der ihr den Weg wies, nicht aus den Augen verlieren, und deshalb ging sie weiter. Kurze Zeit später atmete sie erleichtert auf, als Chap aus dem Gebüsch kam und sich an ihre Seite gesellte.

Der Geist des Kindes verharrte an einer schiefen Fichte; er schwebte daneben und wartete, damit Magiere aufschließen konnte. Er schimmerte kurz auf und verschwand, als Magiere und Chap eine Lichtung betraten.

Auf der anderen Seite stand Ubâd, einen langen Eisenstab in der Hand. Er wandte sich Magiere zu, und sie fragte sich einmal mehr, wie er sie ohne Augenschlitze in der Maske sah.

»Jetzt können wir allein miteinander sprechen«, sagte Ubâd.

»Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu sprechen.«

Magiere ging weiter, ohne zu zögern, holte mit ihrem Falchion aus und schlug nach Ubâds Kopf.

Anstatt auszuweichen und sich wie in der Höhle von Geistern ein oder zwei Schritte zurücktragen zu lassen, neigte er den Stab nach vorn und blockierte damit Magieres Klinge. Stahl und Eisen trafen aufeinander, und Ubâds Arm gab unter der Wucht des Aufpralls nicht einen einzigen Zentimeter nach.

»Hör auf damit!«, sagte er scharf. »Ich habe mein ganzes Leben lang für deine Schöpfung gearbeitet und musste dann glauben, dass du unmittelbar nach deiner Geburt getötet worden warst. Es gab nicht genug Zeit, noch einmal von vorn zu beginnen; alles schien verloren. Doch dann hörte ich Gerüchte über eine Jägerin der Untoten, und ich schöpfte neue Hoffnung. Inzwischen habe ich zu lange gewartet und zu sehr gelitten.«

»Gelitten?« Magiere hob erneut ihr Falchion. »Du sprichst von deinem Leid, nach all dem, was du meiner Mutter angetan hast?«

»Und Welstiel? Bist du nicht zornig auf ihn? Dies geht auf ihn zurück. Ich habe ihn jahrelang gesucht, um mich an ihm zu rächen. Ohne seine Einmischung stündest du längst an meiner Seite … und an der Seite unseres Gebieters.«

Der Hass in Magiere schwoll an, und sie spürte, wie die Zähne in ihrem Mund länger wurden. Sie schlug zu und zielte nach unten. Der Maskierte wich nach links aus, schwang den Stab und lenkte Magieres Klinge ab.

Der Zorn brachte Kraft, und Magiere sprang, täuschte einen Angriff nach links vor. Als sich Ubâd zur anderen Seite wandte und den Stab hob, schwang sie ihr Falchion nach rechts, am Eisenstab vorbei. Die Spitze der Klinge schnitt in Höhe der Taille durch den Kapuzenmantel des Maskierten.

Ubâd verschwand und erschien wieder, wie ein Phantom. Sein Stab kam nach unten und schlug das Falchion beiseite.

»Du möchtest kein Gespräch, sondern eine Lektion«, spottete er.

Magieres Blick ging zu seinem Bauch. Der Kapuzenmantel war zu bauschig, als dass sie feststellen konnte, ob sie den Körper getroffen hatte. Er schien nicht verletzt zu sein.

Magiere spürte, wie sie die Kontrolle über sich zu verlieren begann. Gier brannte in ihrer Kehle, stieg ihr zu Kopf. Sie griff erneut an.

»Du fühlst den Hunger, nicht wahr?«, fragte Ubâd leise. »Wie dein großer Vater hast du bereits gelernt, ihn zu beherrschen.«

Chap sprang von hinten auf den Maskierten zu und schnappte nach ihm – Magiere hatte gar nicht gesehen, wie der Hund auf die andere Seite ihres Gegners gelangt war. Ubâd drehte den Stab und traf damit Chaps Schulter. Das Tier fiel zur Seite, kam aber sofort wieder auf die Beine.

»Du verwendest ihn jetzt als Quelle deiner Kraft«, fuhr Ubâd fort. »Anstatt dich davon antreiben und versklaven zu lassen.«

Erneut griff Magiere an, doch Ubâd blockte einen Hieb nach dem anderen ab. Einmal traf sein Stab ihren Unterarm mit solcher Wucht, dass sie taumelte, doch sie fühlte kaum den Schmerz. Wie auch immer Ubâd es fertigbrachte, mit einer so schweren und unhandlichen Waffe umzugehen es schien ihm keine Mühe zu machen. Seine Fähigkeit, wie ein Geist an einer Stelle zu verschwinden und an einer anderen zu erscheinen, sorgte immer wieder dafür, dass Chap nach leerer Luft schnappte. Magieres Instinkt wies sie darauf hin, dass der Maskierte nur mit ihnen spielte.

Er attackierte sie mit Worten, die härter waren als das Eisen der Stange. »Du bist ein Wesen aus Leben und Tod, geboren, um mehr zu sein als das eine oder andere. Beides wird sich vor dir verneigen … wenn du akzeptierst, was du bist. Du kannst dich nicht länger vor dir selbst verstecken.«

Magiere schauderte; kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Haut.

Solange sie sich an Hunger und Hass festklammerte – gewissermaßen an den Wurzeln ihres Wesens –, konnte sie dies die ganze Nacht fortsetzen und die Erschöpfung bis zum Ende des Kampfes verdrängen. Wie lange dauerte es noch, bis Ubâd die Spielerei und sein Predigen satthatte? Wann würde er sich entscheiden, alle seine Fähigkeiten gegen sie zu einzusetzen?

