7
Tante Bieja weckte sie vor Sonnenaufgang, und sie packten rasch ihre Sachen zusammen, um das Dorf zu verlassen, bevor die Bewohner auf den Beinen waren und sie sahen. Magiere schwieg die meiste Zeit über, sagte nur einige wenige Worte, als sie sich von ihrer Tante verabschiedete. Voller Sorge beobachtete sie Bieja, als die ältere Frau und Wynn sich gegenseitig Beutel mit Kräutern schenkten. Leesil stand weiter hinten bei seinem Pony.
Am vergangenen Abend hatte sich Leesil darüber gewundert, dass Tante Bieja kaum reagierte, als er von dem Bergfried und dem Friedhof erzählte, ohne zu erwähnen, warum er Magiere gefolgt war. Bieja hatte die Veränderung ihrer Nichte durchaus bemerkt, traurig geschwiegen und nur gelegentlich genickt, während Leesil von den Ereignissen berichtete.
Als sie auf die Ponys steigen wollten, kam Bieja zu ihm.
»Gib gut auf dich Acht«, sagte sie leise und nickte in Richtung Magiere und Wynn. »Du brauchst Weisheit, um das Gleichgewicht zu wahren zwischen Instinkt und Wissen.«
Leesil freute sich darüber, dass er so schnell die Gunst von Magieres einziger lebenden Verwandten erlangt hatte. Gleichzeitig bildete sich ein Kloß in seinem Hals.
»Du musst nicht hier bleiben, in diesem Dorf«, sagte er. »Du kannst zu uns nach Miiska kommen.«
Biejas Gesicht wurde so dunkel wie der Himmel über Dröwinka. »Dies ist meine Heimat, ob es mir gefällt oder nicht.«
»Bitte denk darüber nach«, sagte Leesil.
Er stellte einen Fuß in den Steigbügel, schwang sich in den Sattel und sah auf die ältere Frau hinab. Trotz der Dickleibigkeit und ihrer dunkleren Haut ähnelte ihr Gesicht dem Magieres.
»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, versprach sie.
»Und zwar gründlich«, sagte Leesil und reichte ihr ein zusammengefaltetes Stück Papier. »Sonst kehren wir zurück und machen dir noch mehr Scherereien.«
Bieja runzelte verwirrt die Stirn und nahm das Stück Papier entgegen.
Leesil hatte, während die anderen noch schliefen, hinten in Wynns Tagebuch ein Blatt herausgerissen, einen kurzen Brief an Karlin und Caleb in Miiska geschrieben und ihm sechs Silbertaler hinzugefügt – Reisegeld für Bieja. Er hoffte, dass sie sich dazu durchrang, nach Miiska zu kommen.
»Wenn du beschließt, zu uns zu kommen, so frag in Miiska nach Karlin oder Caleb und zeig ihnen diesen Brief«, sagte Leesil. »Beide sollten mein Gekritzel erkennen – es teilt ihnen mit, dass du Magieres Tante bist. Sie werden dich im ›Seelöwen‹ unterbringen. Und mit Wohltätigkeit und dergleichen hat dies nichts zu tun. Caleb könnte deine Hilfe brauchen.«
Tante Bieja schaute erneut auf den Brief hinab. Sie steckte ihn in die Tasche ihrer Schürze, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie Leesil aufs Bein klopfte.
»Pass auf meine Nichte auf«, sagte sie.
Und dann begann der nächste Teil ihrer Reise.
Drei Tage später atmete Leesil erleichtert auf, als sie wieder den Wudrask vor sich sahen. Er dachte noch einmal an die Ereignisse in Magieres Dorf zurück, von den Entdeckungen im Opferraum des Bergfrieds bis hin zu der Erkenntnis, wie einsam Magiere als Kind gewesen war. Sechzehn Jahre lang war sie gemieden und verachtet worden, doch während dieser langen Zeit hatte es eine Person gegeben, die ihr mit wahrer Liebe begegnete und bereit war, sie ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Leesil fragte sich, ob seine Eltern ihn geliebt und jemals in Erwägung gezogen hatten, ihm Gelegenheit zu geben, seinen Lebensweg selbst zu bestimmen.
