9
Schemenhafte Silhouetten huschten rechts und links von Magiere zwischen den Bäumen, als sie durch den Wald lief und zu entkommen versuchte. Wenn sie sich einer von ihnen zuwandte und sie zu jagen versuchte, wich die Erscheinung tiefer in den dunklen Wald zurück und entzog sich ihr. Jene Schatten weckten einen Hunger in ihr, der in der Kehle brannte. Als ihre Nachtsicht schärfer wurde, sah sie das Glitzern kristallener Augen in jeder dunklen Präsenz.
Untote verfolgten sie.
»Wir jagen«, flüsterte eine Stimme rechts von ihr. »Und du jagst.«
»Wir haben Hunger«, ertönte es von der linken Seite. »Und du hast Hunger.«
Einer der Schemen erschien vor ihr zwischen zwei halb abgestorbenen Tannen. Magiere blieb stehen und schloss die Hand fester um ihr Falchion.
Die Augen des Schattens leuchteten wie vom Himmel geholte Sterne, und ihr Blick richtete sich auf sie.
»Du gehörst zu uns … das weißt du.«
Magiere wandte sich um und rannte durchs Dickicht. Die Kälte der Nacht bohrte sich ihr in die Haut, aber sie wurde nicht langsamer. Noch schneller lief sie, als löste der Verlust an Körperwärme Fesseln von ihr. Weitere Silhouetten erschienen zwischen den Bäumen, duckten sich allein oder in kleinen Gruppen am Boden. Sie hörte ihr Knurren und auch das leise Wimmern ihrer Opfer.
Sie töteten, um selbst zu existieren.
Magieres Zorn wuchs. Sie raste einem Schemen entgegen, der neben einigen Büschen hockte, und holte mit dem Falchion aus.
Der Schatten verschwand, und ihr Hunger nahm zu, anstatt von ihr zu weichen.
Zurück blieb ein junger Mann, der mit ausgestreckten Gliedmaßen auf dem Waldboden lag und aus leeren Augen zum Blätterdach hochstarrte. Blut tropfte aus seiner aufgerissenen Kehle, und Nadeln fielen auf ihn herab. Magiere spürte einen Rest von Leben in ihm und sah, wie ihre Hand nach seinem Hals tastete.
Sie zuckte zurück.
Überall lagen Leichen im Wald. Männer und Frauen, jung und alt. Ein Mädchen mit weit aufgerissenen Augen saß an einen Baum gelehnt, reglos wie eine Puppe im Regal … wie die Stoffpuppe, die Magiere als Kind in den Armen gehalten hatte. Kleid und Pullover waren zerrissen, und in der bleichen Haut darunter zeigten sich Bissspuren.
»Es sind keine mehr übrig«, flüsterte eine andere Stimme durch den Wald. »Kein Blut mehr … Und du hast immer noch Hunger. Wir hungern auch.«
Überall um Magiere herum verwesten Leichen.
»Wir müssen mehr finden … mehr Leben … Und wir folgen dir, wenn du uns den Weg zeigst. Führe uns, kleine Schwester. Deine Zeit ist gekommen.«
Magieres Hunger wurde wieder stärker. Ihn zu unterdrücken kostete sie große Mühe und entlockte ihr ein leises Stöhnen.
»Leesil«, hauchte sie immer wieder mit geschlossenen Augen, bis sein Gesicht ihr Bewusstsein füllte. Als sie die Augen wieder öffnete, waren die Toten noch immer da, überall im Wald.
Ein weißes Flackern zeigte sich weiter vorn und erschien kurz neben einigen verfaulenden Baumstämmen. Furcht stieg in Magiere hoch und erweiterte ihre Sinne.
Sie hörte leises Atmen und das Geräusch von Schritten auf dem Laub. Fremder Herzschlag schien ihre Haut vibrieren zu lassen.
Mehr hörte sie nicht. Der Wald war still, ohne Leben. Auch ohne ihr eigenes. Nur ein Herzschlag anstatt zwei, denn unter der Kälte in ihrem Innern hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen.
Sie war tot – und sie hungerte. Die Stimmen der Untoten im Dunkeln hatten sie aufgefordert, Blut zu finden und es zu trinken.
Die Gestalt schlüpfte zwischen den Bäumen hervor und erreichte die Lichtung, auf der sie stand.
Leesil blickte sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen an, und das weißblonde Haar umrahmte sein dunkles Gesicht. Er streckte die linke Hand aus, wie ein Angebot.
Magiere sah die von ihren Zähnen stammenden Narben an seinem Handgelenk. Innerlich schreckte sie zurück, doch ihr Körper bewegte sich vorwärts.
»Nein, Leesil«, schluchzte sie.
Das Sprechen fiel ihr schwer, denn ihre Zähne wurden länger und die Kiefer breiter. Magiere versuchte stehen zu bleiben, doch ihre Füße blieben in Bewegung, bis sie Leesils Wärme in Reichweite spürte. Grundloser Zorn wogte durch sie, und der Hunger wurde so stark, dass es zu einem Krampf kam – sie ließ das Falchion fallen.
»Bitte hindere mich daran«, brachte sie hervor. »Sorg dafür, dass es aufhört … für immer.«
»Ich kann dir den Hunger nehmen, aber nur auf eine Weise«, erwiderte er, und Magiere hörte, wie sich die Untoten im Wald näherten. »Hier gibt es nur mich. Allein mein Blut ist für dich übrig.«
Magiere ergriff Leesils Arm, und Tränen verschleierten ihren Blick, als sie ihn an sich zog. Sie öffnete den Mund und presste das Gesicht an seinen Hals.
Welstiel hastete auf der Suche nach Magiere durchs Gestrüpp. Er wusste nicht genau, warum sie plötzlich in den Wald geflohen war, aber er hatte einen Verdacht.
Das untote Geschöpf auf der Kreuzung hatte ihr Bewusstsein manipuliert.
Magiere trug eine Art Suggestion in sich, die sie mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen verstärkte. Darin verloren war sie zu allem fähig, selbst dazu, sich die Kehle durchzuschneiden oder in den Fluss zu springen, um darin zu ertrinken. Er musste sie finden.
Welstiel verharrte und lauschte, öffnete die Sinne für Magieres Präsenz. Von rechts kamen Geräusche aus dem Wald. Er wandte sich in die entsprechende Richtung, und Zweige zerrten an seinem Mantel, als er wieder loslief. Kurze Zeit später blieb er erneut stehen, als er Magiere auf einer Lichtung sah. Die wilde Flucht durchs Dickicht hatte blutige Kratzer auf Armen und im Gesicht hinterlassen.
Er zögerte und suchte nach einer Möglichkeit, sich ihr unbemerkt zu nähern. Vorsichtig schlich er durch den Wald, um vor sie zu gelangen, für den Fall, dass sie ihre Flucht fortsetzte. Magiere drehte sich wie verzweifelt um die eigene Achse, und ihr Blick huschte über die Lichtung. Dann schloss sie die Augen und flüsterte.