»Du hast sonst niemanden«, sagte er, nun ruhiger. »Niemand außer mir versteht diese Dinge. Du hast noch so viele andere Fragen, und nur ich kann sie beantworten. Wenn du nach einem Platz für dich suchst, nach einer Familie … Ich bin alles, was dir geblieben ist.«

Magiere schlug zu, und diesmal parierte Ubâd nicht ganz so schnell.

Sie legte ihr ganzes Gewicht in den Schlag, und er musste mehr Kraft aufwenden, ihr seine ganze Aufmerksamkeit widmen. Einen Augenblick später schrie er auf und taumelte.

Chaps Zähne hatten sich ihm in die Wade gebohrt, und als sich Ubâd halb umdrehte, zerrte der Hund an ihm. Magiere griff mit der freien Hand nach dem Ende des Eisenstabs und stieß gleichzeitig mit dem Falchion zu. Die Klinge bohrte sich durch den Kapuzenmantel und in die Brust des Maskierten.

Er heulte, und der Stab wurde aus Magieres Hand gerissen. Als sie ihr Falchion aus Ubâds Leib ziehen wollte, knallte der Eisenstab an ihre Schläfe, und die Welt um sie herum löste sich auf.

Zuerst gab es keinen Schmerz. Das Brennen und Stechen kam, als wieder ein Bild vor ihren Augen entstand.

Sie sah zum dunklen Himmel über der Lichtung hoch und fühlte feuchten Boden unter sich. Zwei Geräusche drangen wie aus weiter Ferne an ihre Ohren: Chaps Knurren und seltsame, geflüsterte Worte in einer ihr unbekannten Sprache.

Ubâd hatte mit einem leisen Sprechgesang begonnen.

Magiere rollte sich herum, auf Hände und Knie.

Kehlige Worte kamen aus Ubâds Mund, als er mit dem Stab nach Chap schlug. Der Hund stob davon, und der Maskierte rammte den Stab in den Boden.

»Khurúj fé nafsê htalab!«, rief er.

Diese Worte passten nicht zum Sprechgesang. Er stieß sie auf eine vertraute Weise hervor, wie eine Anweisung für jemanden, den Magiere nicht sah. Der Boden unter ihr bebte.

Sie stand unsicher auf und wusste nicht, ob sie Ubâd angreifen oder die Lichtung verlassen sollte. Chap knurrte erst und jaulte dann. Er lief auf sie zu und rutschte über den Boden, um nicht gegen sie zu prallen, drückte dann mit Kopf und Schultern an ihre Beine. Offenbar wollte er, dass sie sich in Richtung Bäume zurückzog.

Ubâd wiederholte die sonderbaren Worte, und diesmal klangen sie noch schärfer: »Khurúj fé nafsê htalab!«

Wieder bebte der Boden, und Magiere fiel. Um sie herum glühte es plötzlich, und etwas strich ihr über Arme und Beine, hob sie hoch. Bevor sie erkennen konnte, was sie hielt, lief Chap über die Lichtung, verfolgt von einem ihm nachjagenden Spalt im Boden.

Blauweißes Licht kam aus diesem Spalt. Es schien in der Luft Substanz zu gewinnen und formte lange, rankenartige Gebilde, die Chap erreichten und sich um ihn wickelten, ihn vom Boden rissen und seine Flucht beendeten.

Die Ranken schlangen sich auch um Magieres Gliedmaßen, wie Seile aus lebendigem Licht.

»Ich bin auf Tote spezialisiert«, sagte Ubâd. »Aber ich kann auch andere Dinge beschwören, wie zum Beispiel den kollektiven Geist des Waldes.«

Magiere versuchte, ihre Arme zu bewegen. Wenn sie Ubâd nicht tötete … Was sollte dann aus Leesil und Wynn werden?

»Bist du jetzt bereit, vernünftig zu sein?«, fragte Ubâd.

Der Zorn wich Benommenheit. Als sie sprach, bewegte sich der Mund normal, denn die Zähne waren auf ihre übliche Größe geschrumpft. »Meine Begleiter … Lass sie in Ruhe. Dann höre ich mir an, was du zu sagen hast.«

»Wie großzügig von dir«, erwiderte Ubâd spöttisch. »Ich werde dein Vater sein, dein Lehrer, deine Familie. Du hast sonst niemanden. Inzwischen dürfte Vordana mit deinem Halbblut fertig sein, und meine anderen Diener haben sich die junge Weise vorgenommen.«

Leesils Gesicht erschien in Magieres Gedanken, und Kälte erfüllte sie.

Ubâd log. Es musste eine Lüge sein.

Zorn und Gier brodelten erneut in ihr, als sich Ubâd Chap zuwandte.

»Und was diesen Köter betrifft, die Marionette des Feindes … Seine Einmischungen gehen hier und heute zu Ende.«

Welstiel fühlte Magieres Präsenz und folgte ihr. Um ihn herum herrschte eine sonderbare Stille im Wald. Er sah nicht zuerst Magiere, sondern ein blauweißes Licht, das die Dunkelheit weiter vorn durchdrang. Es bewegte sich und gewann an Intensität, als er näher kam. Was Welstiel sah, ließ ihn fast auf die Lichtung stürmen.

Ranken blauweißen Lichtes kamen aus dem aufgebrochenen Boden, wickelten sich um Magiere und Chap und hoben beide hoch. Die tentakelartigen Gebilde bestanden vermutlich aus beschworener Elementarmaterie, aber ihre Natur blieb Welstiel unbekannt. Damals, während ihrer gemeinsamen Jahre, hatte Ubâd ihm nie demonstriert, dass er über eine solche Fähigkeit verfügte.

Welstiel gab dem Drängen in ihm nach und machte einen weiteren Schritt nach vorn, hielt dann aber wieder inne.