Ein Teil von ihm wünschte sich, dass es leichter gewesen wäre, mit Magiere über diese Dinge zu reden. Zwar waren sie sich viel näher gekommen, aber sie hatten Jahre damit verbracht, Gesprächen über ihre Vergangenheit auszuweichen, und solche Angewohnheiten ließen sich nur schwer überwinden.
Spät am Nachmittag erreichten sie ein Dorf am Wudrask. Sie gingen an Bord eines Schleppkahns, der sie nach Osten bringen sollte, nach Kéonsk, der Hauptstadt von Dröwinka. Den Mantel über dem Arm und den Schal um den Kopf geschlungen, stand Leesil am Flussufer und spürte Wind im Gesicht, als er über die träge dahinströmenden Fluten des Wudrask sah.
Drüben bei der Anlegestelle feilschte Magiere mit zwei Männern von einer Karawane und versuchte, die Ponys zu verkaufen. Ihre Wangen leuchteten weiß unter dem bedeckten Himmel. Als die Sonne durch eine Lücke zwischen den Wolken schien, glitzerte es hier und dort rot in ihrem Haar. Beide Männer schwiegen plötzlich und gafften. Selbst Leesil hielt unwillkürlich den Atem an, aber nicht aus dem gleichen Grund.
Magiere wirkte wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt. Sie war zu schön, schuf damit einen zu krassen Kontrast. Mit gerunzelter Stirn sah sie die beiden Männer an, als Leesil näher kam.
»Ich habe vier Silbertaler für ein Pony bezahlt«, sagte Magiere. »Und sie bieten mir fünf für alle zusammen.«
Leesil musterte die beiden Männer mit den faltigen Gesichtern und berechnend blickenden Augen, und er fragte sich, ob sie Brüder waren. »Es geht uns nicht um Gewinn«, sagte er. »Wir möchten nur einen fairen Preis erzielen.«
»Es ist nicht unsere Schuld, dass sie zu viel für die Tiere bezahlt hat«, erwiderte einer der beiden Männer.
Leesil sah Magiere an. Der Verkauf der Halskette in Bela hatte ihnen genug Geld eingebracht, aber Magiere wollte sich nicht übers Ohr hauen lassen.
Sie einigten sich schließlich auf einen Preis von sieben Silbertalern für die Ponys und den Packesel. Magiere war nicht sehr zufrieden damit, doch der Schleppkahn löste die Leinen. Leesil zog sie mit sich, nachdem er das letzte Angebot der beiden Männer angenommen hatte, und kurze Zeit später, als der Kahn auf dem Fluss unterwegs war, machte er es sich mit Magiere unter der Decke gemütlich. Sie war noch immer verärgert.
»Ich bin kein Geizhals«, sagte sie, obwohl er keinen solchen Vorwurf gegen sie erhoben hatte. »Aber das war praktisch Raub.« Sie schlang ihm unter der Decke die Hände ums Knie.
Wynn saß mit überkreuzten Beinen auf der anderen Seite von Leesil. Sie sah gesünder aus, nachdem sie zwei Nächte mit einem Dach über dem Kopf verbracht und Biejas Linsensuppe gegessen hatte. Mit ihrer Stimmung allerdings stand es nicht zum Besten, obwohl sie nicht ganz so verschlossen wirkte wie Chap. Das Leder mit den Zeichen und Symbolen lag vor ihm, doch der Hund zeigte kein Interesse daran. Nach all den Tagen auf dem Rücken des Ponys war das flache Deck eine so willkommene Abwechslung für Leesil, dass er Chaps seltsames Verhalten einfach zur Kenntnis nahm, ohne sich groß Sorgen zu machen.
Leesil dachte an seine Mutter und hoffte, dass sie noch lebte. Dieser Wunsch war so groß, dass er Magieres Verzweiflung angesichts der Entdeckung ihrer Vergangenheit noch besser verstand. Er erfüllte ihn auch mit Unruhe: Alles in ihm drängte danach, so schnell wie möglich nach Norden zu reisen und feststellen, was mit Nein’a geschehen war. Doch der bessere Teil von ihm wollte um Magieres willen trotzdem nichts unversucht lassen, und deshalb setzten sie die Reise nach Osten fort, tiefer nach Dröwinka hinein.