»Leesil … Leesil … Leesil …«
Plötzlich kamen ihre Lider wieder nach oben, und sie starrte Welstiel an.
Sie sah ihn.
Welstiel wich zwischen die Bäume zurück und hoffte, dass es Zufall gewesen war, aber Magieres Blick folgte ihm, wohin er sich auch wandte. In diesem Moment glaubte er alle seine Pläne über den Haufen geworfen. Sie würde ihre Reise nicht fortsetzen, und er konnte sie nicht auf die beabsichtigte Suche schicken. Stattdessen würde sie ihn verfolgen. Diese Krise musste irgendwie überwunden werden.
Er trat auf sie zu, streckte die leere Hand aus und hoffte, dass er sie lange genug hinhalten konnte, um ihr Bewusstsein von dem Hirngespinst zu befreien.
»Nein, Leesil«, schluchzte sie.
Welstiel erstarrte. In ihrem Wahn hielt Magiere ihn für den Halbelfen. Hunger und Schrecken zeichneten sich in ihrem blassen, zerkratzten Gesicht ab. Wenn Magiere glaubte, dass sie das Blut ihres engsten Gefährten getrunken und ihn getötet hatte …
Welstiel überlegte schnell. Hier bot sich eine Gelegenheit.
Sie würde nicht mit dem fertig werden, was sie getan hatte – was sie glaubte, getan zu haben –, und sie konnte auch nicht nach Miiska und dem armseligen Leben zurückkehren, das sie dort mit Leesil geführt hatte. Magiere würde ziellos dahintreiben. Kummer und Selbsthass verwirrten das Selbst und machten eine Person beeinflussbar.
Welstiel streifte behutsam den Handschuh ab und hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger fest, bevor er zu Boden fallen konnte. Er zog sich den Messingring vom Finger und wusste, was das für Magiere bedeuten würde. Ohne den Schutz des Rings würde ihr Instinkt seine wahre Natur erkennen.
Magiere schauderte.
Dies war gefährlich, aber die möglichen Vorteile überwogen das Risiko. Töten konnte sie ihn gewiss nicht.
»Bitte hindere mich daran«, flehte sie. »Sorg dafür, dass es aufhört … für immer.«
»Ich kann dir den Hunger nehmen, aber nur auf eine Weise«, erwiderte Welstiel. »Hier gibt es nur mich. Allein mein Blut ist für dich übrig.«
Magieres Augen waren schwarz, und Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie seinen ausgestreckten Arm ergriff und ihn näher zog. Sie presste ihm das Gesicht an den Hals.
Welstiel spannte die Muskeln und wartete auf ihren Biss.
Ein gedämpftes Stöhnen kam von Magiere, und Welstiel fühlte es in der Brust. Ihre Hände schlossen sich fest um seine Schultern.
Magiere stieß ihn von sich.
Welstiel taumelte und hielt sich an einem Zweig fest. Seine Überraschung verwandelte sich in Ärger. Magiere sank wie ein Tier auf Hände und Knie und versuchte, sich unter Kontrolle zu halten. Sie bot einen jämmerlichen, abscheulichen Anblick.
Mit Verwirrung im fratzenhaften Gesicht sah sie zu ihm auf.
»Leesil?«, flüsterte sie unsicher.
Welstiel begriff, dass er zu weit gegangen war. Er konnte hier nicht mehr tun; es blieb nur das, was ihn hierhergeführt hatte.
»Wach auf«, sagte er scharf und schlug ihr die Faust seitlich gegen den Kopf.
Magiere kippte nach hinten und fiel mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Welstiel schob sich wieder den Ring auf den Finger und duckte sich hinter die nächsten Bäume.
Von dort aus beobachtete er Magiere, um sich zu vergewissern, dass sein Schlag ausgereicht hatte, sie von ihrer Besessenheit zu befreien. Sie würgte einige Male, erhob sich auf Hände und Knie und sah sich erschrocken auf der Lichtung um.
»Leesil!«, heulte sie, stemmte sich hoch und lief in Richtung Ort.
Welstiel sank ins Laub, und die geringe Erleichterung, die er empfand, verlor sich in bitterer Enttäuschung.
Leesil stand allein im Wald. Blut klebte an seinen Händen und den Stiletten darin.
Er ließ die Klingen fallen, wich zurück und fragte sich, wo er war und was er getan hatte. Dicker Stoff umhüllte seine Arme, in einem weichen Holzkohlegrau mit einem Hauch von Grün. Ein Mantel in der gleichen Farbe war um seine Schultern geschlungen, die Kapuze bedeckte den Kopf. An Nase und Mund fühlte er einen Schal, der die untere Hälfte des Gesichts verbarg.
Diese Kleidung hatte er schon einmal gesehen. Sgäile von den Anmaglâhk hatte sie getragen, der Assassine, dem er in Bela begegnet war.
Leesil drehte sich um und wollte fliehen, doch etwas ließ ihn innehalten.
Zwischen den Bäumen weiter vorn stand ein hochgewachsener Mann und kehrte ihm den Rücken zu. Er war schlank und breitschultrig, trug das schwarze Haar militärisch kurz und einen Morgenrock aus indigoblauer Seide. Leesil trat näher und tastete nach einer seiner beiden besonderen Klingen, doch sie befand sich nicht an ihrem Platz.
Als die Distanz schrumpfte, bemerkte er eine seltsame Wunde am Nacken des Mannes, dicht unter dem Haaransatz. Blut quoll daraus hervor, rann über den Hals und tropfte auf den Kragen des Morgenrocks.
Der Mann hob die Hand zur Wunde, betrachtete dann seine Finger und rieb das Blut zwischen den Kuppen von Daumen und Zeigefinger. Über die Schulter hinweg sah er zu Leesil. Ein dünner Bart zeigte sich in seinem langen Gesicht, und die Jochbeine unter den knochigen Brauen standen ein wenig vor.
Etwas schnürte Leesil die Kehle zu, als er in die haselnussbraunen Augen von Lord Progae sah.
»Es scheint nicht aufzuhören, oder?« Progae schüttelte den Kopf und seufzte, weder verärgert noch traurig. Er schien nicht einmal überrascht zu sein, als er auf Leesils Hände blickte. »Das Blut, meine ich.«
Leesil konnte kaum sprechen. »Ich hatte keine …«
»Wahl?«, fragte Progae. »Ich verstehe. Du hast nur deine Anweisungen befolgt und konntest sie nicht missachten. Unter Darmouths Herrschaft geht es uns allen so. Aber ich denke über die Befehle nach.« Er sah zu Boden. »War dies nötig? Musstest du es geschehen lassen?«
Leesil trat um Progae herum und wahrte dabei respektvolle Distanz.