Auf eine solche Situation war er in keiner Weise vorbereitet. Bisher hatte er von niemandem gewusst, der in diesem Ausmaß über Elementarenergie und -materie zu gebieten verstand.

Eine Mischung aus Zorn und Sorge veranlasste Welstiel, die Fäuste zu ballen. Magiere und Chap zappelten und versuchten sich zu befreien, aber die glühenden Ranken passten sich ihren Bewegungen an. Ubâd konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Majay-hì, und die Tentakel aus Licht wickelten sich enger um das Tier.

Welstiel trat einen weiteren Schritt vor und verharrte hinter einem Baum am Rand der Lichtung.

Die Ranken mochten zwar aus Elementarmaterie bestehen, aber ihnen fehlte ein eigener Wille. Sie befolgten die Befehle des Nekromanten.

Hinter seiner ledernen Maske verfügte Ubâd nicht über normale Sicht – er benutzte irgendeine arkane Methode, um die Welt zu sehen. Welstiel verfügte über ein Objekt, das vor Entdeckung durch übernatürliche Sinne oder magische Mittel schützte. Er hatte es vor langer Zeit geschaffen, um nach Magieres Geburt mit ihr zu fliehen.

Welstiel setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden und blickte auf seinen Ring des Nichts.

Er wirkte von ganz allein, ohne dass der Träger ihn aktivieren musste. Mehr stand ihm nicht zur Verfügung, und die derzeitige Situation erforderte, dass er den Einfluss des Rings erweiterte.

Er streifte ihn ab und hielt ihn zwischen den Fingerspitzen. Leise magische Worte kamen über Welstiels Lippen, als er sich darauf konzentrierte und seine Lebenskraft auf ihn übertrug. Erschöpfung machte sich bemerkbar, aber er wahrte seine Konzentration, bis er das Gefühl hatte, schon viel zu lange dazusitzen.

Ubâd musste Magieres Präsenz spüren, um gegen sie zu kämpfen. Welstiel wollte diese Präsenz vor ihm verbergen.

Die Erschöpfung nahm plötzlich zu, und eine unsichtbare Woge ging von dem Ring aus.

Zorn brannte in Magiere, und gleichzeitig regte sich Furcht vor Verlust. Leesil konnte nicht tot sein. Es war eine Lüge.

Als sich Ubâd Chap zuwandte, wollte sie rufen, doch die Worte kamen leise und heiser aus ihrem Mund. »Wenn du ihm etwas antust, bin ich mit dir fertig.«

Ubâd zögerte, die eine Hand erhoben.

»Ich höre dich an«, fügte sie hinzu. »Aber du wirst tun, was ich dir sage. Andernfalls kannst du dich mit einem deiner Toten unterhalten.«

Ubâd drehte sich zu ihr um. »Du fühlst dich niemals hilflos, wie? Und wenn ich dir sage, dass die Freiheit nur darauf wartet, von dir ergriffen zu werden?«

Magiere hatte keine Lust auf ein weiteres Spielchen des Maskierten. Hoffnung lag für sie in Leesils Armen, in seinen Augen. Wenn sie ihn verlor, gab es nur noch Tod und Blut – für Ubâd.

»Komm zur Sache«, sagte sie.

»Wenn du mir richtig zugehört hättest … Ich habe dir die Antwort bereits gegeben. Alles Existierende besteht aus den fünf Elementen, und das Leben bildet dabei keine Ausnahme. Die Ranken, die dich festhalten … Sie bestehen aus dem Element des Geistes, beschworen aus dem Wald; mit diesem Element ist das Leben besonders stark verbunden. Du kannst Leben als Nahrung aufnehmen. Mach Gebrauch von dieser Fähigkeit, und du bist frei.«

Ubâd kam so nahe, dass Magiere die Falten in seiner Ledermaske sah, als sie auf ihn hinabblickte.

»Nimm das Leben der Ranken. Verzehre es wie die Edle Tote, die du bist. Du brauchst es nur zu wollen, so wie sie an deinen Körper gedrückt sind. Und anschließend bist du frei.«

Magiere schnitt eine Grimasse, als sie auf die glühenden blauweißen Stränge starrte, die sie fesselten. Sie fühlte ihre Glätte und Wärme, als hätten sie tatsächlich Substanz. Doch für ihre Augen waren sie nicht stofflicher als die Geister in Wald und Höhle.

Wozu Ubâd sie aufforderte … Es erfüllte sie mit Ekel.

Sie sollte dem Hunger nachgeben, der Gier? Sie sollte wie einer der Untoten fühlen, die Leesil und sie jagten und zu Asche verbrannten? Ob durch Berührung oder getrunkenes Blut – es bedeutete, einer von ihnen zu werden. Dann würde sie zu dem Wesen, das Ubâd in ihr sah, und verlor endgültig die Person, die sie sein wollte.

Nur einmal hatte sie fremde Lebenskraft aufgenommen. Leesil war ihr bereitwilliges Opfer gewesen, und sie hatte erst bemerkt, was geschah, als es fast zu spät war. Doch wenn Ubâd log und Leesil noch lebte, und wenn sie gefangen blieb … Es hätte bedeutet, dass er allein gegen den Verrückten und seine toten Diener kämpfen musste.

Leesils Leben … oder das Leben, das sie sich wünschte?

Magiere ließ ihren Hunger größer werden.

Er erfasste nicht nur Kopf und Hals, sondern breitete sich im ganzen Körper aus. Sie fühlte seine Bewegungen, wie die der schwarzen Stränge, die Wynn mit ihrer mantischen Sicht gesehen hatte. Der Hunger wand sich schlangenartig durch ihre Glieder und kroch dem prickelnden Leben entgegen, das sich in Form der glühenden Ranken an ihren Leib presste.

Und mehr geschah nicht.

