12

Gegen Mittag rollte der Wagen zum Tor von Kéonsk. Leesil griff in seine Sachen und holte einen orangefarbenen Schal mit bunten Mustern hervor. Er strich das Haar hinter die Ohren und wickelte sich den Schal um den Kopf – er war so lang, dass ihm die Enden ein ganzes Stück über die Schultern reichten.

Magiere verzog das Gesicht, als hätte sie in eine faule Birne gebissen. »Wo hast du denn das Ding her?«

»Ich habe ihn von den Móndyalítko bekommen, für ein paar Äpfel.«

»Das hast du mit unseren Äpfeln bezahlt?«, erwiderte Magiere. »Wo ist dein grauer Schal?«

»Den habe ich beim Kampf gegen Vordana im Wald verloren.«

»Die Farbe passt nicht zu dir.«

»Und ob sie passt. Mein Hemd ist braun.«

»Du siehst aus wie jemand, dessen Kopf in Flammen steht. Damit fällst du sofort auf. Nimm das Ding ab und such dir was anderes.«

»Ich habe nichts anderes.«

»Ich finde den Schal recht hübsch«, warf Wynn ein.

»Ach, tatsächlich?«, brummte Magiere.

Taff und Teufelchen blieben stehen, als ein Wächter am Tor vortrat und die Hand hob. Der Mann wirkte recht ernst. Neun weitere standen im Zugang, gekleidet in Rüstungen und rote Waffenröcke.

»Euer Begehr?«, fragte der Wächter.

»Wir wollen zum Markt, um unsere Vorräte zu erneuern«, sagte Magiere. »Und eins unserer Pferde hat sich am Bein verletzt. Wir brauchen die Hilfe von jemandem, der sich mit Pferden auskennt.«

Etwas von der Strenge wich aus dem Gesicht des Wächters. »Der Ort Nesmelórasch liegt eine halbe Tagesreise südlich von hier. Ihr solltet euer Glück dort versuchen.«

Leesil sah echte Sorge in den Zügen des Mannes, wusste aber, dass Magiere nicht auf seinen Vorschlag eingehen würde.

»Wir sind nach Osten unterwegs«, erklärte er. »Stimmt was nicht?«

»Entschuldigt«, sagte der Wächter. »Ihr seid beim Markt willkommen. Doch der Großfürst residiert derzeit nicht in Kéonsk, und es herrscht Uneinigkeit darüber, wer in seiner Abwesenheit die Regierungsgeschäfte führen soll.«

In Leesil prickelte es. Dieser Wächter trug ein gutes Kettenhemd, und an der Scheide seines Schwertes zeigte sich ein vertrautes Familienwappen. Er war mindestens Hauptmann, wenn nicht gar ein Adliger, und vermutlich auch gebildet, denn kaum ein gewöhnlicher Wächter benutzte Wörter wie »residieren«. Warum hielt ein solcher Mann am Stadttor Wache?

»Es gibt Streit?«, fragte Leesil. »Hat der Großfürst denn niemanden bestimmt, der ihn vertritt, solange er nicht in der Stadt weilt?«

Der Wächter musterte sie nacheinander. Er bedachte Leesil mit einem nachdenklichen Blick, doch seine Aufmerksamkeit galt vor allem Wynn, die hinten mit Chap auf dem Wagen saß. Ihr Anblick schien ihn noch etwas mehr zu erweichen.

»Baron Buscan, Protektor der Stadt, wurde in der vergangenen Nacht ermordet«, sagte er. »Prinz Rodêk hinterließ ein illegales Kontingent seiner Truppen in der Stadt, und andere Häuser nutzen das und den Mangel an Autorität in Kéonsk, um Vorwürfe gegen die Äntes zu erheben. Derzeit ist es hier nicht sicher.«

Die Erwähnung des Mordes weckte in Leesil Erinnerungen an Sgäile, den elfischen Anmaglâhk, der ihm in Bela nach dem Leben getrachtet hatte. Er wollte fragen, ob irgendwelche Elfen in der Stadt gesehen worden waren, überlegte es sich dann aber anders. Angesichts von Sgäiles Geschick hielt er es für sehr unwahrscheinlich, dass jemand hier in Kéonsk einen Angehörigen der Assassinenkaste gesehen hatte.

»Danke, aber wir können gut auf uns aufpassen«, sagte Magiere.

Der Wächter nickte, trat beiseite und ließ sie passieren.

Einer Eingebung folgend rief Leesil: »Wie lautet dein Name, Herr?«

»Ich bin Hauptmann Marjus von den Väränj.«

Taff und Teufelchen zogen den Wagen zum Marktplatz. Die meisten Buden waren geschlossen, doch vor den Tischen und Karren, die Waren anboten, standen Leute. Leesil bemerkte weitere Soldaten in roten Waffenröcken, die am Rand des Platzes patrouillierten. Andere Männer in gelben Waffenröcken wahrten Abstand zu ihnen.

»Und jetzt?«, fragte er. »Wir haben Pech. Unter den gegebenen Umständen ist eine Audienz im Kastell so gut wie unmöglich – es gibt niemanden, der sie uns gewähren könnte.«

Magiere beobachtete die Soldaten und gab keine Antwort.

»Wir sollten uns ein anständiges Gasthaus suchen«, sagte Wynn, »die Pferde in einem Stall unterbringen und etwas Warmes essen, während wir überlegen, was es zu unternehmen gilt.«

Leesil lächelte. »Toller Plan. Magiere?«

»Ja. Ich sehe einen Stall auf der südlichen Seite des Marktplatzes.«

Nicht weit vom Stall entfernt fanden sie ein Gasthaus namens Jêndu Stezhar, was wörtlich übersetzt »Eichel-Eiche« hieß – es schien sauber und respektabel zu sein. Kurze Zeit später saßen sie in einer Ecke des Gemeinschaftsraums und löffelten trübe Kartoffelsuppe. Der Wirt war ein gutmütiger grauhaariger Mann und erhob keine Einwände, als Leesil um einen zusätzlichen Teller für Chap bat.

Seit der Vision von seiner toten Mutter genügte warmes Essen oder ein bisschen Komfort, um seine Gedanken zu ihr zurückkehren zu lassen, und dann fragte er sich, ob sie gelitten hatte … und noch immer litt. Er sah in Magieres blasses Gesicht und begriff: Er konnte nicht von ihr verlangen, die Suche nach ihrer Vergangenheit aufzugeben, solange sie nicht wusste, was sie war und warum sie existierte, und solange es noch Hoffnung gab, dass sie Antworten auf ihre Fragen fand.

Leesil nahm einen weiteren Löffel von der Kartoffelsuppe und konzentrierte sich auf die Frage, wie sie weiter vorgehen sollten, als er am Nebentisch einen Soldaten in mittleren Jahren bemerkte, der einen gelben Waffenrock trug. Er hatte kurzes braunes Haar und eine lange Narbe an der linken Wange, und er trank bereits den dritten Krug Bier.

Leesil fragte sich, wie offen sie in der Nähe eines Soldaten von Kéonsk – ganz gleich von welchem Haus – reden konnten. Er sah, wie Magieres Blick in die gleiche Richtung ging.

Die unschuldige Wynn stellte die erste Frage, bevor Leesil sie daran hindern konnte. »Wie bekommen wir die Erlaubnis, im Kastell nach Aufzeichnungen zu suchen?«

Der narbige Soldat sah von seinem Krug auf. »Mädchen, das Kastell ist fester verschlossen als ein Fass Herbstwein.«

Er sprach auf Belaskisch, und seine Stimme klang nicht zornig, sondern eher traurig. Wynn drehte sich auf ihrem Stuhl zur Seite, um ihn besser zu sehen.

»Verschlossen? Wie meinst du das?«

Leesils Anspannung wuchs. »Stör nicht die anderen Gäste, Wynn …«

»Ich meine, das Haus Väränj hat die Tore geschlossen und verriegelt. Bis zur Rückkehr meines Prinzen kommt kein Rotrock auch nur in die Nähe des Kastells. Das Schwein namens Buscan ist tot – möge seine Seele zusammen mit dem Körper in der Erde verrotten.«

Wynn hatte ihre Absichten preisgegeben und die Aufmerksamkeit des Hauptmanns geweckt. Offenbar gab es nicht nur Auseinandersetzungen zwischen den Häusern, wie von Marjus erwähnt, sondern auch Konflikte zwischen einzelnen Hausfraktionen. Dieser Äntes-Hauptmann schien vom Berater des Großfürsten nicht viel zu halten. Leesil streckte dem Mann die Hand entgegen. »Ich bin Leesil. Dies sind meine Begleiter Magiere und Wynn. Wir sind gekommen, um nach den Namen von Adligen zu suchen, die vor langer Zeit Lehen im westlichen Dröwinka verwalteten. Gegen ein so schlichtes Anliegen haben die Väränj-Wächter doch sicher nichts einzuwenden.«

Der Hauptmann lachte, aber es klang nicht humorvoll. Als er Leesils ausgestreckte Hand sah, ergriff er sie. »Entschuldige. Ich bin Hauptmann Simu von der Kavallerie der Äntes. Ich möchte euch nicht vom Essen abhalten, aber ihr könnt heimkehren, wenn ihr damit fertig seid.«

»Wir bleiben hier«, sagte Magiere.

Simu sah sie an und seufzte. »Wisst ihr, dass Baron Cezar Buscan in der vergangenen Nacht ermordet wurde? Der Protektor der Stadt – er sei verflucht – ist tot! Jene Väränj-Wachköter … Sie haben nicht genug Grips, um zu verstehen, dass wir ohne Buscan besser dran sind.«

Magiere beugte sich näher. »Ein Hauptmann von einem nahen Lehen hat uns gesagt, dass Buscan ohne Grund Äntes-Adlige durch andere Lehensverwalter ersetzt hat. Stimmt das?«

Die vom Bier trüben Augen des Mannes klärten sich ein wenig, und er schob den Krug beiseite.