Er stand am Rand einer flachen, weiten Senke, die von einigen Bäumen umgeben war. Drei Leichen lagen dort: eine Frau, die ihre Arme um zwei Mädchen geschlungen hatte.
Hunger hatte sie vor dem Tod ausgezehrt; deutlich zeichneten sich die Knochen unter der Haut ab. Die Augen der Kinder waren geschlossen, die der Frau geöffnet. Dünnes Haar ragte unter dem Tuch hervor, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte.
Leesil erinnerte sich: Er hatte Progae ein Stilett in den Hinterkopf gestoßen, während er allein im Bett gewesen war.
Seine Frau und die Töchter waren auf die Straße gesetzt worden. Die älteste von ihnen fand als zusätzliche Mätresse Aufnahme bei einem Lord Darmouth treu ergebenen Lehnsherrn. Für die Frau und die beiden anderen Mädchen gab es keine solche »Rettung«. Als Familienangehörige von jemandem, der Darmouth verraten hatte, fanden sie keinen Adligen oder Bürgerlichen, der es riskierte, sie zu sich zu nehmen. Leesil erfuhr später, dass sie in irgendeiner Gasse verhungert waren.
»Hättest du nicht etwas tun können?«, fragte Progae. »Sie haben sich nicht gegen Darmouth verschworen.«
Leesil fühlte noch immer Blut an den Händen und wischte es an seiner grauen Kleidung ab. Trotzdem klebte es weiterhin an seinen Fingern. Er trat zurück, bis Progae in der Dunkelheit der Nacht verschwand.
Eine andere Stimme kam durch den Wald. »Wir sind in einer schwierigen Situation, Léshil.«
Eine hohe, trällernde Stimme, mit einem sonderbaren Akzent, den er seit vielen Jahren nicht gehört hatte. Sie ähnelte Sgäiles Stimme, ans Elfische gewöhnt und nur bedingt mit dem Belaskischen vertraut.
»Mutter?«, flüsterte Leesil.
»Du bist ein Anmaglâhk«, hallte die Stimme seiner Mutter durch den Wald.
Es war die ruhige Feststellung einer Tatsache, ohne Stolz. Sie hatte ihm dies vor langer Zeit gesagt. Und kurz darauf hatte er Progae das Leben genommen.
Leesil drehte sich um und hielt Ausschau. Es gab Bewegungen zwischen den Bäumen, aber sie stammten nur von schemenhaften Silhouetten. Lord Darmouths erste Mätresse Damilia, die sich mit Progae gegen ihn verschworen hatte, trat vor. Sie trug ein dunkelgrünes Gewand mit einer Hermelinstola, und eine Strähne des kastanienbraunen Haars hing über dem linken Auge. Ein Garrottendraht hatte einen roten Striemen an ihrem Hals hinterlassen. Leesil wich vor ihr zurück.
»Leesil!« Wieder erklang die Stimme einer Frau.
»Nein’a?«, erwiderte er. »Wo bist du, Mutter?«
Weitere Gestalten bewegten sich zwischen den Bäumen und kamen näher. Sie traten auf ihn zu, als er versuchte, ihnen auszuweichen.
Latätz, Progaes Feldwebel, blutete aus einer doppelten Wunde im Herzen. Der Schmied Koyva mit aufgeschnittener Kehle. Lady Kersten Petzkä, nur in ein Handtuch gehüllt, die Haut farblos von einem tödlichen Bad. Sie alle hatten in Lord Darmouths Diensten – oder bei ihren Plänen gegen ihn – Schreckliches getan.
Bis auf Josiah.
Der alte Minister mit dem weißen Haar und den heiteren violetten Augen trat aus den Schatten, und eine angeschwollene, schwarz gewordene Zunge ragte ihm aus dem Mund. Er hatte nie die Hand oder das Wort gegen Darmouth erhoben. Ohne Argwohn nahm er den jungen Halbelfen bei sich auf und lehrte ihn die Künste eines Schreibers. Leesil hatte ihn verraten und dem Tod preisgegeben, und der Grund war allein Darmouths Verfolgungswahn.
Leesil hob die blutigen Hände vor die Augen und floh.
Tiefer im Wald bemerkte er einen Schatten, der wie ein jagendes Tier dahinhuschte.
»Hier!«, rief seine Mutter aus der Nacht. »Ich bin hier!«
»Mutter?«, erwiderte Leesil.
Er konnte sie finden, wenn er schnell genug war, doch hinter ihm ertönte eine andere Stimme. »Warte auf mich! Ich komme zu dir!«
Leesil sah zurück. Der jagende Schatten näherte sich ihm. Er sah kurz ein blasses Gesicht, bevor der Schemen hinter ein Gebüsch sprang.
»Magiere?«, flüsterte er, um nicht erneut die Schatten der Toten zu wecken. »Sie ist hier … Meine Mutter ist hier. Wir müssen uns beeilen!«
Er lief weiter durch den Wald, bis vor ihm ein weißes Schimmern erschien.
Eine große, schlanke Frau saß vor einer alten Eiche, Leesil den Rücken zugewandt. Weißblondes Haar fiel in seidenem Glanz den Rücken hinab. An das Kleid erinnerte sich Leesil vom letzten Abend, bevor ihn der Anblick des auf dem Stadtplatz gehängten Ministers Josiah zur Flucht aus den Kriegsländern veranlasste. Es war karamellfarben wie die Haut, und das Muster von grünen Blättern schien sie mit dem Wald verschmelzen zu lassen. Leesil ging hinter ihr in die Hocke und streckte die Hand nach ihrer Schulter aus.
Langsam drehte sich Nein’a zu ihm um.
Das einst so schöne Gesicht war verschrumpelt und grau, die Augenhöhlen leer. In dieser Frau steckte schon lange kein Leben mehr.
»Zu lange … zu spät«, raunte Nein’as Leiche. »Du kommst viel zu spät.«
Sie zerfiel vor Leesil zu Staub.
Er konnte sich nicht bewegen, nicht einmal schreien oder schluchzen. Allein hockte er da, von Dunkelheit umgeben, und Staub von der Leiche bildete eine dünne Kruste auf dem Blut an seinen Fingern.
Magiere sprang aus der Finsternis, landete wie eine Wildkatze vor ihm und wirbelte den Staub seiner Mutter auf. Ihre Augen waren schwarz, und sie bleckte die langen Zähne.
»Komm zu mir zurück, Leesil«, sagte sie. »Bitte, ich brauche dich.«
Wynn lief über die Straße, und als der Ort hinter ihr zurückblieb, wusste sie nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Noch immer hing der blauweiße Dunst vor ihren Augen, wodurch ihr die Orientierung schwerfiel, aber wenigstens hatte das Wogen und Wallen aufgehört. Vordana war fort, so viel stand fest.
Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Chane zurück.
»Leesil!«, rief Wynn. »Chap … Magiere?«
Sie konnte Chane nicht um Hilfe bitten und hoffte von ganzem Herzen, dass er inzwischen losgeritten war. Wenn Magiere feststellte, dass er ihnen folgte, so würde sie versuchen, ihn zu vernichten, und ein Teil von Wynn verstand den Grund dafür.
Und doch … Chane hatte sie gesucht, mit der Absicht, sie zur Gilde der Weisen und der warmen Bequemlichkeit ihres früheren Lebens zurückzubringen. Ein Ungeheuer verhielt sich anders.
»Chap!«, rief sie erneut.
Sie wankte über die Straße, blickte nach rechts und links in den Wald und rief immer wieder die Namen der anderen.
»Mutter …«, hörte sie eine Stimme. »Nein’a?«
Das war Leesil.
Wynn lief durch den Wald. »Warte auf mich!«, rief sie. »Ich komme zu dir!«
Ihr kurzer Umhang verhedderte sich an einem Dornbusch. Sie blieb stehen und riss ihn los. Als sie weiterhastete, sah sie etwas Helles in den Dunstmustern des Waldes: Leesils weißblondes Haar. Sie hielt direkt darauf zu.
Seine bernsteinfarbenen Augen glänzten noch immer so hell, dass sie fast blendeten, doch sein Blick war leer.
»Komm zu mir zurück, Leesil«, sagte Wynn und ächzte. »Bitte, ich brauche dich.«
Leesil rührte sich nicht. Wynn versuchte, ihn zu schütteln, aber sie konnte ihn kaum bewegen. Der Schal fehlte, und sein Haar steckte voller Fichtennadeln und Blätter.
»Zu spät …«, flüsterte er. »Oh, Magiere, wir haben uns zu viel Zeit gelassen. Sie starb … allein.«
Er weilte in einer anderen Welt. Wynn biss sich auf die Unterlippe und kämpfte gegen die Tränen an. Wie konnte sie ihn aus den Trugbildern holen, die ihn gefangen hielten, oder ihn wenigstens dazu bringen, sie zu erkennen?
Sie griff in die Tasche ihres Umhangs und berührte dort den Kristall der kalten Lampe. Wynn schloss die Hand darum, so fest, dass sich die Kanten des Kristalls in ihre Haut bohrten. Sie rieb ihn mit den Fingern, während sie ihn gleichzeitig umklammert hielt – er sollte so hell wie möglich leuchten.
»Sieh mich an«, sagte sie scharf. »Ich bin Wynn. Sieh mich an!«
Mit der freien Hand griff sie nach seinem Kinn, holte den Kristall hervor und hielt ihn direkt vor seine Augen. Das Licht war sehr intensiv.
Leesil zog den Kopf vor Wynns Hand zurück und packte ihre Handgelenke.
»Wynn?«, brachte er hervor und schnappte nach Luft. »Meine Mutter … sie ist tot. Ich bin zu spät gekommen.«
»Nein!« Wynn schloss die Hand um den Kristall, damit er nicht mehr ganz so hell leuchtete. »Es war nicht die Wirklichkeit. Vordana hat deine Gedanken manipuliert, und deine Ängste haben das Trugbild wachsen lassen. Magiere und Chap sind irgendwo dort draußen, und vielleicht ergeht es ihnen ebenso. Wir müssen sie finden, bevor ihnen etwas zustößt.«
Leesil sah sich auf der Lichtung um. »Magiere?«
Er ließ Wynn los und stand mühsam auf. Wynn erhob sich ebenfalls und rang, von Schwindel erfasst, mit Übelkeit.
»Wo?«, fragte Leesil.
»Zur Straße und zum Ort zurück. Kannst du irgendwie feststellen, wo sie sich befindet?«
Er zitterte noch immer, war jetzt aber wieder Leesil, und Wynn folgte ihm, als er durch den Wald eilte.
Chap lief durch ein sterbendes Land.
Bäume und Büsche starben vor seinen Augen, während Schatten durch den Wald strichen. Die Welt ging zugrunde, und es war seine Schuld. Geister wurden aus den Bäumen und dem Boden gerissen, und die wandelnden Schatten verschlangen sie.
Bei den toten Eichen und Fichten wurde Chap langsamer und sah in die Richtung zurück, aus der er kam. Dort lebte nichts mehr. Die Schemen kamen näher, angeführt von einer einzelnen Gestalt mit einem großen Schwert in der Hand. Sie trat vor.
Magiere trug eine Rüstung aus schwarzen Schuppen, wie die Haut einer Schlange. Ihr schmutziges Haar hing in verfilzten Strähnen herab. Das Gesicht war so bleich wie das von Parko, dem ersten Edlen Toten, den sie getötet hatte. Parko, im Leben und danach Bruder von Rashed, hatte sich auf dem Wilden Weg verloren und nur noch für die Ekstase der Jagd existiert. Magieres Augen zeigten nicht die für Untote typische Farblosigkeit, sondern waren schwarz, aber trotzdem sah Chap Parkos Wahnsinn in ihnen.
Sie erkannte ihn nicht mehr, brüllte und bleckte die langen, spitzen Zähne.
Hinter ihr vereinigten sich die Schatten zu einer Horde.
Von allen Seiten näherten sich Edle Tote. Bleiche Vampire mit langen Eckzähnen, die Finger wie Krallen. Phantome mit nicht mehr Substanz als Schatten; mal waren sie da, mal nicht. Zu der größer werdenden Schar gehörten auch zwei Àrdadesbàrn, Halbtote aus Wynns Heimat. Und Ghule aus den nördlichen Bergen des Sumanischen Reiches, gefährliche Dämonen, die sich von lebendem Fleisch ernährten.
Hinzu kamen Reste lebender Wesen vom Ende der letzten Epoche, dem Ende der Vergessenen Geschichte der Menschen. Schwerfällige Locatha, mehr reptilienartig als humanoid, und gedrungene Kobolde mit hyänenartigen Gesichtern und stechend starrenden gelben Augen.
Einige trugen zerrissene Kleidung oder erbeutete Rüstungsteile, und fast alle waren bewaffnet.
Sie alle sahen Magiere erwartungsvoll an.
Chap hatte sein ewiges Leben als Feenwesen geopfert und war Fleisch geworden, um eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Er wollte dafür sorgen, dass Magiere im Licht blieb, an Leesil gebunden, dass sie nicht in die Hände des Feindes fiel und den Zweck erfüllte, für den sie geschaffen worden war. Jetzt stand sie vor der Horde wie ein General vor seiner Armee.
Chap begriff, dass er versagt hatte.
»Majay-hì«, fauchte Magiere.
Chaps Kummer war so groß, dass er heulte.
Sie kannte ihn. Und sie war zu seiner Feindin geworden.