Magiere starrte auf ihren Arm, zwischen Enttäuschung und Erleichterung hin und her gerissen. Ihr Körper wollte nicht die Kraft aufnehmen, die er dort spürte. Vielleicht war er gar nicht dazu imstande.

Sie konnte sich nicht befreien, um Leesil zu helfen.

Was auch immer sie sein mochte: Ubâd wusste von ihrer wahren Natur nicht annähernd so viel, wie er glaubte. Magiere blickte in seine lederne Maske, unfähig dazu, ein Wort hervorzubringen. Mit welchen Worten hätte sie ihn veranlassen können, sie freizugeben?

Etwas Unsichtbares strich durch die Luft, wie ein Wind ganz besonderer Art.

Ubâd wankte zurück, und Magiere vermutete, dass er den sonderbaren Kontakt ebenfalls gespürt hatte. Der Eisenstab entglitt seiner Hand und fiel zu Boden, und er hob beide Hände zur Maske. Er wich noch einen Schritt zurück, stolperte, ruderte mit den Armen und fiel.

Magiere wusste nicht, was gerade geschehen war, aber Ubâd schien irgendwie geschwächt zu sein. Sie versuchte, den rechten Arm freizubekommen, dessen Hand noch immer das Falchion hielt. Die Ranken hielten stand, zogen sich aber nicht enger.

»Dhampir?«, flüsterte Ubâd mit einem Hauch von Furcht in der Stimme. Er kroch über den Boden und tastete mit den Händen umher – vielleicht suchte er den Stab.

Magiere beobachtete ihn erstaunt. Ubâd schien jetzt wirklich blind zu sein.

Der matte Glanz auf der rechten Seite der Lichtung wurde heller, und Magiere drehte den Kopf.

Chap hing noch immer in der Luft, aber er hatte sich verändert. Sein Fell schien weißer zu sein. Je heller er wurde, desto mehr trübte sich das Glühen der Ranken. Sie gaben nach, und Chap sank langsam dem Boden entgegen. Als er ihn erreichte, fielen die Ranken von ihm ab, und der weiße Glanz verschwand, kehrte in den Boden zurück, aus dem er gekommen war. Sofort lief der Hund zu Magiere.

Ubâd schien seine Bewegung zu spüren und kam auf die Knie. Er wandte das maskierte Gesicht Chap zu und hob die Hand.

Chap erstarrte, und Magiere befürchtete, dass Ubâd wieder sehen konnte.

Doch er drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, und Magiere gewann den Eindruck, dass er sich allein mit Hilfe von Geräuschen orientierte. Chap kroch ihr entgegen.

Sie holte tief Luft und pfiff.

Ubâd zuckte zusammen und wandte sich zu ihr, aber erneut drehte er unsicher den Kopf, und die ausgestreckte Hand kehrte zum Ohr zurück. Der schrille Pfiff lenkte ihn von den Geräuschen ab, die Chap verursachte.

Magiere senkte den Blick und sah, wie der Hund ihre Ranken berührte. An den betreffenden Stellen leuchtete sein Fell weiß auf, und die Ranken gaben noch schneller nach, als es bei ihm selbst der Fall gewesen war. Magiere sank dem Boden entgegen und fühlte ihn wenige Sekunden später unter den Füßen. Ubâd hörte es, und seine Hände kamen wie Waffen nach vorn.

Chap sprang nach links, und Magiere wandte sich nach rechts. Ubâd hielt verwirrt inne, zog die Hände langsam zurück, neigte den Kopf zur Seite und horchte.

Magiere deutete erst auf Chap, dann auf Ubâd und schickte den Hund mit einer knappen Geste nach vorn. Sie setzte sich selbst in Bewegung und näherte sich so leise wie möglich dem Knieenden, während Chap von der anderen Seite kam.

Ubâds Kopf ruckte von einer Seite zur anderen. Magiere beobachtete, wie er den Mund öffnete und schneller atmete. Er richtete sich auf, hob die Hände, schlug sie auf den Boden und rief:

»Il’Samar, li-yigdim êyäk khädim fa-ta’zêz ana alän!«

Magiere blieb stehen, sah nach rechts und links und rechnete mit einem neuen Trick des Maskierten. Leere Spalten durchzogen den Boden, aber es kam nichts aus ihnen. Chap hatte Ubâd fast erreicht, und Magiere machte einen weiteren Schritt.

»Il’Samar!«, rief Ubâd erneut. »Komm zu deinem Diener und hilf ihm!«

Magiere hob ihr Falchion.

Die Finsternis um sie herum verdichtete sich, bis sie selbst für ihre Nachtsicht undurchdringlich wurde. Magiere blinzelte, weil sie glaubte, die Augen geschlossen zu haben. Ihre Lider hoben und senkten sich, doch es blieb alles schwarz. Langsam kehrten die nächtlichen Konturen des Waldes zurück, und etwas bewegte sich darin.

Magiere sah es nicht nur auf der einen Seite, sondern überall.

Die Dunkelheit zwischen den Bäumen wogte, und das Wogen glitt am Rande der Lichtung entlang.

Bei jeder Umkreisung kam es näher, schwebte durch Baumstämme, Äste, Büsche und Moosvorhänge, wie ein lebendig gewordener Teil der Nacht. Zuerst sah es aus, als würde sich der Boden erheben und in Wellen aus schwarzer Erde bewegen, aber nach und nach offenbarten sich Magiere Einzelheiten.

Bei den Wellen schien es sich um die Gliedmaßen eines lebendigen Wesens zu handeln. Sie glänzten in einem seltsamen, matten Licht, das aus dem Nichts kam, und Magiere sah ihre Oberfläche, die offenbar aus Schuppen bestand. Der Leib einer riesigen Schlange ohne Anfang und Ende schien sich durch den Wald zu winden.