»Ich schwöre bei meinen Vorfahren: Das dämonische Weib mit den roten Locken, das er zu seiner Gemahlin machte, hat ihn verhext. Vielleicht war sie es, die ihm den Dolch in den Rücken gestoßen hat. Jedenfalls ist er jetzt tot. Wenn Prinz Rodêk zurückkehrt, bringe ich meine Leute ins Kastell, und dort bleiben sie bis zur Wahl eines neuen Protektors. Und zum Teufel mit den Väränj!« Simu stand auf und nickte ihnen einen Gruß zu. »Vielleicht kann ich euch dann helfen. Aber bis dahin … Derzeit dürfen nur Rotröcke die Kastellmauern passieren. Ich wünsche euch einen guten Abend und eine sichere Reise.«

Simu verließ das Gasthaus, und Leesil dachte über seine Worte nach, rieb sich dabei das Kinn.

»Was geht in deinem Kopf vor?«, fragte Magiere.

»Etwas, das ein wenig Zeit für die Vorbereitung braucht. Du und Wynn, ihr bleibt hier. Chap, komm mit.« Er leerte seinen Rucksack und schlang sich dann den Riemen über die Schulter. »Bitte legt meine Sachen in die Truhe.«

»Einen Moment«, sagte Magiere. »Was hast du vor?«

»Vertrau mir«, erwiderte Leesil und stand auf.

»O nein.« Magiere ergriff den unteren Teil des leeren Rucksacks und zerrte daran. »Wenn du das sagst, kommt es immer zu Scherereien.«

Leesil zog ebenfalls am Rucksack, aber Magiere hielt ihn fest.

»Diesmal nicht«, entgegnete er. »Lass los, Magiere!«

»Es gibt genug Leute – und Dinge –, die es des Nachts auf uns abgesehen haben. Du gehst nirgends hin, solange du mir nicht sagst, was du vorhast.«

»Wenn du nichts weißt, kann man dir auch nichts vorwerfen – für den Fall, dass was schiefgeht. Lässt du mich jetzt endlich gehen?«

Leesil zog erneut an seinem Rucksack, und Magiere ebenfalls. Dabei stießen sie gegen die Teller auf dem Tisch, die laut klapperten. Wynn beugte sich vor, legte die Arme auf den Rucksack und drückte ihn auf den Tisch.

»Wollt ihr unbedingt alle Blicke auf euch ziehen?«, flüsterte sie. »Leesil, sag uns, was …«

Jemand rülpste so laut, dass auch die restlichen Gespräche im Gasthaus verstummten und Leesil und Magiere nicht mehr am Rucksack zogen. Halb auf dem Tisch liegend sah Wynn nach links, und Leesil folgte ihrem Blick.

Mehrere ältere Männer mit Pfeifen im Mund saßen an einem Tisch. Der nächste von ihnen hielt noch die Hand erhoben, mit den Fingern nach unten, als hätten sie eben etwas gehalten. Die Männer achteten nicht auf das Ringen um den Rucksack, denn ihre Aufmerksamkeit galt dem Geschöpf, das neben dem Alten mit der erhobenen Hand saß.

Chap gähnte, leckte sich die Schnauze und rülpste erneut, sah dann zu Leesil, Magiere und Wynn.

Leesil hätte schwören können, dass Chap seine gespielte Unschuld nachahmte, wenn er bei etwas Ungebührlichem ertappt wurde.

Magiere schüttelte ungläubig den Kopf, und Wynn rümpfte voller Abscheu die Nase. Die Ablenkung genügte Leesil schnappte sich den Rucksack, bevor ihn jemand daran hindern konnte.

Er eilte hinaus, und Chap folgte ihm.

Magiere saß mit Wynn in einem Zimmer im Obergeschoss der »Eichel-Eiche« und dachte voller Ärger an Leesil. Diese Sache würde vermutlich einen der oberen Plätze auf der Liste der Dummheiten einnehmen, die er angestellt hatte. Inzwischen war es dunkel geworden, aber er hatte sich noch nicht wieder blicken lassen.

Wo sollten sie mit der Suche nach ihm beginnen?

Vermutlich im hiesigen Gefängnis. Falls er in einer Zelle saß, wäre dies wohl noch das kleinere Missgeschick, wenn man die derzeitigen Spannungen in der Stadt nach der Ermordung des Barons bedachte.

Die Einrichtung des Raumes bestand nur aus einem Bett. Ein Tisch fehlte. Wynn hatte eine kalte Lampe auf ihre Reisetruhe gestellt, und mattes weißes Licht ging von ihr aus.

»Es ist bestimmt alles in Ordnung mit ihm«, sagte sie. »Leesil und Chap können auf sich aufpassen.«

»Ja, aber was machen sie?«

Wynn schürzte die Lippen. »Ich habe da so eine Ahnung, bezweifle aber, ob du Leesils Ethik gutheißen würdest.«

An Ethik vergeudete Leesil kaum einen Gedanken. Er tat, was nötig war, um ein Problem möglichst schnell zu lösen.

»Und?«, fragte Magiere. »Was glaubst du, hat er vor?«

Die Tür öffnete sich. Leesil sprang ins Zimmer, wirbelte herum und schloss die Tür so schnell, dass er fast Chaps Schwanz eingeklemmt hätte. Er lehnte sich dagegen, schnaufte und umklammerte den Rucksack, der jetzt nicht mehr leer war. Von Kopf bis Fuß klebte Dreck an ihm – er sah aus, als hätte er sich im Straßengraben gewälzt. Chap setzte sich, hechelte mit hängender Zunge und sah ähnlich aus. Sein Fell war nass, Beine, Bauch und Schwanz verdreckt.

Magieres Erleichterung verschwand sofort wieder.

»Wo seid ihr gewesen?«, entfuhr es ihr.

Leesil atmete noch immer schwer und schloss resigniert die Augen.

»Und du!«, rief Wynn. »Hast du beschlossen, uns auf diese Weise zu helfen?«

Magieres Zorn verflüchtigte sich teilweise, als sie sich fragte, was die junge Weise damit meinte. Dann bemerkte sie, dass Wynn nicht Leesil ansah, sondern Chap.

»Das hast du absichtlich gemacht«, fuhr sie fort. »Die kleine Szene unten im Schankraum … Du wolltest es Leesil ermöglichen, das Gasthaus zu verlassen, nicht wahr?«

Chap sah zu Leesil hoch, knurrte leise und drehte den Kopf zur Seite.

»Doppeltes Spiel genügt dir nicht«, sagte Wynn. »Musst du auch noch so … abscheulich sein?«

»Du hast doch gesagt, dass wir alle Blicke auf uns zogen«, stieß Leesil zwischen zwei Atemzügen hervor. »Ich hab’s für besser gehalten, dass die Leute auf ihn aufmerksam wurden statt auf uns.«

»Versuch nicht, es auf ihn zu schieben«, sagte Magiere. »Du bist hier der leichtsinnige Idiot. Was hast du getan?«

Chap stand auf und wollte sich schütteln. Wynn wandte sich an den Hund, bevor Magiere eingreifen konnte.

»Wag das bloß nicht hier drin!«, sagte sie scharf, und Chap erstarrte. »Wenn du gern mit Leesil losziehst und dich schmutzig machst, ist das deine Sache, aber teil deinen Dreck nicht mit uns.«

Chap grollte leise und setzte sich wieder.

»Magiere … nimm dein Falchion«, sagte Leesil. »Und zieht beide die Mäntel an.«

Er stieß sich von der Tür ab, eilte zur Reisetruhe und stellte sowohl die kalte Lampe als auch seinen Rucksack beiseite. Dann öffnete er die Truhe, kramte in ihren Tiefen und holte einen langen, schmalen Kasten hervor, den Magiere seit Bela nicht mehr gesehen hatte.

Seine Assassinen-Werkzeuge. Sie fühlte eine plötzliche Leere in der Magengrube.

»Wozu brauchst du das?«

»Wenn es hier Aufzeichnungen gibt, so liegen sie nicht einfach herum. Vielleicht müssen wir einige Hindernisse überwinden, bevor wir ins Kastell gelangen.«

»Ins Kastell?« Wynn setzte sich, und Sorge erschien in ihrem runden Gesicht. »Wie sollen wir durchs Tor kommen?«

Leesil lächelte. »Ich gehe einfach hindurch.«

Es lief Magiere kalt über den Rücken.

Sie schnappte sich Leesils Rucksack, öffnete ihn und fand darin rote Kleidung. Sie breitete sie auf dem Bett aus und stellte fest, dass es sich um einen Waffenrock der Väränj handelte, daran das Abzeichen mit dem sich aufbäumenden Hengst. Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache, und sie atmete tief durch.

»Bist du verrückt geworden, Leesil? Du gehst nie als ein Wächter des Kastells durch. Dein Haar …«

»Es lässt sich gut unter diesem Helm verstecken«, sagte Wynn und zog ihn aus dem Rucksack. Sie betrachtete ihn und wandte sich dann mit plötzlicher Sorge an Leesil. »Hast du jemanden verletzt, um dies zu bekommen?«

»Nichts Dauerhaftes«, antwortete er. »Ein kurzer Druck am Hals. Ich habe den Burschen in einer dunklen Ecke liegen lassen. Morgen früh hat er Kopfschmerzen, mehr nicht.«

»Und wie gelangen wir mit diesen Sachen ins Kastell?«, fragte Wynn.