Magiere griff an, das Falchion zum Schlag erhoben. Hinter ihr stürmte die Horde los und tötete alles Lebende in ihrem Weg.
Chap stand apathisch da, unfähig dazu, sich zur Wehr zu setzen. Die Klinge kam nach unten, bohrte sich tief in Schulter und Hals …
Magieres von Gier gezeichnetes Gesicht verschwand – nicht aber der Schmerz.
Chap taumelte und blinzelte.
Magiere, ihre Horde und die tote Welt verschwanden.
Um ihn herum erstreckte sich der leere dröwinkanische Wald – im Süden war das Gutshaus mit seinem Anwesen zu erkennen. Etwas Feuchtes strich über Chaps rechtes Ohr. Er zuckte zurück und sah zwei trübe Augen, die ihn überrascht anstarrten.
Die Hündin namens Schatten jaulte leise, als sie ihn erneut anstieß. Seine Schulter schmerzte, und sie hatte Blut an der Schnauze. Sie leckte ihn, und Chap zuckte zusammen, als er Schmerz im Nacken spürte. Schatten hatte ihn gebissen und versuchte jetzt, die Wunde zu reinigen.
Er erinnerte sich an den schmutzigen Untoten im Ort, den Zauberer, und an etwas Scharfes, das wie ein Dorn durch sein Selbst gestochen hatte. Chap knurrte bei dieser Erinnerung und erwiderte Schattens Lecken.
Dieses einfache Geschöpf hatte ihn gefunden und in die Wirklichkeit zurückgeholt, ohne richtig zu verstehen, was mit ihm los gewesen war. Die Trugbilder blieben in seinem Gedächtnis, und er konnte ihr Gewicht auf seinem Geist nicht abschütteln.
Chap lief los, in Richtung Ort, und Schatten folgte ihm.
Magieres Kratzwunden brannten, als sie auf der Kreuzung im Ort stehen blieb. Vor dem inneren Auge sah sie Leesils Handgelenk, als er sich ihr angeboten hatte. Wo war er? Wo steckten Chap und Wynn? Wo befand sich das Geschöpf, gegen das sie gekämpft hatten?
»Leesil?«, rief sie. »Hörst du mich?«
Alles war still, und nur die Flammen in den Öltöpfen an den Dreibeinen bewegten sich. Magiere lief die Straße hoch, dorthin, wo der Kampf gegen Vordana stattgefunden hatte. Ihre Fackel und Leesils Klingen lagen auf dem Boden, und Magiere hob sie auf.
»Magiere!«
Sie wirbelte herum und sah Wynn über den Weg kommen, der zum Gut führte. Leesil begleitete sie.
Erleichterung durchströmte Magiere, als sie ihnen entgegenlief. Doch dann blieb sie stehen und erinnerte sich an den schrecklichen Moment, als Leesil sich ihr als Nahrung angeboten hatte. Sie fürchtete, ihm zu nahe zu kommen, streckte den Arm aus … und Wynn überraschte sie, indem sie ihn ergriff. Die junge Weise zögerte kurz und blinzelte zweimal.
»Sieh mich an!«, sagte Wynn scharf. »Was siehst du?«
»Frag mich nicht.«
Wynn schüttelte sie. »Es war alles ein Trugbild. Vordanas Zauber hat deine Gedanken gegen dich gerichtet. Verstehst du? Was auch immer du erlebt hast, es geschah nicht wirklich, nur in deiner Einbildung.«
Magiere musterte die junge Weise. Wynn schien völlig sicher zu sein, aber für sie gab es keine Gewissheit. Wenn das, was sie erlebt hatte, aus ihr selbst kam, so war nicht alles davon ein Trugbild.
Plötzlich schluckte Wynn, nahm die Hand von Magieres Arm und wandte sich ebenfalls ab. Leesil blickte über den Weg zum Wald.
»Ihm ist es ebenso ergangen wie dir«, sagte Wynn. »Und Chap ist noch dort draußen. Wir müssen ihn finden.«
Magiere griff nach Leesils Hand.
Für einen Moment blieb sie schlaff in der ihren, und Furcht erfasste Magiere, als er sie nicht ansah. Er schwieg, verzichtete sogar auf seine ärgerlichen Witzeleien, die er so oft zum falschen Zeitpunkt anbrachte. Was hatte er im Wald gesehen?
Schließlich drückte er ihre Hand, atmete tief durch und nahm seine Klingen von ihr entgegen.
»Wo ist das Ungeheuer?«, fragte er. »Wir dürfen nicht in unserer Wachsamkeit nachlassen.«
Magiere hörte jemanden laufen und ließ Leesils Hand los, bereit dazu, ihr Falchion zu ziehen. Doch es war nur Geza, der über die Hauptstraße auf sie zukam. Sein eigenes Schwert steckte in der Scheide, und sein blaugrauer Mantel wehte hinter ihm. Darunter kam eine Lederrüstung zum Vorschein.
»Ihr habt das Geschöpf vernichtet«, keuchte er. »Die Leute erwachen, und zum ersten Mal fühle ich nicht mehr die Mattigkeit, die mich sonst begleitete, wenn ich das Gut verließ.«
Magiere blickte die Straße hinauf und hinunter. »Wir haben nichts vernichtet.«
»Aber das muss der Fall sein. Fühlst du es nicht ebenfalls?«
Sie schüttelte den Kopf. Den besonderen Einfluss an diesem Ort hatte sie nie gespürt.
»Vielleicht«, sagte Leesil. »Aber ich bin zu müde, um sicher zu sein.«
»Ich habe Vordana besiegt«, flüsterte Wynn.
Alle Blicke richteten sich auf die junge Weise in ihrem schmutzigen Umhang. Ihr Zopf hatte sich gelöst, und das Haar hing ihr wirr ins Gesicht, als sie zu Boden starrte.
»Du?«, fragte Magiere. »Wie?«
Wynn blieb einen Moment still und hielt den Blick gesenkt.
»Als ihr weggelaufen seid, blieb ich allein zurück«, sagte sie. »Ich habe Vordana mit der Armbrust ins linke Auge geschossen und bin in die Schmiede geflohen. Dort fand er mich. Ich glaube, er wollte mit mir spielen. Ich riss ihm die Messingphiole vom Hals und warf sie in die glühenden Kohlen der Esse, wo sie schmolz und sich öffnete. Plötzlich gab es überall Rauch, und als er sich verzog, war Vordana weg.«
Magiere dachte über Wynns Worte nach und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Wynn. Es tut mir leid, dass wir dich mit dem Geschöpf allein gelassen haben. Bist du ganz sicher, dass es weg ist?«
Die junge Weise sah noch immer nicht auf. Magiere begriff, dass Wynn für eine Nacht ziemlich viel hinter sich hatte. Sie hätte gar nicht an dieser Reise teilnehmen sollen, aber wenn sie nicht mitgekommen wäre … Was wäre dann aus Leesil geworden und aus diesem Ort?