»Großer Gebieter«, intonierte Ubâd mit erhobenen Armen. Er ließ eine Hand sinken und deutete damit in Chaps Richtung. »Ich bringe dir den Diener deiner Feinde, auf dass du ihn verschlingen mögest!«

Die andere Hand zeigte auf Magiere.

»Und das Kind, das du dir gewünscht hast, für den Moment, in dem du aus deinem langen Schlaf erwachst – möge er bald kommen.«

Chap drehte sich und lief von einer Seite zur anderen. Der aus seinem Maul kommende kehlige Schrei klang fast menschlich. Er rannte zu Magieres Seite der Lichtung und verharrte zwischen ihr und den schwarzen Gliedern. Sie waren nicht ganz real, doch Chap schien der Panik nahe zu sein.

Und Ubâd war zu einem demütigen Bittsteller geworden.

War dies sein Herr? Die Schlange … Sollte sie auch zu Magieres Herrin werden?

»Il’Samar …?«, sagte Ubâd. »Ich fühle dich bei mir … Willst du sie nicht nehmen, nach all den Jahren meiner Bemühungen?«

Chap lief um Magiere herum und jagte auf den Nekromanten zu.

Ubâds Schrei drang an Magieres Ohren, bevor sie sich umdrehte und den Angriff des Hundes sah. Das Tier auf Ubâd war noch immer das langbeinige Geschöpf mit dem silberblauen Fell, das Leesil und sie seit Jahren begleitete, doch all das, was Magiere in den letzten Jahren über Chap erfahren hatte, war in diesem Moment hinfällig.

Chap schnappte nach Ubâds Kehle, und der Schrei des Nekromanten fand ein jähes Ende. Er schlug um sich, als die Zähne des Hundes sein Fleisch zerrissen.

Eine Stimme ertönte in Magieres Kopf und klang so, als käme sie von allen Seiten.

Hoch oben … in Kälte und Eis. Bewacht von den Alten … von den ältesten deiner Vorgänger.

Die Worte hallten durch Magieres Bewusstsein und drängten alle ihre Gedanken beiseite. Sie fühlte ihre Vibrationen im ganzen Körper und sah zu den schwarzen Gliedern im Wald.

Schwester der Toten … Übernimm die Führung.

Chaps Knurren hörte auf, und es war nur noch ein Schnaufen und Keuchen zu hören.

Die Stimme verschwand aus Magieres Ich, und im Wald lösten sich die dunklen Glieder der Schlange auf. Zurück blieb das Schwarz zwischen den Bäumen. Magiere blickte zu Ubâd und verzog das Gesicht.

Sie hatte schon viele schreckliche Dinge in ihrem Leben gesehen. Die zerrissene Kehle des Nekromanten beeindruckte sie kaum – sie selbst hätte Ähnliches mit ihm angestellt. Es war der Anblick von Chap, der sie so beunruhigte.

Der Hund lief wieder hin und her, starrte dabei in den Wald. Er knurrte und keuchte, atmete viel schneller als sonst.

»Chap?«, rief Magiere vorsichtig.

Er wirbelte mit einem Knurren herum. Das Fell an Schnauze, Kehle und Brust war dunkelrot, und das galt auch für die gefletschten Zähne. Die Augen starrten wild. Immer wieder kehrte sein Blick zu den Bäumen zurück, als rechnete er damit, dass der schwarze Schlangenleib dort erneut erschien. Und so gefährlich Chap in diesem Moment auch wirken mochte – Magiere sah, dass er zitterte. Chap war entsetzt.

Sie hatte ihn noch nie zuvor auf diese Weise gesehen, und das veranlasste sie, wachsam in den Wald zu spähen. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Chap. Magiere wusste nicht einmal, ob er sie erkannte, aber sie streckte die Hand aus, mit der Innenfläche nach oben. Sie näherte sich nicht und wartete darauf, dass er ihren Geruch wahrnahm.

Chap knurrte, kam einen Schritt auf sie zu und blieb stehen.

»Davor wolltest du uns schützen«, sagte sie sanft. »Und vor allem mich?«

Einige Sekunden herrschte Stille, und dann bellte Chap einmal.

»Leesil … und Wynn«, sagte Magiere. »Kannst du sie finden?«

Bevor Chap antworten konnte, fühlte Magiere erneut, dass etwas über sie hinwegstrich, wie unmittelbar vor Ubâds Erblinden.

Chap hob den Kopf, die Ohren aufgerichtet, und starrte in den Wald. Das Zittern der Furcht hatte ihn verlassen, und er war angriffsbereit. Die hellen Augen warfen Magiere einen Blick zu, und dann lief er in den Wald.

Sie folgte dem Hund, wollte nach ihm rufen und ihn auffordern stehen zu bleiben, doch dann hörte sie sein Jagdgeheul.

Es befand sich ein weiterer Edler Toter im Wald.

Welstiel verlor immer mehr Kraft, aber er hielt nicht inne, flüsterte weiter und blieb auf den Ring konzentriert, der Ubâd die Sicht nahm – bis der Nekromant schließlich tot war. Er wusste nicht genau, warum der Majay-hì so wild geworden war, aber er hatte gesehen, wie im Wald der Schlangenleib aus seinen Träumen erschienen war. Die schockierte Verblüffung angesichts dieses Anblicks hatte fast seine Konzentration beendet.