Straßen führten an beiden Ufern entlang. Der Schleppkahn wurde von einem Ochsengespann am südlichen Ufer gezogen, bis schließlich der Abend dämmerte. Sie hatten eigentlich an Bord schlafen wollen, aber als es dunkel wurde, legte der Kahn bei einer Siedlung an, die groß genug war, um als kleine Stadt durchzugehen.
Die Bäume in der Nähe wirkten für dieses feuchte Land zu verkümmert. Ihnen fehlte das üppige Grün, obwohl es noch eine Weile bis zum Winter dauerte. Ansammlungen von Hütten erstreckten sich rechts und links von der Anlegestelle, und es gab auch größere Gebäude, am Flussufer und in der Ortsmitte. An der Straße, die im Westen aus der Siedlung hinausführte, gab es einen Stall mit einer Schmiede. Unweit davon bemerkte Leesil ein großes, hell erleuchtetes Gebäude.
»Ist das eine Taverne oder ein Gemeinschaftshaus?«, fragte er einen der Männer vom Kahn und fügte an Wynn gerichtet hinzu: »Vielleicht müssen wir nicht unter freiem Himmel schlafen.«
Wynn blickte erwartungsvoll hoch und richtete einige elfische Worte an Chap. Der junge Kahnführer wandte sich an Leesil.
»Das ist Pudúrlatsat«, sagte er. »Wir machen hier regelmäßig halt. Es ist ein seltsamer Ort. Wenn seine Bewohner Fracht für uns haben, bringen sie sie morgen früh hierher.«
»Was meinst du mit seltsam?«, fragte Magiere. »Wenn hier Handel getrieben wird, könnten wir versuchen, unsere Vorräte zu erneuern.«
Der Kahnführer zuckte die Schultern. »Wie du willst. Aber für meinen Geschmack ist es hier zu düster, selbst wenn wir mittags anlegen.«
Leesil wölbte eine Braue, sah dann Magiere und Wynn an.
»Ich schlafe lieber drinnen, wenn es möglich ist«, sagte die junge Weise.
Magiere legte die Decke zusammen und nahm ihr Falchion. »Mal sehen, was die Leute hier anzubieten haben. Im Dorf meiner Tante konnten wir nichts einkaufen.«
Leesil nahm seine Klingen und schloss den Mantel, damit man sie nicht sah. Er rechnete nicht damit, dass er sie brauchte, aber er wollte auf Nummer sicher gehen. Neugierig beobachtete er den Ort, als sie über die Anlegestelle gingen und dann dem Verlauf des den Hang hinaufführenden Weges folgten.
Kurze Zeit später näherten sie sich dem Zentrum der kleinen Stadt und mussten feststellen, dass die Straßenbeleuchtung zu wünschen übrig ließ. Wo der Weg von der Anlegestelle die Hauptstraße kreuzte, hingen an allen vier Ecken mit Öl gefüllte Töpfe an Dreibeinen. Wynn ging einen Schritt vor Leesil, hielt den aus einer kalten Lampe stammenden Kristall in der Hand und leuchtete damit.
Chap knurrte leise und lief voraus.
Ein großer Wolfshund kam um die nächste Ecke und spähte hinter dem dortigen Dreibein hervor. Er erwiderte das Knurren nicht.
Das Tier war dürr, und die Augen lagen tief in den Höhlen – es schien recht alt zu sein. Langsam näherte es sich Chap, der anderen Hunden gegenüber unterschiedliche Reaktionen zeigte. Manchmal war er freundlich, und bei anderen Gelegenheiten griff er ohne Vorwarnung an. Leesil wusste nicht, was geschehen würde. Diesmal schnüffelte Chap, nahm die Witterung des Neuankömmlings auf und jaulte leise.
»Ich glaube, wir sollten zum Schleppkahn zurückkehren«, sagte Wynn.
Leesil fühlte sich von einer sonderbaren Mattigkeit erfasst, für die er keine Erklärung hatte. Er schüttelte sie ab und trat dem Wolfshund entgegen. »Lasst uns wenigstens nachsehen, ob es hier ein Gasthaus gibt.«
Als sie über die Hauptstraße des Ortes gingen, sah Leesil Schilder, die auf die Werkstätten eines Gerbers und eines Holzschnitzers hinwiesen. Einige Leute waren unterwegs. Die meisten schienen alt oder in mittleren Jahren zu sein, und sie gingen langsam, wie erschöpft. Leesil wollte sich in Richtung des großen, hell erleuchteten Gebäudes wenden, das sie beim Anlegen gesehen hatten, als er merkte, dass Magiere nicht mehr an seiner Seite war. Sie stand auf der anderen Seite der Kreuzung und schaute von dort aus über die Hauptstraße.