Als Wynn Magiere schließlich ansah, schreckte diese sofort zurück. Wynn verdrehte die Augen und presste sich die Hände an die Schläfen. Bevor jemand sie festhalten konnte, sank sie zu Boden. Leesil ging neben ihr in die Hocke.
»Was ist los mit ihr?«, fragte Geza.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Leesil, zog Wynn auf die Beine und stützte sie.
»Ich … sehe noch immer all die Essenzen«, stöhnte Wynn. »Bitte macht, dass es aufhört!«
»Oh, verdammt!«, entfuhr es Magiere. »Ihre Augen hatte ich ganz vergessen.«
»Wir sollten sie zum Gut bringen«, schlug Geza vor.
»Und dann?«, fragte Leesil. »Sie kann nicht noch mehr ertragen. Wir müssen dafür sorgen, dass es hier und jetzt aufhört.«
»Wie?«, entgegnete Magiere ein wenig zu scharf. »Nur sie weiß, was geschehen ist. Im Gutshaus können wir uns wenigstens um sie kümmern, bis sie imstande ist, sich selbst zu helfen.«
»Sie ist nicht die Einzige, die Bescheid weiß.« Leesils Stimme war leise und kalt. »Es gibt noch jemanden. Bleibt hier, wo ich euch finden kann. Oder kommt zu mir, wenn ihr mich rufen hört.«
Als Magiere die Arme um Wynns Schultern schlang, versuchte die junge Weise sofort, sich von ihr zu lösen. Leesil eilte bereits über den landeinwärts führenden Weg.
»Überprüf den Wald im Westen, Geza!«, rief er. »Wenn du unseren Hund siehst … Sag ihm, dass Wynn in Schwierigkeiten ist, und bring ihn hierher.«
»Wie bitte?«, fragte der Hauptmann verdutzt.
»Sag es ihm einfach!«, rief Leesil zurück. »Er wird es verstehen.«
Geza brach in die andere Richtung auf, und Magiere setzte sich auf die Straße und hielt Wynn fest. Die junge Weise brach in Tränen aus und verhielt sich so, als bereite ihr Magieres Nähe Schmerzen.
»Schluss damit, Wynn«, sagte Magiere. »Bleib einfach bei mir. Leesil sucht Chap, und wenn er mit ihm zurückkehrt, können wir dir helfen.«
Wynn drehte sich abrupt zur Seite, sprang auf und taumelte über die Straße.
»Bänder … Schatten in dir«, flüsterte sie. »Sie zerren an mir, an meinem Geist. Rühr mich nicht an.«
Sie wich zum nächsten Gebäude zurück und schlug die Hände vors Gesicht.
Magiere beobachtete sie und fragte sich, warum Wynn solche Angst vor ihr hatte.
Wynn hörte, wie Leesil aus weiter Ferne Magieres Namen rief, und jemand ergriff sie am Arm und zog sie mit sich.
Sie hielt die Augen geschlossen, um nicht erneut die schwarzen Bänder zu sehen, die sich durch Magiere wanden. Sie wusste, dass Magiere nur versuchte, ihr zu helfen, aber trotzdem setzte sie sich zur Wehr; sie konnte nicht anders. Sie wollte weg von ihr und sich irgendwo in der Finsternis verbergen, wo Magieres Essenz sie nicht finden konnte.
»Hör auf dich zu wehren, Wynn!«, sagte Magiere scharf. »Ich bringe dich zu Chap.«
»Magiere!«, rief Leesil. »Hier, auf der anderen Seite des Baches!«
Wynn schlug in Panik um sich, als sie hörte, wie Magieres Stiefel durchs Wasser platschten. Plötzlich drehte sich alles, und sie fiel auf festen Boden.
Der Geruch von Lehm stieg ihr in die Nase. Sie versuchte sich aufzusetzen und öffnete ganz langsam die Augen, aus Furcht davor, was sie sehen würde.
Durch den blauweißen Dunst, der zwischen Zweigen und Büschen ein feines Gespinst bildete, tanzte ein weißes Schimmern den Hang herab. Wynn grub ihre Finger in den Boden, bereit dazu, die Flucht zu ergreifen.
Leesils Haar wogte, als er auf sie zulief, und seine bernsteinfarbenen Augen leuchteten von innen. Neben ihm lief etwas auf vier Beinen. Die Hündin Schatten. Zwar verfügte sie über eine eigene Essenz, aber sie leuchtete nicht annähernd so hell wie die des Halbelfen an ihrer Seite.
Wo war Chap?
Leesil kam näher, hockte sich neben ihr nieder und warf einen Blick über die Schulter.
»Komm her, Chap!«
Erneut bemerkte Wynn Bewegung zwischen den Bäumen.
Zuerst war es nicht mehr als ein heller Fleck inmitten der Essenzen des Waldes, doch dieser Fleck leuchtete immer heller, als er sich näherte. Wynn hatte Chap während des Kampfes im Ort gesehen, und seine Präsenz war so stark gewesen wie die von Leesil. Doch jetzt war er ein Schimmern und Funkeln, so hell wie der Kristall einer kalten Lampe, und sein Licht gewann immer mehr an Intensität, als er über den Hang lief.
Seine Nähe ließ die Essenzen aller lebenden Dinge aufleuchten.
Wynn vergaß Schwindel, Übelkeit und alles andere, das ihre mantische Sicht zu einer Belastung machte.
Bei Chap sah sie keine blauweiße Wolke, die den Körper umhüllte. Er war ein Bild, eine Gestalt, hell und rein.
Sein Fell leuchtete schneeweiß, und jedes einzelne Haar darin glänzte wie Seide.
Er lief auf sie zu.
Bei der Gilde in ihrer Heimat hatte Wynn die Eigenschaften des Lichtes untersucht. Die anderen Schüler hängten am Fenster Kristalle an einer Schnur auf und beobachteten die an die Wände projizierten Farben. Wynn hatte in die Kristalle selbst gesehen, so wie sie jetzt in Chaps Augen sah.
Sie funkelten, als fingen sie das Licht der Sonne ein.
Sie fühlte keinen Wind, bemerkte aber erneut Bewegungen im Wald. Die blauweißen Essenzen der Bäume wogten und schienen zu fließen … in Chaps Richtung.
Weitere glühende Präsenzen wie die des Hundes erschienen in den Bäumen und auch im Boden, sogar in der Luft. Sie näherten sich Chap, versammelten sich über und unter ihm.
Wynn lehnte sich zurück und schloss die Augen, als das Leuchten zu grell wurde.
Sie spürte Chaps Atem im Gesicht und nahm das Licht durch die Lider wahr. Dann strich seine warme Zunge über ihre geschlossenen Augen, erst über das eine und dann über das andere.