All die Jahre hatten ihn die schwarzen, schuppenbedeckten Reptilienglieder in seinen Träumen heimgesucht, mit mehr oder weniger vagen Hinweisen darauf, was er suchte und wie er seine elende Existenz verändern konnte. Welstiels Herrin, von Ubâd »Gebieter« genannt, schien den Nekromanten noch viel länger begleitet zu haben als ihn. Vielleicht war es dieser Herr gewesen, zu dem Welstiels Vater so oft in der Dunkelheit geflüstert hatte. Und als seine Stimme erklungen war, nicht im Traum, sondern hier in der Nacht, hatten die Worte nicht Welstiel oder Ubâd gegolten – dem kriecherischen Maskierten schenkte die Erscheinung überhaupt keine Beachtung

Welstiel hatte die Worte des Schlangenwesens vernommen.

Schwester der Toten … Übernimm die Führung.

Die Stimme in der Nacht hatte zu Magiere gesprochen, mit ähnlichen Worten wie in Welstiels Träumen.

Er beendete den Sprechgesang, sank auf den Waldboden und steckte sich den Ring wieder auf den Finger, bevor die zitternden Hände ihn fallen ließen. Ein fast schrilles Heulen kam von dem Hund, und er lief in den Wald, gefolgt von Magiere. Die Wirkung des Rings beschränkte sich wieder nur auf seinen Träger, und damit gab es nichts mehr, das die Wahrnehmung des Majay-hì einschränkte. Er hatte etwas anderes zwischen den dunklen, feuchten Bäumen gespürt.

Chane.

Es überraschte Welstiel, wie sehr ihn dieser Gedanke beunruhigte. Er versuchte aufzustehen, war aber zu schwach und sank auf den Boden zurück.

Magiere lief, so schnell sie konnte, damit der Abstand zu Chap nicht zu groß wurde.

Das Geheul hörte schließlich auf, aber der Hund lief weiter. Magiere vertraute Chaps Urteilsvermögen beim Kampf gegen Untote. Wenn er beschloss, stumm zu laufen, so hatte er vermutlich einen guten Grund dafür. Nach Ubâds Tod hatte er vielleicht Vordana oder einen anderen Schergen des Nekromanten gewittert.

Magiere lief weiter und schlug mit ihrem Falchion alle Hindernisse aus dem Weg. Als Chap verharrte, wurde sie langsamer und näherte sich ihm vorsichtig.

Angespannt und wachsam schob er sich durch ein Gebüsch zwischen zwei Eichen. Magiere folgte ihm und hielt ihre Waffe bereit.

Am Rand eines offenen Bereichs blieb Chap stehen und starrte zu einem Baum auf der anderen Seite. Magiere sah in die gleiche Richtung. Der Anblick war seltsam, irgendwie unwirklich, und es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, dass es sich nicht um eine Vision handelte wie bei dem riesigen Schlangenleib im Wald.

Die kopflosen Leichen der beiden untoten Seemänner lagen dort. Der Halsstumpf des ersten war zerfetzt, der Kopf nirgends zu sehen. Der andere lag weiter entfernt, und ein Langschwert hatte sich durch seinen Brustkorb in den Boden gebohrt. Der Kopf war ein Stück vom Körper weggerollt.

Ein Mann mit rotbraunem Haar und attraktivem Gesicht kniete und hielt etwas in den Armen. Magiere sah sein Profil und erinnerte sich an ihre letzte Begegnung in der Kanalisation von Bela.

Chane.

Die Person, die er in den Armen hielt, setzte sich auf. Magiere blickte in Wynns furchterfüllte Augen.

Die Schulter der jungen Weisen blutete unter einem improvisierten Verband, den Chane daraufdrückte. Magiere hatte keine Ahnung, was hier geschehen war, und sie scherte sich auch nicht darum. Mit dem Falchion in der Hand trat sie vor. »Lass sie los!«

Als Chane Magiere und Chap sah, kroch er zur Seite und griff nach dem Langschwert in der Brust des einen Seemanns.

»Nein, Magiere!«, rief Wynn. »Er hat mich gerettet. Er kam, um mir zu helfen.«

»Um dir zu helfen?« Magieres Zorn wuchs. »Zur Seite, Wynn!«

Sie griff an, als Chane sein Schwert aus dem Toten riss und zu ihr herumwirbelte. Schwarze Flüssigkeit bildete große Flecken auf seinem zerrissenen Hemd. Magiere schlug zu, und ihr Falchion rutschte über die Klinge des Langschwerts, traf Chanes Bauch.

Er schnappte nach Luft und wich zurück. Magiere wusste, dass der Kontakt mit dem Falchion ihn nicht nur auf die übliche Weise verletzte, sondern auch verbrannte.

»Hör auf!«, rief Wynn.

Chap sauste heran und stürzte sich knurrend auf Chane. Hund und Vampir gingen zu Boden, und Magiere wartete auf eine Gelegenheit zu einem weiteren Hieb. Chane bemerkte sie, trat nach ihr und traf sie am Unterkiefer, stieß Chap dann mit solcher Wucht von sich, dass der Hund ins Gebüsch rollte.

Chane stand auf, und sein Blick wanderte zwischen den beiden Angreifern hin und her. Magiere wich zur Seite und behielt ihren Gegner im Auge.

»Wynn hat recht«, sagte Chane. »Ich wollte sie nur vor den wandelnden Toten retten.«

»Lügner!«, zischte Magiere und fühlte, wie ihre Eckzähne länger wurden. Sie schüttelte den Kopf. »Du bist nichts weiter als ein Mörder … und du wirst müde.«

Chap kehrte aus dem Gebüsch zurück und hinkte auf dem rechten Hinterbein. Er knurrte erneut, beobachtete Chane und kam näher. Die Ruhe in Chanes hellbraunen Augen verschwand und wich Verärgerung.

Magiere griff erneut an und schlug nach Chanes Kopf. Er duckte und drehte sich, stieß mit seinem Langschwert zu. Sie parierte den Hieb.