»Gar nicht«, erwiderte Leesil. »Wenn ich drin bin, lasse ich euch durch ein Schlupfloch rein.«

»Ich wage kaum zu fragen, aber …« Magiere sank neben Wynn aufs Bett. »Welches Schlupfloch?«

»Ein geheimer Ausgang des Kastells am Fluss«, sagte Leesil. »Die meisten Befestigungsanlagen haben mindestens einen solchen Ausgang, für den Fall einer Belagerung, und man kann sie nur von innen öffnen. Heute Abend gehe ich zusammen mit anderen Soldaten oder vielleicht auch allein ins Kastell, schleiche mich fort und lasse euch rein.«

»Und wenn du gefasst wirst?«, fragte Magiere. »Dann endest du nicht in einem belaskischen oder strawinischen Gefängnis. Vielleicht macht man kurzen Prozess mit dir.«

»Niemand wird mich fassen«, erwiderte Leesil ein wenig vorwurfsvoll. »Zieh dir jetzt den Mantel über.«

Noch immer verärgert hockte sich Magiere neben ihn.

»Nimm doch Vernunft an, Leesil! Wenn es um eine dringende Sache ginge – zum Beispiel darum, einen von uns zu befreien –, wäre ich einverstanden. Aber du sollst nicht dein Leben aufs Spiel setzen, nur weil wir dadurch vielleicht etwas über meinen Vater erfahren. Es gibt noch andere Möglichkeiten. Ich bin hierhergekommen, um Antworten zu finden, nicht um dich zu beerdigen.«

Leesil runzelte die Stirn. Sorge und Ärger ließen Magiere fast müde klingen – sie wollte auf keinen Fall riskieren, ihn zu verlieren.

»Wenn du Antworten auf deine Fragen willst, so ist dies die einzige Möglichkeit«, sagte er leise. »Und schlag nicht vor, dass wir auch dir einen Waffenrock beschaffen. Ich habe keine Frauen unter den Wächtern gesehen.«

»Leesil, es ist die Sache nicht wert, dass du …«

»Wenn wir nach Norden ziehen und meine Mutter suchen, möchte ich nicht, dass du leidest und dich fragst, was wir hier hätten finden können. Wir müssen jetzt los und dies hinter uns bringen, bevor man den bewusstlosen Väränj findet – dann wäre meine ganze Mühe umsonst gewesen.«

Magiere blickte ihm in die bernsteinfarbenen Augen und verstand, was ihn antrieb.

Ihr fehlten seine Schläue und Listigkeit, und sie verabscheute den Leichtsinn, mit dem er zu erreichen versuchte, was sie wollte. Aber wenn ihre Rollen vertauscht gewesen wären, hätte sie ebenso, ohne zu zögern, alles aus dem Weg geräumt, das ihn daran hinderte, seine Mutter zu finden.

Welstiel saß auf einem gepolsterten Stuhl an einem warmen Kamin. Er fühlte keine Kälte, und deshalb brachte die Wärme weder Wohlbehagen noch Erleichterung, aber er wusste eine die Sinne stimulierende Umgebung zu schätzen, denn sie erinnerte ihn an seine lange zurückliegende Existenz als Lebender.

Chane entspannte sich an einem kleinen Mahagonitisch und schrieb mit einem Federkiel auf Papier. Sie hatten sich in einem guten Gasthaus einquartiert, jeder in einem eigenen Zimmer, doch sie saßen in Welstiels Raum beisammen.

Sechsundzwanzig Jahre lang war Welstiel allein unterwegs gewesen und anderen seiner Art ausgewichen. Chane hatte mehr mit ihm gemeinsam als jeder andere Edle Tote, dem er bisher begegnet war. Ein Gelehrter, der das Arkane sowohl verstand als auch praktizierte, selbst ein Adliger zu seinen Lebzeiten … Und er sprach nur, wenn es die Mühe wert war. Trotz des schlichteren Wesens seines Reisegefährten entwickelte Welstiel nach und nach so etwas wie kameradschaftliche Gefühle ihm gegenüber.

Er spürte, wie sich Mattigkeit in ihm breitmachte. Sie war ein deutlicher Hinweis: Er musste dringend aufbrechen und Nahrung zu sich nehmen.

»Was schreibst du?«, fragte er.

Chane sah auf. »Notizen über Dröwinka und die gegenwärtige politische Situation in diesem Land. Sobald ich wieder Kontakte zur Gilde geknüpft habe, fahre ich vielleicht damit fort, Informationen über diese Region zu sammeln.«

Chanes gegenwärtiges Verhalten machte es leicht zu vergessen, wie wild und brutal er sein konnte. Welstiel fühlte einen sonderbaren Frieden, obwohl ihm etwas Scheußliches bevorstand.

»Ich muss das Gasthaus verlassen«, sagte er. »Bitte bleib hier und schreib weiter. Die Lage in der Stadt ist unsicher, und wir sollten Aktivitäten vermeiden, die Magieres Aufmerksamkeit wecken könnten.«

»Sie ist hier in Kéonsk? Bist du sicher?«

»Ja, aber der Besuch wird ihr nichts nützen«, antwortete Welstiel.

»Du wusstest, dass dies geschehen würde, als du Buscan getötet hast«, sagte Chane. »Du wusstest, dass die Väränj das Kastell sperren und der Dhampir keinen Zugang gestatten würden.«

»Ich habe es angenommen.«

Chane rutschte auf dem Stuhl zur Seite und legte einen Arm auf die Rückenlehne. »Aber du warst nicht sicher? Mein Schöpfer Toret konnte das Blut eines Opfers trinken, es am Leben lassen und seine Erinnerungen trüben. Bist du ebenfalls dazu imstande?«

»Ich habe ähnliche Fähigkeiten; einmal habe ich sie bei deiner kleinen jungen Weisen angewandt«, erwiderte Welstiel und bemerkte, wie ein Schatten auf Chanes Gesicht fiel. »Aber bei mir funktioniert es nur dann gut, wenn das betreffende Individuum entspannt ist und mir ein gewisses Vertrauen entgegenbringt. Solche Macht wächst mit der Übung, und ich mache nur selten Gebrauch davon.«

Welstiel stand auf und griff nach seinem Mantel. »Bleib hier und schreib. Ich bin bald zurück.«

»Brauchst du Nahrung?«, fragte Chane.

Welstiel nahm seine kleinere Tasche und verließ wortlos das Zimmer.

Der Schankraum im Erdgeschoss war fast leer, was vermutlich daran lag, dass sich dieses Gasthaus in einem reichen Viertel befand. Spät am Abend zogen sich die meisten Gäste in ihre Zimmer zurück oder gingen aus, um woanders Unterhaltung zu suchen. Stille herrschte auf den Straßen, und es waren fast nur kleine Gruppen von Wächtern in roten Waffenröcken unterwegs. Nur einmal bemerkte Welstiel zwei andere, gelb gekleidete Soldaten im Eingang einer Gaststätte.

Er setzte den Weg fort, bis er weit und breit niemanden mehr sah, huschte dann durch die Gassen in Richtung Armenviertel der Stadt.

Das Töten machte ihm nichts aus. In Bela hatte er mehrere brutale Morde begangen, um Magiere anzulocken, und als Lebender hatte es zu seinen Pflichten gehört, Hinrichtungen zu befehlen und Bauernaufstände niederzuschlagen. Das Notwendige war eben manchmal abscheulich.

Für einen Sterblichen bedeutete Essen die Aufnahme von Leben, auf die eine oder andere Weise. Der Körper bekam Substanzen, die er verwerten und aus denen er Kraft gewinnen konnte. Käse, Brot und gebratenes Lammfleisch auf einem eleganten Teller zu genießen … Es hatte Welstiel nie veranlasst, innezuhalten und über Art und Umstände seiner Ernährung nachzudenken.

Für seine neue Existenz brauchte er andere, weniger schmackhafte Nahrung.

Ein betrunkener Kahnfahrer wankte durch die Tür einer Taverne. Welstiel blieb im Schatten eines schmales Durchgangs zwischen der Taverne und dem nächsten Gebäude stehen. Als der Mann vorbeikam, packte er ihn am Kragen und zog ihn in die Gasse.

Mit der Faust versetzte er ihm einen Schlag an den Hinterkopf, und sein Opfer sank bewusstlos zu Boden. Welstiel hasste es, jemanden von so niederer Geburt anzufassen, geschweige denn, ihn zu benötigen, aber es kam nicht in Frage, eine Person aus dem besseren Teil der Gesellschaft als Nahrung zu benutzen – es sei denn, ihm blieb keine Wahl. Er kniete sich hin, entnahm seiner Tasche ein verziertes Kästchen aus Nussbaumholz und öffnete es.

Darin ruhten auf einem Tuchpolster drei handlange Eisenstäbe, ein teetassengroßer Napf aus Messing und eine stabile weiße Keramikflasche mit einem Stöpsel aus Obsidian.

Welstiel holte die Stäbe hervor, jeder von ihnen mit einer Schlaufe in der Mitte, und verband sie zu einem Dreibein. Die Innenseite des Messingnapfes wies ein bis zum Rand reichendes Muster aus konzentrischen Kreisen auf, und zwischen diesen Linien befanden sich die Symbole seiner Beschwörungen. Er hatte ein halbes Jahr für ihre Anfertigung gebraucht, auf der Grundlage seiner Erinnerungen an die Beschriftung von Ubâds Bottich – die Arbeit daran hatte sich über Jahre hingezogen. Damals hatte er nicht alles verstanden, was er gesehen hatte, nicht alles, aber genug. Dem Napf fehlte die Macht des Bottichs, doch für Welstiel erfüllte er seinen Zweck. Vorsichtig stellte er ihn auf das Dreibein.

Die weiße Flasche enthielt dreimal gereinigtes Wasser, das er in einem speziellen Kupfergefäß kochte, wenn er Zeit fand, seinen Vorrat zu erneuern. Er zog den Stöpsel und goss gerade genug Wasser in den Napf, um ihn bis zur Hälfte zu füllen.