Wynn legte die Hände auf den Boden und stützte sich ab, als sie zu stürzen glaubte. Das Gefühl ließ schnell nach, und daraufhin hob sie den Kopf und sah sich um.
Vor ihr stand Chap, mit silbergrauem Fell … und im Dunkeln kaum zu erkennen.
»Das ist alles?«, fragte Leesil. »Er besabbert sie ein bisschen, und damit hat es sich? Ist alles in Ordnung mit dir, Wynn?«
Er war nur eine Silhouette in der Dunkelheit. Sein weißblondes Haar fiel ihr auf – es glühte nicht mehr.
Wynn hätte am liebsten die Arme um Chap geschlungen, zögerte aber. Was sie beobachtet hatte, gab ihr zu denken. Die Feen waren Chaps Ruf gefolgt und bei ihm zusammengekommen, um bei ihrer Heilung zu helfen. Ein Teil ihres Staunens wich Ehrfurcht darüber, dass sie sich während der ganzen Reise in der Nähe eines solchen Geschöpfs befunden hatte.
Doch jetzt sah sie nur einen Hund, der sich die Schnauze leckte und mit einem müden Brummen auf den Boden sank.
Welstiel blieb hinter den Bäumen versteckt, als er Magiere und einen einigermaßen gut gekleideten Soldaten dabei beobachtete, wie sie Leesil und Wynn über die Straße zum Gut halfen. Der Majay-hì war bei ihnen, außerdem auch noch ein älterer Wolfshund. Er hörte nicht viel von Magieres Worten, doch sie sprach auf eine recht vertraute Weise mit dem Soldaten und nannte ihn einmal Hauptmann. Welstiels Ungeduld wuchs.
Die Traumherrin drängte ihn, Magiere zu folgen, aber viele Jahre lang hatte er im Schlaf auf jene schwarzen Schuppen gehört und war seinem Ziel doch nicht näher gekommen. Magieres Suche nach ihrer Vergangenheit hinderte ihn daran, dem Juwel seiner Träume auf die Spur zu kommen – und damit der Zukunft, die es verhieß.
Er begriff, warum Magiere an diesem Ort geblieben war. Es lag in ihrem Wesen, die Untoten zu jagen, wo auch immer sie sich befanden. Aber warum reiste sie tiefer in dieses Land und verweilte in einem Gebiet, in dem vielleicht gewisse Dinge auf sie warteten … und auf ihn? Als er beobachtete, wie Magiere und ihre Begleiter das Gut erreichten, beschloss Welstiel, nach Antworten zu suchen.
Sein Pferd war nicht mehr da, und so machte er sich zu Fuß auf den Rückweg dorthin, wo Chane das Zelt aufgebaut und getarnt hatte. Es überraschte ihn nicht, dort beide Pferde und auch seinen Reisegefährten anzutreffen. Chane saß vor dem Zelt auf dem Boden und wirkte recht wachsam. Er fütterte seine Ratte mit einer Handvoll Korn.
»Ich habe es für besser gehalten, die Pferde hierherzubringen, damit sie niemand sieht«, sagte er, als wäre überhaupt nichts geschehen.
Welstiel blickte auf ihn hinab. »Hast du den Helden gespielt und das Ungeheuer vernichtet, um deine holde Maid zu retten?«
In Chanes linkem Augenwinkel zuckte es. »Ja.«
Welstiel entschied, nicht auf Chanes Ungehorsam einzugehen – noch nicht. Magiere war in Sicherheit, und der Zauberer existierte nicht mehr; sie würde die Reise fortsetzen.
»Du hast natürlich darauf geachtet, dass Wynn dich nicht dabei sieht, oder?«
Chane zögerte. »Ich bin kein Narr.«
Welstiel trat zum Zelt. »Es ist gefährlich, Magiere so nahe zu sein. Der Kampf hat sie alle erschöpft, insbesondere Leesil und die junge Weise. Ich bezweifle, ob sie schon beim ersten Licht des Tages aufbrechen, aber bestimmt verlassen sie diesen Ort morgen. Wenn Magiere den Weg nach Osten fortsetzt, muss ich den Grund dafür herausfinden.«
Chane runzelte die Stirn. »Du weißt nicht, wohin sie will.«
»Nein. Nach dem Verlassen ihres Dorfes hätte sie sich nach Norden wenden oder zumindest dieses Land verlassen sollen.«
Welstiel bot ihm diese Worte an wie einem Hund einen Leckerbissen, in der Hoffnung, dass er Chanes Gedanken wieder auf ihr Ziel lenken konnte, ohne ihm zu viel zu verraten.
»Ich habe gesehen, wie sie mit einem Soldaten vom Gut gesprochen hat«, fügte er hinzu. »Vermutlich mit dem Hauptmann der dortigen Wache. Hast du jemals deinem Vater bei einem Verhör Gesellschaft geleistet?«
»Ja.«
»Manchmal habe ich auch meinem Vater dabei geholfen.«
»Natürlich hast du das«, sagte Chane bitter. »Eine weitere Sache, die wir gemeinsam haben.«
Welstiel lächelte fast.
Wynn hatte im Gutshaus ein Zimmer mit einem großen Bett und einer Daunendecke bekommen. Die ruhige Ungestörtheit und der kleine Luxus eines Fensters mit dicken Vorhängen, die die Kälte fernhielten, und eines Tisches, auf dem sie ihre Schreibsachen ablegen konnte, hätte ein Vergnügen oder wenigstens eine Erleichterung sein sollen.
Unter ihrem kurzen Umhang und dem Hemd trug sie ein weißes Baumwollunterhemd. Seit Beginn der Reise hatte sie keine Gelegenheit bekommen, allein in diesem Unterhemd zu schlafen. Die Nächte waren zu kalt, und außerdem scheute sie davor zurück, sich in der Nähe anderer Personen zu entkleiden. Dass sie jetzt dazu imstande war, für diese eine Nacht, hätte ebenfalls sehr angenehm sein sollen.
Doch sie freute sich nicht.
Sie rieb auch nicht den Kristall in der kalten Lampe auf dem Nachtschränkchen. Stattdessen schloss sie die Tür, kroch unter die Daunendecke und sah sich im Zimmer um, das im Licht der einen Kerze beruhigend normal wirkte.
Sie hatte Magiere, Leesil und alle anderen belogen und Anspruch auf ein Verdienst erhoben, das ihr gar nicht zukam. Um Chane zu schützen und Magiere zu verschweigen, dass er ihnen gefolgt war.
Jemand klopfte an die Tür, doch Wynn wollte niemanden sehen.