Chane drehte sich so schnell, dass er zu einem Schemen wurde. Anstatt sein Schwert zu heben, ließ er es der Abwehrbewegung des Falchions folgen, trat unerwartet vor und schmetterte Magiere die Faust an die Wange. Nur Rashed, der sumanische Untote in Bela, hatte sie jemals mit solcher Wucht geschlagen. Magiere ging zu Boden.

Einen Moment später stand Chane über ihr, das Schwert in beiden Händen und die Spitze auf die Mitte ihrer Brust gerichtet.

»Nein!«, rief Wynn. Sie warf sich nach vorn, kniete sich neben Magiere und streckte Chane eine Hand abwehrend entgegen. »Bitte, tu ihr nichts.«

Chane zögerte, senkte das Schwert und sah Wynn an.

Magiere griff nach seinem Handgelenk. Er wich zurück, und damit half er seiner Gegnerin unabsichtlich auf die Beine. Wynn kippte zur Seite, und Magiere stieß ihr Falchion nach vorn.

Die Spitze schnitt in die weiche Haut unter dem Kinn des Vampirs und riss ihm den Hals auf. Schwarze Flüssigkeit spritzte auf den Boden. Chane taumelte zurück, und Magiere stürzte auf ihn. Sofort rollte sie sich nach links, hob das Falchion und schlug nach dem ungeschützten Hals.

Chanes Kopf löste sich vom Körper und rollte fort.

Magiere hörte Wynns Schrei und Chaps Knurren, aber sie schien davon weit entfernt zu sein, während sie schwer atmend versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Wynn sank neben Chane auf die Knie, zog an seinem Hemd und schluchzte. Der Verband war von ihrer Wunde abgefallen, und sie blutete wieder.

»Nein … o Magiere, nein«, flüsterte sie.

»Schluss damit«, sagte Magiere.

Wynn sah sie aus großen Augen an. »Du hast ihn einfach so getötet! Was bist du, Magiere? Glaubst du, besser zu sein als er? Du bist schlimmer.«

Zorn stieg in Magiere auf, und fast hätte sie die junge Weise geschlagen. Die Närrin hatte einem Ungeheuer vertraut. Dann fielen ihr Wynns frühere Worte ein, und aus dem Zorn wurde kalter Argwohn.

Chane war gekommen, um ihr zu helfen.

»Wie lange ist er uns gefolgt?«, fragte Magiere.

»Seit Pudúrlatsat!«, rief Wynn. Tränen verschmierten den Schmutz in ihrem Gesicht. »Nicht ich habe damals Vordana vertrieben – das hat er getan! Er war es, der uns vor einem Untoten rettete, den du nicht überwältigen konntest. Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich Angst hatte, dass du ihn töten würdest.«

Wynn ließ den Kopf auf Chanes Brust sinken.

Magiere stand auf und trat zurück.

»Du hast uns belogen und betrogen? All die Nächte hast du bei Chap gelegen und gewusst, dass uns ein Untoter folgte. Du hast sogar gewusst, wer es war – und uns kein Wort gesagt?«

Magiere traute wenigen Personen, und sie hatte Wynn ihr Leben und das von Leesil anvertraut.

Chap hörte auf zu knurren und beobachtete sie beide. Er schaute nach Süden, jaulte leise und lief zum Gebüsch. Als er dort einmal bellte, ging Magiere zu ihm und sah in den Wald.

Leesil kam ihnen entgegen, stützte sich immer wieder an einem Baumstamm oder einem niedrigen Ast ab. Erleichterung erfüllte Magiere und war für den Moment stärker als alles andere, als sie zu ihm eilte. Sie zog ihn an sich, und er schlang ihr den Arm um die Schultern, um sich auf den Beinen zu halten.

»Bin ich froh, dich wiederzusehen«, stieß er atemlos hervor. »Ich habe Wynn verloren.«

»Bist du verletzt?«, fragte Magiere.

»Nur schwach. Hab einen Kampf gegen Vordana hinter mir.«

Sie sah in die Richtung, aus der er kam. »Wo ist er?«

Leesil hob die andere Hand und deutete hinter sich. »Dort drüben irgendwo … der größte Teil von ihm. Wir müssen sein schreckliches Grinsen nicht länger ertragen.«

Typisch Leesil, dachte Magiere, als sie ihn stützte. Er versuchte immer, ihre Stimmung ein wenig aufzuhellen.

»Wir müssen Wynn finden«, sagte er.

Magiere führte ihn durchs Dickicht, und im offenen Bereich sah er die enthaupteten Seemänner und Wynn mit dem Gesicht auf der Brust einer kopflosen Leiche. Leesil nahm den Arm von Magieres Schultern, trat zur Seite und bemerkte den Kopf hinter dem Leichnam.

»Was zum … Wynn, du blutest ja. Ist das Chane?«

Die junge Weise hob den Kopf, sah ihn aber nicht an. Sie hatte aufgehört zu weinen und starrte in die Dunkelheit.

In Magiere regte sich kein Mitleid für sie. Wynn hatte sie verraten.

»Wir müssen die Leichen verbrennen«, sagte Magiere.

Wynn blinzelte einmal und ergriff Chanes Schwert. Sie hob es mühsam, woraufhin ihre Schulter stärker blutete. »Du wirst ihn nicht anrühren!«

Leesil beobachtete die junge Weise, sah dann Magiere an und wusste offenbar nicht, was er von der Sache halten sollte. Chap jaulte lauter und bellte zweimal.

»Nein?« Leesil wandte sich dem Hund zu. »Und worauf bezieht sich dein Nein?«

Magiere hielt den zornigen Blick auf Wynn gerichtet, als sie erneut zu Chap trat.