Welstiel rollte den Kahnfahrer auf den Rücken. Wenn Blut floss, ging so viel Lebenskraft verloren, dass der Untote, der es trank, nur wenig davon aufnahm. Seine Methode war weitaus effizienter und weniger entwürdigend. Er holte den Dolch hervor, machte einen oberflächlichen Schnitt ins Handgelenk des Bewusstlosen und nahm ein wenig Blut mit der Spitze. Dann neigte er die Klinge und ließ einen roten Tropfen ins Wasser des Napfes fallen.

Als sich das Blut dort verteilte, begann er mit einem leisen Sprechgesang.

Die Luft um ihn herum schimmerte wie in Wüstenhitze, doch Welstiel fühlte, wie sie immer feuchter wurde, noch feuchter, als man dies durch das Klima von Dröwinka erklären konnte. Die Haut des Kahnfahrers begann von außen her zu schrumpeln und zu trocknen. Als das Herz aufhörte zu schlagen, ging auch Welstiels Sprechgesang zu Ende. Von dem Mann auf dem Boden war nur noch eine mumienhafte Hülle übrig. Selbst die Augenhöhlen waren ausgetrocknet.

Die Flüssigkeit im Napf reichte jetzt bis zum Rand, und dem begrenzten Sehvermögen von Sterblichen wäre sie pechschwarz erschienen. Welstiel nahm das Messinggefäß behutsam vom Dreibein, setzte es an die Lippen und trank.

Es war nicht angenehm, so viel Lebensenergie in so reiner Form aufzunehmen. Die Flüssigkeit schmeckte nach zerriebenem Metall und Salz, und sie schien sich in seinem Körper auszubreiten.

Mit zitternder Hand setzte Welstiel den Napf aufs Dreibein zurück und stützte sich dann ab, indem er beide Hände flach auf den Boden legte. Als junger Mann hatte er mit dem Hauptmann der Wache seines Vaters eine Taverne besucht und dort seinen ersten großen Krug Bier getrunken. Es hatte sich gut angefühlt, bis er zu schnell aufgestanden war. Was er jetzt gerade getrunken hatte, war viel stärker, und er musste erst noch aufstehen.

Er wartete, bis das Schlimmste vorüber war.

Als er nach dem Napf griff, um ihn ins Kästchen zurückzulegen, war er sauber und trocken, ohne den geringsten Hinweis darauf, wozu Welstiel ihn verwendet hatte. Er verstaute auch die drei Eisenstäbe und die weiße Flasche.

Tot wog der Mann viel weniger als im Leben. Welstiel rollte ihn in seinen Mantel. Das Flussufer war nicht weit entfernt, und dort hielt er lange genug inne, um die Leiche mit Steinen zu beschweren. Als er sicher sein konnte, dass sich niemand in der Nähe befand, trug er den Toten über den Steg und ließ ihn im Wudrask verschwinden.

Anschließend kehrte er zum Ufer zurück und stand dort allein, heimgesucht von einem vertrauten Ekel vor sich selbst. Er hatte das ganze Leben des Sterblichen aufgenommen, bis zum letzten Quäntchen, und so viel Nahrung reichte für einen halben Mond, vielleicht sogar noch länger. Es würde eine Weile dauern, bis er die Prozedur wiederholen musste, und das war ein gewisser Trost.

Welstiel schloss die Augen und dankte widerstrebend seiner Traumherrin für Anleitung und Hilfe. Bald würde Magiere das Ende ihrer erfolglosen Suche erreichen, den Weg fortsetzen und ihn zu einem Artefakt führen, neben dem seine eigenen Schöpfungen wie Spielzeug erschienen.

Und dann brauchte er kein Blut mehr.

Er zog seinen Mantel nicht über, als er zum Gasthaus zurückkehrte. Erst wollte er ihn waschen lassen. Als er sein Zimmer betrat, saß Chane noch immer an dem kleinen Tisch, den Federkiel in der Hand und das rotbraune Haar hinters Ohr gestrichen.

Auf der anderen Seite des Raumes stand ein großer ovaler Spiegel, und Welstiel betrachtete sich darin. Seine Augen waren klar und wach. Nichts in seinem Erscheinungsbild wies auf Müdigkeit hin.

»Du siehst viel besser aus«, sagte Chane. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«

Welstiel hätte fast eine Grimasse geschnitten. Chane glaubte vermutlich, dass er sich draußen irgendeinen Bauern geschnappt, ihm in den Hals gebissen und sein Blut getrunken hatte. Sollte er glauben, was er wollte.

Er nahm wieder auf dem Stuhl am Feuer Platz. »Was hast du bisher aufgeschrieben? Ich habe viele Jahre in diesem Land verbracht. Vielleicht kann ich dir weitere Einzelheiten nennen.«

Chane wölbte eine Braue. »Tatsächlich? Kannst du mir erklären, wie die adligen Häuser gemeinsam einen neuen Großfürsten wählen?«

Eine fast beunruhigende Welle von Zufriedenheit durchlief Welstiel, ausgelöst von der Freude und dem Interesse in Chanes Gesicht. Er drehte den Stuhl vom Kamin zu seinem Begleiter, und sie verbrachten den Rest der Nacht damit, über die politische Geschichte von Dröwinka zu sprechen.

Leesil kauerte unweit des Kastells hinter einem Stall und spürte, wie sein Unbehagen wuchs. Doch dies war seine Idee gewesen. Er hatte das Haar unter den Helm gesteckt, sich Schmutz ins Gesicht gerieben und trug den erbeuteten roten Waffenrock.

»Du siehst gut aus«, sagte Wynn. »Die Augen sind halb unterm Helm verborgen, und die meisten Väränj-Soldaten dürften vom langen Dienst recht müde sein. Ich bezweifle, dass sie sich alle gegenseitig kennen.«

Leesil fand Wynns Zuversicht fast ebenso beklemmend wie Magieres Widerstreben. Chap saß neben der jungen Weisen, die ihre Ausrüstung trug – sie würden die Sachen brauchen, wenn sie sich im Innern des Kastells befanden. Dazu gehörten auch seine Werkzeuge und ein dünnes Seil. Mit den speziellen Klingen hätte er Aufsehen erregt, und deshalb hatte er sie im Gasthaus gelassen. Seine Bewaffnung bestand aus den beiden Stiletten in den Ärmeln und einem Dolch in jedem Stiefel.

Magiere musterte ihn und nahm ihr Falchion ab. »Nimm das hier. Alle Wächter tragen Waffen.«

»Ich ebenfalls.«

»Sichtbare Waffen«, fügte Magiere hinzu.

»Oh.« Leesil befestigte das Schwert an seinem Gürtel. »Ich zeige euch den geheimen Ausgang, aber ihr könnt dort nicht herumsitzen und auf mich warten. Man würde euch sehen.«

Er schlich an der Seitenmauer des Kastells entlang über die Straße und führte seine Begleiter dorthin, wo die Mauer auf einen Eckturm am Fluss traf.

»Dies soll ein geheimer Fluchtweg für Adelige sein?«, fragte Magiere.

»Ja, und es ist eine gute Wahl«, erwiderte Leesil. Er drückte die flache Hand an die Stelle, von der er wusste, dass sie sich von innen öffnen ließ. »Der Fluss ist nah, und er stellt die beste Fluchtmöglichkeit dar. Wenn dieser Weg versperrt ist, kann man sich durch die Gebäude in der Nähe in die Stadt absetzen. Siehst du, wo sich meine Hand befindet?«

»Ja«, sagte Magiere. »Aber ich sehe keine Luke.«

Leesil klopfte auf die Steine. »Du wirst bald eine sehen, wenn du diese Stelle im Auge behältst. Kehrt zurück und versteckt euch bei den Läden am Fluss. Es wird nicht lange dauern.«

Chap lief los, dichtauf gefolgt von Wynn. Magieres Hand schloss sich um Leesils Arm, und sie richtete einen sehr ernsten Blick auf ihn. Ihre Finger blieben fest um seinen Arm geschlossen.

Leesil berührte ihre Hand. »Du wirst staunen, wie bald ich dort aus dem Schlupfloch gucke.«

Magiere ließ ihn los und huschte ebenfalls davon.

Leesil wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Er lief am Kastell vorbei und erreichte auf der anderen Seite die Stadt. Dort folgte er dem Verlauf einer breiten Straße, wandte sich dann wieder dem Kastell zu und erweckte den Anschein, aus der Stadtmitte zu kommen. Vier Väränj-Soldaten am Tor waren in ein Gespräch vertieft, als Leesil sich näherte. Die beiden über dem Wachhaus auf der Wehrmauer patrouillierenden Wächter blieben nicht einmal stehen.

»Hallo«, sagte er. »Lange Nacht?«

Ein Soldat rauchte eine tönerne Pfeife mit kurzem Stiel. »Wir sind seit Einbruch der Dunkelheit hier. Hast du was davon gehört, wann wir abgelöst werden sollen?«

»Nein, ich bin mit einer Mitteilung für Marjus unterwegs. Mein Feldwebel konnte ihn nicht finden und hat mich zur Kaserne geschickt.«

Einer der anderen Soldaten runzelte die Stirn. »Marjus? Der großkotzige Bursche, der wie ein Lord redet?« Er räusperte sich und musterte Leesil. »Entschuldige, wenn du ihn zu deinen Freunden zählst, aber bei uns ist er nicht sonderlich beliebt.«»

»Ja, stimmt«, sagte der erste Soldat und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Hab ihn heute Abend nicht gesehen, aber das will nichts heißen.« Er neigte den Kopf zur Seite und sah zum Wehrgang hoch. »Tor hoch! Kurier kommt durch!«

Im Wachhaus knarrte es. Als das große Tor nach oben gezogen wurde, schwärmten die anderen Soldaten aus und hielten ihre Speere bereit. Bei Leesils Ankunft hatten sie entspannt gewirkt, aber es gab keinen Zweifel daran, dass es sich um Veteranen handelte.

Auf der anderen Seite des Tores erwartete ihn eine weitere Gruppe von Soldaten.

»Ich habe eine Nachricht für Hauptmann Marjus«, sagte Leesil.