»Ich bin’s«, erklang Magieres Stimme. »Darf ich reinkommen?«
»Natürlich«, sagte Wynn, obwohl es ihr eigentlich nicht recht war. Sie griff nach der kalten Lampe, hob ihr Glas und rieb den Kristall, ohne ihn aus der Lampe zu nehmen. Er leuchtete auf und erhellte das Zimmer. Als sie das Glas wieder auf die Lampe setzte, öffnete sich die Tür, und Magiere kam herein.
Ihr Haar war ungekämmt, und sie trug nur ihr weißes Hemd und die schwarze Hose. Einige Kratzer in ihrem Gesicht waren angeschwollen.
»Hast du noch etwas von deiner Heilsalbe?«, fragte sie.
Noch mehr Schuldgefühle. Wynn hätte wenigstens die Wunden ihrer Gefährten behandeln sollen, bevor sie sich verkroch.
»Ja. Entschuldige bitte. Daran hätte ich selbst denken sollen. Die Salbe befindet sich in der Seitentasche meines Rucksacks.«
Magiere schüttelte den Kopf. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wir sind alle müde.«
Wynn holte die kleine Büchse mit der Salbe hervor, außerdem auch noch eine Haarbürste. Schuldgefühle verdrängten das Unbehagen angesichts von Magieres Präsenz.
»Ich kämme dir das Haar, wenn du möchtest. Es steckt voller Kletten.«
ySie liebte die Beschäftigung mit Wissen. Nichts machte sie glücklicher als das Sammeln neuer Erkenntnisse, aber wie sollte sie diese Angelegenheit mit kühler, distanzierter Objektivität dokumentieren? Die dunkle und tote Hälfte von Magiere erschreckte sie ebenso sehr wie ihre geheimnisvolle, blutige Vergangenheit.
Magiere sah auf die Bürste und schien ablehnen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders und seufzte. »Ja, danke.«
Wynn goss Wasser aus einer Kanne in eine Porzellanschale auf dem Tisch. Daneben lag ein zusammengefaltetes Handtuch, und Wynn tupfte die eine Ecke ins Wasser. Sie setzte sich neben Magiere auf die Bettkante und versuchte, die Hand möglichst ruhig zu halten, als sie Magieres Kratzer säuberte und anschließend Salbe auftrug, die nicht nur die Heilung beschleunigte, sondern auch den Schmerz linderte.
»Schon besser«, sagte Magiere.
Wynn rutschte hinter Magiere und begann damit, ihr langes schwarzes Haar zu bürsten.
»Wie geht es Leesil?«, fragte sie.
»Er schläft. Ich glaube, er ist so weit in Ordnung. Vordana hat ihm beim Kampf offenbar nicht allzu viel Kraft genommen, aber ganz sicher sein können wir nicht. Ich werde darauf achten, dass er morgen früh ordentlich isst.«
Wynn hörte auf zu bürsten und löste vorsichtig eine Klette.
»Du hast wundervolles Haar«, sagte sie, obwohl die Strähnen sie an die schwarzen Bänder in Magieres Essenz erinnerten. »Hat Leesil dir gesagt, was er im Wald gesehen hat?«
Magiere drehte sich um, und Wynn zog die Hände etwas zu schnell zurück. Sie faltete sie im Schoß, beide um die Bürste geschlossen.
»Nein«, antwortete Magiere. »Hat er es dir gesagt?«
»Er sprach zusammenhanglos, wie du, aber ich glaube, er hat seine Mutter gesehen … tot. Er sagte, wir wären zu spät gekommen und sie sei tot.«
Magiere schloss die Augen. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass mich Vordana mit den Trugbildern täuschte. Ich hätte ihn sofort köpfen sollen. Leesil … Er hat viel ertragen müssen, und die Reise hierher war nicht einmal seine Idee.«
Magiere schwieg einige Sekunden, und als sie erneut sprach, erklangen Worte, die Wynn nicht hören wollte.
»Was hast du heute Abend gesehen? Was hast du in mir gesehen, das dich so erschreckt, dir sogar wehgetan hat?«
Wynns Mund war plötzlich trocken. »Du hast mir nicht wehgetan, Magiere. Ich …« Sie stockte.
»Sag es mir. Wenn du etwas weißt … Bitte, sag es mir.«
»Es ist nichts, was ich weiß«, sagte Wynn und versuchte es zu erklären. »Nur was ich gesehen und … gefühlt habe.«
Magiere wartete.
Wynn gab nach und erzählte Magiere von den schwarzen Bändern, die sich durch ihren Geist wanden. Die bleiche Frau reagierte kaum und ließ ihren Blick durch den Raum wandern, ohne Wynn anzusehen. Vielleicht hatte sie sich als Teil der dunklen Welt akzeptiert. Wynn berichtete ihr auch von Chap und wies darauf hin, dass er beim zweiten Mal in ihrer mantischen Sicht nicht aus zwei überlagerten Bildern bestanden hatte wie alles andere, sondern eine strahlende Präsenz gewesen war. Sie fügte hinzu, dass Leesils Augen in der Geistwelt ebenso geleuchtet hatten.
»Ich wünschte, ich könnte ihn auch einmal so sehen, wie du ihn gesehen hast«, sagte Magiere, und ihre Züge wurden weich. »Eigentlich bin ich gar nicht wegen der Salbe zu dir gekommen. Ich wollte … mich für das entschuldigen, was ich dir in Bela gesagt habe, als du darauf bestanden hast, uns zu begleiten. Ich dachte, du würdest im Weg sein, aber dein Wissen und deine Kenntnisse haben sich als sehr nützlich erwiesen, nicht nur im Umgang mit Chap. Leesil, ich und auch Chap … heute Abend sind wir überlistet worden. Ohne dich wären wir vielleicht nicht mit dem Leben davongekommen. Die Bewohner des Ortes werden mich für die Retterin halten und etwas anderes gar nicht verstehen können. Deshalb wollte ich dir dies jetzt sagen und dir danken.«
Die Worte waren so untypisch für Magiere, dass sich neue Schuldgefühle in Wynn regten. Was auch immer sie über Magieres Wesen herausgefunden hatte und noch herausfinden würde: Ihr selbst blieb in dieser Hinsicht keine Wahl. Magiere versuchte, ein Leben jenseits von dem zu führen, das ihr aufgezwungen war. Und jetzt saß sie hier und dankte Wynn, der Lügnerin und Beobachterin.
Wynn hatte für Chane gelogen. Die Lüge jetzt zuzugeben … Anschließend gab es kein Zurück mehr. Die Wahrheit hätte sie Magieres Vertrauen gekostet – und Chane vermutlich den Kopf.
»Lass mich dein Haar zu Ende bürsten«, sagte Wynn leise. »Und dann sollten wir beide schlafen.«
Magiere drehte sich wieder nach vorn, und Wynn entfernte die Kletten aus ihrem Haar.
»Und Wynn …«, sagte Magiere auf ihre abrupte Art. »Keine Magie mehr für dich.«
Wynn seufzte und nickte. »Einverstanden.«