»Was ist?«, fragte er, trat zu ihr und bemerkte die Sorge in ihrem Gesicht.
»Ich bin … schon gut«, sagte sie. »Hier ist es ein bisschen trist im Vergleich mit Miiska.«
»Und das hast du ganz allein herausgefunden?«, spöttelte Leesil. »Wie bist du darauf gekommen?«
Erstaunlicherweise verzichtete Magiere auf eine scharfe Antwort – sie drehte sich nur um und ging stumm die Straße hoch. Leesil seufzte, folgte ihr und bedeutete Wynn mit einem Wink, dass sie erneut mit dem Kristall vorausgehen sollte.
Mehrere Dorfbewohner blieben stehen, als sie vorbeikamen, aber niemand von ihnen schien besonderes Interesse zu haben. Im Gesicht eines Mannes, der einen über die Schulter geworfenen Leinensack trug, zeigte sich müde Neugier. Leesil sah zu ihm zurück, denn er bewegte sich zu langsam für sein Alter, als bereitete ihm das Gehen Mühe. Mit gesenktem Kopf stapfte er dahin.
Sie setzten den Weg fort, und die Gebäude um sie herum wichen kleinen Hütten. Von vorn kam der Geruch der Schmiede.
»Können wir euch helfen?«, ertönte es links von ihnen.
Leesil senkte die Hand zur Klinge an seinem Oberschenkel. Magiere drehte sich zur Seite, und Chap kehrte zurück.
Ein gedrungener Mann näherte sich, gekleidet in eine Lederrüstung, mit einem Schwert an der Hüfte. Im Glühen von Wynns Kristall sah Leesil hellbraune, wach blickende Augen und sandfarbenes Haar mit einigen grauen Strähnen. Begleitet wurde er von einer zierlichen jungen Dame, die so hübsch war, dass Leesil verblüfft blinzelte.
Ihr Haar war nicht matt und strähnig wie das des Mannes, sondern reichte lockig und gelb wie Weizen den Rücken hinab. Die Augen, groß und rund über einer kleinen Nase, hatten im Licht des Kristalls fast den Glanz von Gold. Ihr Kleid wirkte nicht so schäbig und schmutzig wie die Kleidung der anderen Dorfbewohner und hatte die Farbe einer Sonnenblume.
»Wir sind mit dem Kahn gekommen und hoffen, für heute Nacht ein Dach über dem Kopf zu finden«, sagte Magiere. »Gibt es hier ein Gasthaus?«
Der Mann antwortete nicht sofort, und sein Blick glitt zum Falchion, das sich unter Magieres Mantel zeigte. »Ich bin Geza, Hauptmann der Wache meines Herrn«, sagte er. »Dies ist meine Tochter Elena. Das Gasthaus hat vor einer Weile geschlossen, aber ihr könnt in dem alten Gemeinschaftshaus unterkommen.«
Er deutete zum hell erleuchteten Gebäude, das Leesils Ziel war.
»Das Gasthaus hat geschlossen?«, fragte Leesil. »Obwohl es an einem der wichtigsten Wege zur Hauptstadt liegt?«
»Der Wirt starb ohne Nachfolger«, antwortete Geza.
Elena trat einen Schritt näher und betrachtete sowohl Magieres Falchion als auch ihr Knochenamulett. Dann sah sie Wynn und Leesil an und lächelte.
»Ihr seid willkommen«, sagte sie. »Vater und ich wohnen in der Nähe des Gutes, und ich begleite ihn oft auf seinen Runden. Wenn ihr euch im Gemeinschaftshaus einquartieren wollt, so bin ich gern bereit, euch dabei zu helfen. Es wird eigentlich nur noch für unsere Versammlungen benutzt. Bringt euren Hund mit; ich sorge dafür, dass ihr ein Abendessen bekommt.«
»Wir können bezahlen«, sagte Magiere.