»Versuch’s im Offiziersquartier der Kaserne, auf der östlichen Seite.«

»Danke.«

Nach diesem Wortwechsel war Leesil nur ein weiterer Väränj auf dem Hof. Mit ruhigen Schritten ging er zur östlichen Ecke des Kastells, und als er dort außer Sicht geriet, lief er hinter die Kaserne.

Derzeit patrouillierten keine Wächter auf dem Hinterhof. Seine einzige Sorge galt den Soldaten auf dem Wehrgang, aber die Schatten bei der Mauer erleichterten es ihm, am Rand des Hofes entlangzuschleichen. Er blieb stehen, als er die richtige Stelle erreicht hatte.

Mit den Fingerspitzen tastete er über Stein und Mörtel, ohne Hinweise darauf zu finden, dass sich hier etwas öffnen ließ.

Einen Moment befürchtete er, in Hinsicht auf das Schlupfloch die Orientierung verloren zu haben. Er hatte es an der Außenseite ertastet, doch hier im Innern des Kastells war es nicht leicht, die Stelle wiederzufinden. Leesil zwang sich zur Ruhe. Er wusste, dass es in der Nähe sein musste.

Ein Tunnel unter der Feste stellte oft den besten Fluchtweg dar, aber so etwas kam hier nicht in Frage. Das Kastell lag zu nah beim Fluss, und bei Tunneln hätte es im Lauf der Jahre Probleme mit Sickerwasser gegeben. Dafür ließen sich durchaus Lösungen finden, doch diese Anlage war nicht sonderlich komplex. Die einfachste Möglichkeit bestand aus einer verborgenen Tür in der Mauer.

Im Schatten zu stehen, mit dem Rücken an kalten Stein gepresst … Es gab bessere Momente, um über solche Dinge nachzudenken.

Und er hörte Schritte, die auf dem Wehrgang in seine Richtung kamen.

Leesil blickte nach beiden Seiten, an der Mauer entlang nach links und nach rechts zum Turm, der eine Tür im Erdgeschoss aufwies. Er schob sich an der Wand entlang, horchte an der Tür und öffnete sie langsam.

Drinnen führte eine Leiter zu einer Plattform aus Holz weiter oben. Zu beiden Seiten konnte man durch bogenförmige Öffnungen auf die Wehrmauern gelangen. Er hörte, wie oben die Soldaten patrouillierten, aber was er suchte, befand sich nicht dort. Leesil tastete sich an der Innenseite des Turmes entlang, unweit der Wand, von der er wusste, dass sie das Schlupfloch enthielt. Dicht über dem Boden fand er eine Mulde im Stein und darin einen hölzernen Hebel. Er schob die Stiefelspitze in die Mulde und trat auf den Hebel.

Ein Teil der Wand in der Nähe seines Fußes bewegte sich, und Leesil sank auf alle viere, drückte die betreffende Stelle nach innen.

Der Durchlass war gerade groß genug, damit er auf Händen und Füßen hindurchkriechen konnte. Auf der anderen Seite richtete er sich langsam auf und stand in einem Hohlraum im Innern der Mauer. Er holte einen Kristall hervor, den Wynn ihm gegeben hatte, und rieb ihn mit dem Daumen. Ein mattes Glühen ging davon aus, genug Licht für seine Elfenaugen, um die Umgebung zu erkennen.

Hier war es nicht nötig gewesen, den Mechanismus für die Öffnung des Schlupflochs zu verbergen. Gegengewichte hingen an Ketten, die über Stahlräder an der Decke des schmalen Raumes liefen. Kurze Schienen waren im Boden verlegt. Leesil brauchte nur den Hebel zu betätigen und an den Gegengewichten zu ziehen, und das machte er. Ein kleiner Teil der Außenwand rollte auf den Schienen nach innen, und das Schlupfloch war offen.

Leesil schloss die Hand um den Kristall und spähte mit einem Auge um den Rand der Öffnung, schaute erst in die eine Richtung und dann in die andere. Auf der Straße war niemand zu sehen. Er beugte sich hinaus, öffnete die Hand ein wenig, die den Kristall hielt, damit sein Licht zwischen den Fingern hervorkam, und winkte damit.

Zuerst kam niemand, und er befürchtete schon, dass den anderen etwas zugestoßen war. Dann sah er, wie Magiere auf der anderen Seite aus den Schatten kroch und einen Blick zur Stadt warf. Wynn und Chap folgten ihr.

Leesil hob den Zeigefinger vor die Lippen und half ihnen durch die Öffnung. Anschließend drückte er die Schulter gegen den mobilen Teil der Wand und bedeutete Magiere, seinem Beispiel zu folgen. Sie schoben das Segment an seinen Platz zurück und blockierten es mit Hilfe des Riegels.

»Und jetzt?«, flüsterte Magiere.

»Wir verlassen diesen Hohlraum in der Wand und suchen nach einem Hintereingang zum Kastell.«

»Und wenn es keinen gibt?«

»Dann müssen wir irgendeine Verkleidung für dich und Wynn finden … und das Beste hoffen.«

Magiere starrte ihn an, als wären ihm Hörner gewachsen. »Du bist verrückt.«

Sie hatte recht, aber in der Vergangenheit hatte er nur an sich selbst denken müssen, wenn es darum ging, ins Innere einer Feste zu gelangen.

»Folgt mir«, sagte er.

Leesil schob sich als Erster durch die kleine Öffnung in der Turmwand. Als er sicher sein konnte, dass die Soldaten auf den Wehrgängen weit genug entfernt waren, gab er den anderen das Zeichen, ihm zu folgen.

An der Rückseite des Kastells fand er keinen Eingang. Die einzigen anderen Möglichkeiten waren die dem Schlupfloch gegenüberliegende Seite oder die bei der Kaserne. Leesil blieb an der Wand mit der kleinen Pforte, als sie durch die Schatten eilten. Dann huschte er über den Hof, und die anderen taten es ihm gleich.

Leesils Besorgnis wuchs – ein Soldat an der Rückseite des Kastells hätte sie hier leicht entdecken können. Er blickte um die Ecke, sah aber keinen Eingang.

»Nun?«, flüsterte Magiere von hinten.

Er schüttelte den Kopf und führte seine Begleiter weiter. Hinter der Ecke des Kasernengebäudes entdeckte er schließlich, was er suchte.

»Eine gute und eine schlechte Nachricht«, flüsterte er. »Dort ist ein Eingang, aber es stehen zwei Soldaten davor.«

»Können wir sie überraschen?«

Leesil verzog das Gesicht. Die Vorstellung gefiel ihm nicht sonderlich, aber ihm fiel keine Alternative ein. Wenn niemand sonst am Ort des Geschehens erschien, könnte es vielleicht gelingen.

»Wynn und Chap, ihr wartet hier«, sagte er, zog einen Dolch aus seinem Stiefel und gab ihn Magiere, mit der Klinge voran. »Stoß den Griff dem anderen Wächter zwischen Bauch und Rippen, wenn ich aktiv werde. Das nimmt ihm den Atem, und er kann nicht um Hilfe rufen, wenn du ihn niederschlägst.«

Leesil schlenderte los, als hätte er alle Zeit der Welt, und Magiere folgte ihm.

Er lächelte schief, als sie sich den Soldaten näherten, doch beim Anblick von Magiere wurden beide Männer wachsam. Sie war nicht bewaffnet – Leesil trug noch immer ihr Falchion –, aber Zivilisten hatten keinen Zugang zum Kastellgelände. Wer keinen Waffenrock der Väränj trug, erregte sofort Aufsehen.

»Hauptmann Marjus hat für die Rückkehr des Prinzen Vorräte bestellt«, sagte Leesil und gab seiner Stimme einen gelangweilten Klang. »Sie soll sich den Kühlraum und die Speisekammer ansehen. Ich hab den Befehl hier.«

Er zeigte mit dem Daumen auf Magiere und trat auf die andere Seite der beiden Väränj. Magiere näherte sich dem ersten Soldaten. Leesils Zielperson richtete den Blick auf sie.

Leesil packte den Mann an Arm und Hals, drehte ihn gleichzeitig und drückte ihm die Luft ab.

Zur gleichen Zeit rammte Magiere dem zweiten Mann das Heft des Dolchs zwischen Bauch und Rippen. Er krümmte sich zusammen, und sie griff nach der Rückseite des Helms, zog ihn nach vorn und unten. Sie hob den Dolch und schlug noch einmal mit dem Griff zu, an den Hinterkopf. Der Wächter ging zu Boden, blieb mit dem Gesicht im Dreck liegen und rührte sich nicht mehr.

Leesils Soldat zappelte ein oder zwei Sekunden und erschlaffte dann. Er ließ ihn neben dem ersten Mann zu Boden sinken.

»Hinter die Kaserne mit ihnen«, flüsterte Magiere, und Leesil nickte. Sie zogen die Bewusstlosen fort, während sich Wynn und Chap in die Schatten duckten.

»Hol das Seil heraus, Wynn«, sagte Leesil.

»Warum?«, fragte sie, kam aber der Aufforderung bereits nach.

Er schnitt zwei längere Stücke vom Seil ab und fesselte die Soldaten gemeinsam mit Magiere an Händen und Füßen.

»Wo ist dein lächerlicher Schal geblieben?«, fragte Magiere.

Er wollte antworten, dass er ihn zurückgelassen hatte, aber Wynn holte ihn aus dem Rucksack.

»Ich dachte, du brauchst ihn vielleicht«, erklärte sie. »Für den Fall, dass du deine Tarnung aufgeben musst.«

Magiere nahm den Schal entgegen und schnitt ihn mit dem Dolch in der Mitte durch.

»Was machst du da?«, fragte Leesil.