Ein gespenstischer Schrei erklang in der Ferne, gefolgt von einem Zischen, das viel näher war. Ein Glimmen flog durch den Wald, nur einen Steinwurf entfernt: der kindliche Geist, der Magiere zu Ubâd geführt hatte.

»Wir haben keine Zeit, die Leichen zu verbrennen«, sagte sie. »Ubâd ist tot, aber seine Diener sind noch immer dort draußen. Wir müssen los.«

»Sie kehren zurück?«, fragte Leesil. »Ein sonderbarer Wind hat sie alle davongeweht.«

Er näherte sich Wynn mit langsamen Schritten, entweder aus Erschöpfung oder weil er die junge Weise nicht erschrecken wollte.

»Es wird Zeit zu gehen«, sagte er leise.

Wynn konnte das Langschwert nicht mehr halten – es sank zu Boden. Leesil hob den blutigen Verband zu ihren Füßen auf, drückte ihn behutsam an die Schulter und zog den zerrissenen Umhang darüber.

Chap übernahm die Führung und versuchte, sein rechtes Hinterbein zu schonen, als er durch den Wald lief. Leesil blieb an Wynns Seite, und es ließ sich kaum feststellen, wer wen stützte, als sie dem Hund folgten. Magiere bildete den Abschluss und sicherte nach hinten.

Die Abstände zwischen den Bäumen wurden allmählich größer. Sie schickten sich an, den sumpfigen Wald zu verlassen, in dem Tote wandelten und sich die schwarzen Glieder einer riesigen Schlange gezeigt hatten. Plötzlich erklang hinter ihnen ein Heulen, das näher kam, und Magiere sah zurück.

Der alte Soldat mit der Bauchwunde flog auf sie zu.

»Lauft!«, rief Magiere. »Dort vorn ist der Wald zu Ende.«

Leesil warf einen Blick über die Schulter, sah den Geist, griff nach Wynns Arm und riss sie mit sich. Magiere zog ihr Falchion, hob es und versuchte, die Aufmerksamkeit des Phantoms auf sich zu lenken.

Weitere glühende Gestalten erschienen zwischen den Bäumen. Geister durchdrangen Magiere, ohne Schmerz zu verursachen. Als sie ihre Gefährten am Waldrand glaubte, lief sie ihnen nach, nur von dem einen Wunsch beseelt, diesen Ort und die Entdeckungen dieser Nacht hinter sich zurückzulassen.

Leesil, Chap und Wynn hatten die Baumgrenze passiert und warteten im Freien. Magiere schloss zu ihnen auf, und als sie am letzten Baum vorbeikam, schwoll das Geheul hinter ihr weiter an. Sie war so schnell, dass sie an den Wartenden vorbeigeschossen wäre, wenn Leesil sie nicht festgehalten hätte.

Zornige Geister flogen dicht unter den Baumwipfeln und gingen tiefer. Sie kreischten wütend, aber nicht einer von ihnen wagte sich über den Rand des Waldes hinaus.

Nicht weit entfernt ragte die alte Feste auf, und vor der Außenmauer warteten Taff und Teufelchen und der Wagen. Magiere hatte sich von ihrem Anblick Erleichterung erhofft, aber sie fühlte nichts dergleichen.

»Wynns Schulter muss behandelt werden«, sagte Leesil.

Magiere brachte es nicht fertig, die junge Weise anzusehen. »Du kannst dich darum kümmern, sobald wir unterwegs sind.«

Als die anderen zum Wagen stapften, schaute Magiere noch einmal zum Wald mit den Geistern zurück. Bei all den dramatischen Ereignissen hatte sie eine Person vergessen, die nicht gerettet worden war. Leesil schien noch erschöpfter zu sein als sie, Chap hinkte, und Wynn war verletzt. Es gab keine Möglichkeit, sich um die zurückgebliebene Person zu kümmern.

Magiere wandte sich mit plötzlicher Scham ab und dachte an die Knochen ihrer Mutter in einem Grab aus Granit.

Welstiel wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war, aber er erwachte in finsterster Nacht und fühlte nicht die Nähe der Morgendämmerung. Geister heulten in der Nähe, und er versuchte, ihr Geschrei zu überhören. Schwach und müde kam er auf die Beine und erinnerte sich daran, dass Ubâd tot war. Zu einem letzten Blick trat er auf die Lichtung.

Er sah und roch Blut auf dem Boden, doch die Leiche des Nekromanten fehlte.

Welstiels Blick glitt über den Rand der Lichtung. Vielleicht hatte einer der Diener den Leichnam mitgenommen. Wie auch immer: Welstiel wollte nicht danach suchen. Es bestand die Gefahr, in einem so geschwächten Zustand entdeckt zu werden. Seine Aufgabe war beendet. Er würde Chane finden, mit der Messingschüssel nach Magiere Ausschau halten und diesen Ort dann endgültig verlassen, hoffentlich ohne noch einmal zurückzukehren.

Langsam ging er durch den dunklen Wald und öffnete seine Sinne der Nacht. Er wollte vermeiden, von lebenden Geschöpfen gesehen zu werden, für den Fall, dass Magiere und ihre Begleiter noch in der Nähe weilten. Doch nichts Lebendes offenbarte sich ihm; er nahm nur den Geruch von Zerfall und Verwesung wahr.

Der Geruch wurde bald so stark, dass er die Empfindlichkeit seiner Sinne verringern musste. Kurz darauf erreichte er eine kleine Lichtung.

Dort lagen die Leichen der beiden wiederbelebten Toten, die er früher in der Nacht gesehen hatte – und Chane.

Welstiel stand eine ganze Weile dort.

Schließlich trat er näher und blickte auf das Schwert und die schwarze Flüssigkeit hinab, die große Flecken auf Chanes weißem Hemd gebildet hatte.