»Kneble den Väränj«, sagte sie und reichte ihm die eine Hälfte des Schals. »Besser er verschluckt das Ding, als dass du es noch einmal trägst.«

Es blieb Leesil nicht genug Zeit für eine Antwort. Sie versteckten die beiden Bewusstlosen bei den Fässern und Kisten hinter der Kaserne. Als er zur Tür zurückkehren wollte, hielt er kurz inne, durchsuchte die Waffenröcke der Soldaten und fand einen Schlüssel.

»Auf diese Weise geht es schneller, als wenn ich das Schloss knacken müsste«, sagte er und eilte zur Tür.

Leesil öffnete sie, schlüpfte auf leisen Sohlen hinein und vergewisserte sich, dass keine Bediensteten in der Nähe waren. Ein leeres Zimmer erstreckte sich vor ihm, mit einer Tür auf der rechten Seite. Er überprüfte sie, stellte fest, dass sie nicht verschlossen war, öffnete sie einen Spaltbreit und blickte in eine große Küche. Rasch kehrte er zu seinen Begleitern zurück und winkte sie in den Eingangsraum.

Mit dem Zeigefinger an den Lippen bedeutete Leesil den anderen, still zu sein. Er rieb den Kristall und hielt ihn in der geschlossenen Hand, um den größten Teil des Lichts abzuschirmen, und mit knappen Gesten wies er Wynn an, mit ihrem Kristall ebenso zu verfahren. Dann betrat er die Küche und kontrollierte dort die beiden anderen Zugänge, um ganz sicher zu sein, dass niemand zugegen war.

»Es gibt hier keine Lebensmittel«, flüsterte Wynn.

Die Küche war groß und ähnlich beschaffen wie jene, die Leesil von Befestigungsanlagen und Gutshäusern seiner Heimat kannte. Töpfe und Pfannen aus Eisen hingen über einem großen, breiten Herd. Der Küchenwagen erweckte den Eindruck, schon seit einer ganzen Weile nicht mehr benutzt worden zu sein.

»Hier drüben«, sagte Magiere.

Leesil und Wynn gingen zu ihr und fanden eine kleine, offene Speisekammer, die nur wenig enthielt, hauptsächlich getrocknete Nahrungsmittel sowie Zwiebeln und Kohlrabi.

»Hier scheinen schon seit einer ganzen Weile keine Bediensteten mehr gewesen zu sein«, sagte Magiere.

So verwunderlich das auch sein mochte: Leesil hielt es für besser, dass sie mit der Suche begannen. »Wynn, du weißt angeblich, wonach es Ausschau zu halten gilt.«

»Ja«, erwiderte die junge Weise. »Wenn dieser Ort denen ähnelt, die ich mit Domin Tilswith besucht habe. Normalerweise lagern Aufzeichnungen in einem großen Büro in einer der oberen Etagen oder im Keller. An einem Ort, der sich nicht sofort erreichen lässt und zu dem nicht jeder Zugang hat.«

Magiere nickte. »Na schön. Gehen wir nach oben.«

Sie näherten sich jetzt vielleicht den Antworten, die Magiere suchte, und Leesil beobachtete, wie ihre Anspannung wuchs. Wieder ging er voraus, überprüfte jedes Zimmer, bevor er die anderen weiterwinkte. Als sie den großen Saal erreichten, war er nicht überrascht, ihn leer vorzufinden. Dennoch atmete er erleichtert auf.

»Ist es möglich, dass nur Buscan hier wohnte?«, fragte Magiere. »Zumindest bei den Haupteingängen sollten Wächter postiert sein.«

Wynn sah in einen Seitengang. Chap schnüffelte an der nach oben führenden Treppe.

»Vielleicht haben die Soldaten das Kastell nach der Ermordung des Barons verlassen«, spekulierte Wynn. »Vielleicht gibt es hier niemanden mehr, der beschützt werden muss.«

Mit Chap an seiner Seite ging Leesil die Treppe hoch. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der obere Flur leer war, begannen sie mit der Suche in den einzelnen Räumen. In den meisten Fällen handelte es sich um Schlafzimmer, die entweder sehr sauber oder schon seit einer ganzen Weile nicht mehr benutzt worden waren. Kleiderschränke und Truhen waren leer, und in fast allen Zimmern fehlten Nachttöpfe, Kannen mit Wasser und Waschschalen. Ein Raum schien ein Salon zu sein, aber dort fanden sie nur die übliche Einrichtung und einige Bücher. Als sie das Ende des Flurs erreichten, öffnete Leesil eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite einer schmalen, nach unten führenden Treppe.

Ein dicker Teppich lag auf dem Boden des Raumes dahinter, und die Wände waren holzvertäfelt, boten einen überraschenden Anblick nach all den steinernen Mauern im Kastell. Dieser Ort fühlte sich warm an, obwohl im Kamin kein Feuer brannte. Rechts vom Kamin stand ein kleiner Tisch, und das Gemälde an der rechten Wand zeigte Kavallerie im Wald. Doch das interessanteste Merkmal des Salons war eine Stelle unter dem Gemälde: Jemand hatte dort die Holzpaneele gelöst und einen Geheimgang freigelegt.

»Wynn …«, sagte er.

Die anderen kamen zu ihm. Wynn eilte zum kleinen Schreibtisch, wollte eine Schublade aufziehen und erstarrte plötzlich.

»Was ist?«, fragte Leesil.

Sie deutete auf einen großen dunklen Fleck an der Rückenlehne eines Stuhls und wich zurück.

»Ich glaube … der Baron wurde hier ermordet«, sagte sie.

Chap ging um den Stuhl herum, schnüffelte und knurrte. Während der Suche im Kastell hatte Leesil kaum an Buscans Ermordung gedacht. Einige Fraktionen des eigenen Hauses hatten ihn offenbar nicht gemocht, von den anderen adligen Familien ganz zu schweigen, doch als Leesil nun den Fleck sah, fragte er sich, wer dem Baron das Leben genommen hatte.

Ein ausgebildeter Assassine hinterließ keine deutlich sichtbaren Spuren, wenn es sich vermieden ließ – es sei denn, er versprach sich etwas von einer frühen Entdeckung seines Opfers. Der Größe des Flecks nach zu urteilen war der Mörder sehr direkt vorgegangen. Und der offene Geheimgang in der Wand? Was hatte es damit auf sich?

Leesil fragte sich, was genau in diesem Raum geschehen war.

»Beginnen wir mit der Suche«, sagte Magiere.

Wynn half ihr, und gemeinsam nahmen sie den Schreibtisch und die Bücherregale fast auseinander. Sie fanden nichts Interessantes, abgesehen vom recht alten Entwurf eines Briefes, den Prinz Rodêk seiner Mutter geschrieben hatte. Leesils Blick blieb die ganze Zeit über auf die Öffnung in der Wand gerichtet.

Er streckte den Arm hinein und leuchtete mit dem Kristall der kalten Lampe. Eine schmale Treppe führte von einem kleinen Absatz in die Tiefe.

»Hier gibt es nichts«, sagte Magiere verärgert.

»Mit dem Obergeschoss sind wir fertig«, erwiderte Leesil. »Wir müssen ohnehin nach unten, und ich möchte feststellen, wohin wir über diese Treppe gelangen.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Wynn, blickte durch den Raum und schien zu befürchten, etwas übersehen zu haben. »Es sollte hier Unterlagen geben, zumindest welche, die alltägliche Dinge betreffen. Dass wir überhaupt nichts gefunden haben, ergibt keinen Sinn.«

Magiere atmete tief durch, legte die Bücher beiseite, in denen sie geblättert hatte, und nickte Leesil zu.

Er trat als Erster durch die Öffnung in der Wand. Chap blieb dicht hinter ihm, und dann kamen Wynn und Magiere. Leesil ließ sich Zeit, leuchtete mit dem Kristall und sah sich Wände und Stufen an. Wahrscheinlich warteten hier keine Überraschungen, denn es handelte sich nur um einen geheimen Zugang und nicht um einen wichtigen Verbindungsweg, der geschützt werden musste. Ohne Zwischenfall erreichten sie das Ende der Treppe, und Leesil vermutete, dass sie sich jetzt unter dem Niveau des Erdgeschosses und damit unter dem Kastell befanden.

Die Treppe endete an einer schlichten Tür, und dahinter lag ein Kerker. Eiserne Türen zeigten sich zu beiden Seiten eines Ganges, der weiter vorn an einem quer verlaufenden Korridor endete.

»Ich glaube kaum, dass wir hier irgendwelche Aufzeichnungen finden«, flüsterte Leesil.

Wynn lief voraus, bevor er sie daran hindern konnte, und er musste ihr schneller folgen, als es ihm in dieser unbekannten Umgebung lieb war. Beim Quergang verharrte sie kurz und sah zurück, wandte sich dann nach links.

»Kommt!«, rief sie. »Ich glaube, hier geht es zu einem Hauptraum. Vielleicht ein Wächterquartier oder das Zimmer eines Offiziers … oder ein Weg nach draußen.«

»Langsam, Wynn!«, mahnte Magiere.

»Warte und lass es mich überprüfen«, fügte Leesil hinzu.

Er wollte Wynn folgen, doch Chaps Knurren ließ ihn erstarren.

Die Stimme einer Frau kam von der rechten Seite des Ganges, nicht aus Wynns Richtung.

»Dhampir?«

Magiere trat dicht hinter Leesil, und er spürte ihre Hand auf dem Griff des Falchions, das er noch immer an seinem Gürtel trug.

»Wer ist da?«, rief sie.

In der Dunkelheit jenseits des vom Kristall erhellten Bereichs bewegte sich etwas. Magiere zog das Falchion aus der Scheide.

»Wer ist da?«, fragte sie erneut.

Eine junge Frau trat ins Licht des Kristalls und stützte sich anscheinend erschöpft mit der einen Hand an einer Zellentür ab. Sie trug ein braunes Seidenkleid, das wie ein Umhang geschnitten war und von einer scharlachroten Kordel an der Taille zusammengehalten wurde. Die oberen beiden Messingspangen waren offen, und dichtes rotes Haar fiel ihr über den Rücken. Ein Roteisenstein hing an einer Halskette.

Die Frau starrte auf den Kristall in Leesils Hand – er schien sie ein wenig zu verunsichern. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Magiere.

»Dhampir«, wiederholte sie, und diesmal klang es melodischer.

Magiere trat mit dem erhobenen Falchion an Leesil vorbei. »Bleib, wo du bist, und halt die Hände still. Ich schneide alles ab, was sich bewegt.«

»Ich möchte dir helfen«, sagte die Frau.

Hinter Leesil näherten sich Wynns Schritte. »Kommt ihr? Ich brauche Hilfe bei einer verschlossenen … Oh«, sagte sie, als sie die Frau bemerkte.

Leesil trat von Magiere fort zur anderen Seite des Ganges. Es ging ihm nicht um Abstand von ihr; er wollte vielmehr die Fremde zwingen, ihre Aufmerksamkeit zu teilen. Das Leben hatte ihm einige bittere Erfahrungen beschert, und deshalb hielt er es für besser, immer vorsichtig zu sein. Wynn hielt ihren eigenen Kristall in der Hand, der genug Licht spendete, und so steckte Leesil seinen ein.

»Wer bist du?«, fragte er und schob sich langsam an der Wand des Ganges entlang.

»Du willst mir helfen?« Magieres Stimme klang bitter. »Wie denn?«

Die Frau löste behutsam ihre Hand von der Zellentür und hielt dann wieder besorgt inne. Als Magiere nickte, ließ sie die Hand sinken.

»Osceline«, sagte sie. »Ich heiße Osceline. Du hast Fragen, die die Vergangenheit betreffen, und du suchst Aufzeichnungen, aber hier wirst du nichts finden. Ich kann dir helfen. Ich diene jenem, der in der Lage ist, dir Antworten zu geben.«

Leesil hielt die Hände an den Seiten und krümmte die Finger, bis er mit den Fingerspitzen die Schnüre der Unterarmscheiden berühren und lösen konnte. Die Stilettgriffe glitten in seine Hände.

Magiere richtete die Spitze des Falchions auf die Frau. »Du dienst jemandem, der behauptet, mich zu kennen?«

»Es ist mehr als eine Behauptung«, antwortete Osceline, und ein Lächeln erschien kurz auf ihren zitternden Lippen. »Er war bei deiner Geburt dabei.«

Chap sprang vor, knurrte und bellte. Osceline schreckte vor dem Hund zurück, und Leesil nutzte die Gelegenheit, im Korridor an ihr vorbeizuhuschen. Jetzt konnte sie nicht mehr fliehen. Wynn hielt den Hund fest, aber ihr Blick galt der Frau. Magiere senkte die freie Hand und schob Chap zurück.

»Du lügst«, sagte Leesil. Er wollte nicht zulassen, dass jemand mit Magiere spielte.

»Nein, ich lüge nicht«, widersprach Osceline. »Mein Herr hat sich sehr bemüht, Buscan in seine Dienste zu nehmen, und dann schickte er mich, um seine Pläne zu schützen. Ihr habt wahrscheinlich gehört, was hier geschehen ist. Wenn er davon erfährt, muss ich mit einer harten Strafe rechnen.«

»Wer hat Buscan ermordet?«, fragte Leesil.

Oscelines Blick wanderte zwischen ihm und Magiere hin und her. Sie schien nicht zu wissen, wem sie antworten sollte.

»Ich weiß nicht, wer sie waren«, sagte sie schließlich. »Sie überraschten mich.«

»Du warst also dabei, als es passierte«, stellte Leesil fest. »Im Salon … Hast du gesehen, wer ihm das Leben nahm?«

»Wie ich schon sagte, es waren Fremde. Buscan kannte einen von ihnen.«

»Von ihnen?«, hakte Leesil nach. »Es waren mehrere? Und dieser alte Freund … hatte er einen Namen?«

Osceline starrte ihn an. Sie zögerte, als wüsste sie etwas, das Leesil übersah, oder als besäße sie etwas, das er wollte. Leesil begriff, dass er zu weit gegangen war. Wenn sie etwas wusste, so überlegte sie jetzt, welchen Wert ihr Wissen haben mochte.

»Ich habe keinen Namen gehört, und es spielt auch keine Rolle mehr«, sagte sie und wandte sich wieder an Magiere. »Es ist unwichtig im Vergleich mit dir. Mein Herr hält dich seit langer Zeit für tot. Andernfalls hätte er dich gesucht und vor dem Leben bewahrt, das du führen musstest. Erst in den letzten Jahren kamen uns Gerüchte zu Ohren. Man munkelte von einer Dhampir, die die Wildnis durchstreifte. Deshalb wies er seine Diener an, nach dir Ausschau zu halten und dich zu finden. Dazu brauchte er Buscan; er sollte helfen, loyale Beobachter zu den richtigen Orten zu schicken. Doch jetzt ist der Baron tot.«

Leesil beobachtete, wie sich Magieres Hand fester um den Griff des Falchions schloss.

»Kennst du den Namen meines Vaters?«, fragte sie leise. »Ist er dein Herr?«

»Nein«, erwiderte Osceline. »Mein Herr wird alles selbst erklären. Das ist sein Wunsch. Mehr kann ich dir nicht sagen, abgesehen davon, wo du ihn finden kannst, aber zuerst musst du mir etwas versprechen.«

»Ich verspreche dir gar nichts!«, sagte Magiere.

Sie sprach ein wenig zu laut, und Leesil sah ihren Schmerz. Er hätte sie gern irgendwie getröstet, wagte es aber nicht, Osceline aus den Augen zu lassen.

»Dann sage ich nichts«, gab Osceline zurück.

Leesil hob die Stilette. Oscelines Blick glitt in seine Richtung, ohne sich anzuspannen. Offenbar sah sie nichts, das eine Gefahr für sie darstellte, und das ließ Leesil noch wachsamer werden.

»Was willst du?«, fragte Magiere schließlich.

»Schwöre mir, meinem Herrn zu sagen, dass ich es war, die dich gefunden hat. Dass ich es bin, die dich zu ihm schickt, niemand anders. Wenn du mir diesen Gefallen tust, gewinne ich vielleicht seine Gunst zurück und damit auch mein Leben.«

Magiere sah zu Leesil, und er nickte zustimmend.

»Also gut«, sagte Magiere. »Du hast mein Wort, denn ich habe keinen Gott, bei dessen Namen ich schwören könnte.«

Osceline nickte in Leesils Richtung. »Schwöre bei seinem Leben.«

Magiere beugte sich vor, und dadurch wurde ihr dunkles Haar zu einem Vorhang, der die Hälfte ihres Gesichts verbarg. Die Augen wurden schwarz. Sie hob das Falchion zum Schlag und trat einen Schritt auf Osceline zu. Die Frau drückte sich mit dem Rücken gegen die Zellentür, zeigte aber noch immer keine Furcht.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Leesil.

Er beobachtete, wie Magiere zögerte, erst ihn ansah und dann wieder die Frau. Sie senkte das Falchion.

»Ich schwöre bei seinem Leben«, sagte sie, und die Worte klangen fast wie ein Fauchen. »Ich sage deinem Herrn, dass du mich geschickt hast. Und jetzt heraus damit! Wie heißt er, und wo finden wir ihn?«

Erleichterung erschien im Gesicht der schönen Osceline, gefolgt von Zufriedenheit. Plötzliche Anspannung erfasste Leesil, und er fragte sich, ob der Schwur dieser seltsamen Frau gegenüber vielleicht ein schrecklicher Fehler gewesen war.

»Ubâd«, sagte Osceline ruhig und gefasst. »Sein Name ist Meister Ubâd.«

Sie trat von der Tür zurück, als gäbe es keine Gefahr mehr, wegen der sie sich Sorgen machen müsste. Sie kehrte Leesil sogar den Rücken zu und wandte sich ganz an Magiere.

»Du findest ihn im Moorland jenseits des Ortes Apudâlsat«, fuhr Osceline fort. »Im Osten, in der Provinz der Sclävên, am Rand der Region Everfen. Die Feste ist verlassen, wie auch das Dorf, aber er befindet sich dort. Geh zu der Feste – er wird wissen, dass du da bist. Er ist klug und wird dir alles erklären. Aber vergiss deinen Schwur nicht.«

Osceline drehte sich um und ging ohne einen Blick zurück an Leesil vorbei. Nach einigen Schritten verschwand sie im dunklen Teil des Ganges. Magiere wollte ihr folgen, aber Leesil hielt sie am Arm fest.

»Lass sie gehen.« Er warf einen Blick über die Schulter, doch von Osceline war nichts mehr zu sehen. »Sie hat uns zwar nicht sehr viel gesagt, aber ich glaube, es war die Wahrheit.«

Chap grollte leise. Wynn war neben dem Hund in die Hocke gegangen und hatte die Arme um ihn geschlungen.

»Wir haben noch nicht das ganze Kastell durchsucht«, sagte die junge Weise. »Es wäre möglich, dass wir noch irgendwo Aufzeichnungen finden.«

»Hier haben wir nichts gefunden«, stellte Leesil fest. »Und ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändert, wenn wir die Suche fortsetzen. Wir sollten besser verschwinden, solange wir können.«

Er sah, wie Magiere die Lippen zusammenpresste, und er dachte daran, dass sie zu einem Hieb mit dem Falchion bereit gewesen war, als Osceline von ihr verlangt hatte, bei seinem Leben zu schwören. Sie drehte sich um und ging zur Treppe, und dabei strich ihm ihre Hand kurz über den Arm. Leesil forderte Wynn und Chap mit einem Wink auf, ihr zu folgen.

Als er ein Stilett wegsteckte und den Kristall hervorholte, blickte er noch einmal in den dunklen Gang. Irgendetwas stimmte hier nicht. Langsam ging er an den geschlossenen Zellentüren zu beiden Seiten vorbei.

Nach drei Schritten entdeckte er im Licht des Kristalls das leere Ende des Ganges, und er war sicher, dass sich keine der Türen geöffnet hatte.

Wachsam kehrte Leesil dorthin zurück, wo sich die Korridore trafen, beobachtete dabei jeden Schatten.

Er folgte den anderen in den Salon und sah dabei mehr als einmal über die Schulter. Vom Zimmer mit den holzvertäfelten Wänden führte er seine Begleiter in den Flur und dann die schmale Treppe zur Tür hinunter, durch die sie den breiteren Flur im Erdgeschoss erreichten. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder in der Küche waren und dann draußen hinter der Kaserne. Leesil schloss die Tür hinter ihnen ab und befestigte den Schlüssel am Gürtel des bewusstlosen Wächters. Magiere reichte ihm ihr Falchion, und er schob es in die Scheide.

Beim Schlupfloch in der Kastellmauer krochen die anderen schnell hindurch. Als er zurücktrat und Anstalten machte, das mobile Wandsegment in die Öffnung zu schieben, griff Magiere nach seinem Arm.

»Was machst du da?«, fragte sie. »Es ist Zeit, diesen Ort zu verlassen.«

»Von außen kann ich die Öffnung nicht schließen. Wenn wir sie offen lassen, könnte jemand ins Schloss gelangen, und man gäbe den Väränj-Soldaten die Schuld.«

Magiere setzte zu einer Antwort an, und Leesil wusste, was sie sagen wollte. Warum sollte er sich wegen der Väränj-Soldaten Sorgen machen? Er beugte sich durch die Öffnung, gab Magiere einen Kuss auf die Nase und brachte sie damit zum Schweigen.

»Wir treffen uns im Gasthaus – vielleicht bin ich sogar eher dort als du. Geh jetzt.«

Er schob den Steinblock über die Schienen und blockierte ihn anschließend mit Hilfe des Hebels.

Zum zweiten Mal in jener Nacht wartete Magiere mit Wynn in ihrem Gasthauszimmer. Der Morgen rückte näher, niemand von ihnen hatte geschlafen, und Chap wanderte unruhig umher, sah immer wieder zu Wynn. Wie oft es die junge Weise auch versuchte: Sie konnte den Hund nicht dazu bringen, dem Leder mit den Elfensymbolen Beachtung zu schenken und Fragen in Hinsicht auf die Frau im Kerker des Kastells und den rätselhaften Meister Ubâd zu beantworten.

Magiere bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber ihr drängten sich zu viele Fragen auf. Würde die Suche nach ihrer Vergangenheit sie alle in eine Sackgasse führen? Log Osceline? Von dieser Reise erhoffte sich Magiere vor allem Wahrheit, und jetzt, da sie in Reichweite rückte, war sie nicht mehr sicher, ob sie wirklich dafür bereit war.

Wynn beobachtete sie vom Bett aus, und Magiere sah Sorge in ihren Augen. Wie seltsam: Wynn, die immer nach Wissen und neuen Erkenntnissen strebte … Auch sie fürchtete, was sie vielleicht entdecken würden.

»Was auch immer geschieht, Magiere«, sagte Wynn. »Du bleibst du, und wir sind bei dir.«

Die Worte waren banal, aber willkommen.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und Leesil kam herein. Magiere atmete erleichtert auf.

»Du hast dich also aus dem Kastell geschlichen«, sagte sie.

»Natürlich.« Er vergeudete keine Zeit, verstaute das Kästchen mit den Werkzeugen und die Klingen in der Truhe. »Ich weiß, dass alle müde sind, aber wir sollten sofort aufbrechen. Wir wechseln uns an den Zügeln ab, während die anderen schlafen.«

»Einfach so?«, fragte Magiere. »Wir jagen diesen Ubâd und verlassen uns dabei auf das Wort einer geheimnisvollen Frau, die sich im Kerker des Kastells verbirgt?«

»Bist du nicht bereit?«, erwiderte Leesil.

»Es kommt darauf an, ob sie die Wahrheit sagte oder nicht«, betonte Wynn. »Wir haben nach Aufzeichnungen gesucht, die Magieres Vater betreffen, und die Begegnung mit der Frau war ein … Zufall, der uns gelegen kam.«

»Osceline hat bestimmt nicht ausschließlich die Wahrheit gesagt, sondern auch gelogen«, meinte Leesil. »Was ihren Herrn und Meister betrifft … Ich glaube, sie fürchtet ihn wirklich. Er dürfte gefährlich sein, wenn er selbst über große Entfernung hinweg eine solche Art von Unterwerfung bewirkt.«

»Wir wissen, dass Vordana nach mir Ausschau hielt«, sagte Magiere. »Und wir wissen, dass für meine Geburt eine arkane Beschwörung erforderlich war. Wenn dieser Ubâd dabei war, so muss er beteiligt gewesen sein. Und wenn ihm Geschöpfe wie Vordana dienen, so ist er zweifellos gefährlich.«

Magiere musterte Leesil für einen Moment und senkte dann den Blick, weil sie ihm nicht mehr in die Augen sehen konnte. Als Osceline von ihr verlangt hatte, bei seinem Leben zu schwören, war Magiere von dem plötzlichen Wunsch erfüllt gewesen, sie dafür büßen zu lassen. Leesil schien an einem solchen Eid nichts zu finden, wenn Magiere dadurch bekam, was sie wollte. Er war erneut bereit zu warten, damit sie Gelegenheit bekam, die gesuchten Antworten zu finden.

»Ich habe nicht damit gerechnet, dass unsere Reise so weit führen und so lange dauern würde«, sagte sie. »Es tut mir leid.«

»Leid?«, wiederholte Leesil. »Die Reise mag länger gedauert haben, als wir dachten, aber vielleicht trennen uns weniger als sechs Tage von den Antworten auf deine Fragen. Dir braucht nichts leidzutun.«

Chap knurrte leise, aber niemand schenkte ihm Beachtung, Magiere erst recht nicht. So viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf … Sie hielt einen fest.

»Wynn, kümmere dich um den Wagen und die Pferde«, sagte sie. »Nimm Chap mit. Besorg uns für unterwegs etwas Warmes zu essen, wenn du kannst.«

»Und auch heißes Wasser für Tee«, fügte Wynn hinzu, stand auf und ging. Chap folgte ihr.

Leesil schloss die Truhe und wollte sie zur Tür ziehen, aber Magiere blieb davor stehen und versperrte ihm den Weg.

»Was ist?«, fragte er.

Magiere nahm sein Gesicht zwischen die Hände und berührte seine Stirn mit der ihren. Sie schwieg – war es so schwer für sie, einige einfache Worte auszusprechen?

»Nur zu«, flüsterte er.

Ihre Augen blieben geschlossen, als sie sagte: »Ich liebe dich … Weißt du das?«

Leesil blieb still und spürte, wie ihre Finger an den Seiten seines Gesichts nach oben über die Schläfen wanderten, zu seinem Haar.

»Natürlich«, hauchte er und versuchte, es scherzhaft klingen zu lassen. »Ich habe dich verzaubert.«

»Ich meine es ernst, und ich muss es dir sagen, solange ich noch Gelegenheit dazu habe. Und du darfst es nicht vergessen. Was auch immer geschieht, was auch immer aus mir wird … Du darfst es nicht vergessen.«

Und Magiere besiegelte diese Worte mit einem Kuss.

Bei Sonnenaufgang, bevor jemand die bewusstlosen Wächter hinter der Kaserne entdecken konnte, verließen sie Kéonsk, und Chap beobachtete, wie die Stadtmauer hinter ihnen zurückblieb. Die Pferde waren ausgeruht und zogen den Wagen zügig die Straße entlang. Leesil und Magiere saßen vorn auf der Kutschbank.

Wynn schlief bereits unter ihrer Decke hinten auf dem Wagen, und Chap lag neben ihr. Selbst im Schlaf brachte die Präsenz der jungen Weisen einen gewissen Trost, obwohl Chap nicht recht wusste, welchen Platz sie in dieser ganzen Sache einnahm. Ohne die beständige Neugier, die sie ihm entgegenbrachte, wäre es viel einfacher gewesen, seine Geheimnisse zu wahren. Er hatte begonnen, immer mehr an seinen eigenen Aktivitäten zu zweifeln, und inzwischen war er zu einer Entscheidung gelangt, von der er wusste, dass seine Artgenossen nicht viel davon halten würden.

Er hätte Magiere dazu zwingen können, diesen Weg zu verlassen, aber von dieser Möglichkeit wollte er keinen Gebrauch machen. Andererseits war klar, dass er sie mit gewöhnlichen Mitteln nicht veranlassen konnte, von ihren Absichten abzulassen. Trotz der albtraumhaften Visionen, die er durch den Zauber des Untoten erlebt hatte oder vielleicht gerade wegen dieser , würde er Magiere dabei helfen, ihre Reise zum Abschluss zu bringen.

Er sah darin die schnellste Möglichkeit, sie aus diesem Land zu bringen, bevor sich die Ereignisse zu schnell entwickelten. Und wenn sie Cuirin’nên’a fanden – Leesils Mutter, die er Nein’a nannte –, so half es vielleicht, die Dinge auszubalancieren.

Der Feind war wach und beobachtete. Das zählte zu den wenigen Gewissheiten, die Chap geblieben waren.

Er würde Magiere begleiten, sich den Konsequenzen ihrer Entdeckungen stellen und tun, was nötig war. Er würde beenden, was er mit seiner Entscheidung begonnen hatte, Magieres Weg mit dem Leesils zu verbinden.

Chap begriff, dass er Magiere vertrauen musste und auch Leesil – oder zumindest dem, was er zwischen ihnen geschaffen hatte.