»Natürlich«, erwiderte Elena.
Sie ging voraus. Geza folgte ihnen und beobachtete alle, denen sie unterwegs begegneten. In diesem Teil des Ortes waren noch weniger Menschen unterwegs, und es drang kaum Licht durch Fugen und Ritzen in den geschlossenen Fensterläden. Chap blieb einmal stehen, hob den Kopf und spitzte die Ohren.
Neben einer großen Holzhütte mit Schindeldach gab es einen Pferch aus zusammengebundenen Zweigen und Ästen. Drei magere Ziegen befanden sich darin und standen völlig still; sie scharrten nicht einmal mit den Hufen, als Chap näher kam. Leesil stellte fest, dass ihnen der große Wolfshund folgte, hinter Chap und an Gezas Seite.
»Das ist Schatten«, sagte der Hauptmann und ging an ihnen vorbei, um die Tür des Gemeinschaftshauses zu öffnen. »Sie ist ein guter Hund, eine ausgezeichnete Jägerin.«
Leesil tätschelte Schattens Kopf, und der Wolfshund betrat das Gemeinschaftshaus vor allen anderen. Wynn folgte mit Chap, doch Leesil drehte sich um. Die Straße zurück zur Stadt war leer. Der Mann auf dem Kahn hatte den Ort düster genannt, und das war ein strenges Urteil von jemandem, der in Dröwinka lebte.
»Ich hasse dieses Land«, murmelte Leesil. »Es ist bedrückend und beklemmend, wohin man sich auch wendet.«
»Hast du das ganz allein herausgefunden?«, erwiderte Magiere. »Wie bist du darauf gekommen?«
Leesil überhörte den Spott. Hier ging irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu. Abgesehen von Elena hatte er keine jungen Leute gesehen. Es gab nur magere alte Ziegen, magere alte Hunde und magere alte Leute.
»Komm herein«, sagte Magiere. »Morgen früh setzen wir die Reise fort.«
Leesil kam ihrer Aufforderung nach, dachte aber noch immer an den langsam dahinstapfenden Mann mit dem Leinensack und dem halb verborgenen Gesicht. Mit jenem Gesicht hatte etwas nicht gestimmt. Wie bei Geza war es nicht alt genug gewesen für die Person, die es trug.
Spät in der Nacht lag Chap mit der Schnauze auf den Pfoten da, den Blick auf die Tür des Gemeinschaftshauses gerichtet, das eigentlich nur aus einem großen Raum mit einer einfachen Küche und einigen Tischen und Bänken bestand. Im großen steinernen Kamin knackten und knisterten die Reste des Feuers.
Magiere und Leesil hatten ihre Schlafsäcke Seite an Seite gelegt und schliefen an der gegenüberliegenden Wand. Magiere hatte ein Bein über Leesils Beine gelegt, und ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Wynn lag hinter Chap unter ihrer eigenen Decke, und Schatten hatte sich neben Chap gelegt.
Chap verbrachte zum ersten Mal Zeit in der Nähe eines anderen Tieres. Schatten öffnete gelegentlich die Augen, und er leckte ihren Kopf und ließ sie mit seinen Erinnerungen an warme Kamine, weite Felder und Hammelfleisch einschlafen. Doch er selbst schloss nicht die Augen.
Seit sie sich in dieser kleinen Stadt befanden, ließ ihn ein Unbehagen, das sich irgendwie vertraut anfühlte, nicht zur Ruhe kommen. Seine Haut prickelte, und er war nervös. Er spürte nicht das Loch in der Welt, das er wahrnahm, wenn er seine Aufmerksamkeit auf einen Untoten richtete, aber es war ein ähnliches Gefühl. Hinzu kam Schatten: Sie war nicht so alt, wie sie zu sein schien, und doch schwand ihre Essenz auf eine Weise, wie es erst spät im Leben der Fall sein sollte.
Und so lag er mit offenen Augen da und beobachtete die Tür.
Lange nach Mitternacht öffnete sie sich mit einem leisen Knarren.
Chap hob ein wenig den Kopf, zog die Hinterbeine an und machte sich zum Sprung bereit.
Schattens Kopf kam ebenfalls nach oben, aber Chap spürte keine Sorge bei ihr, sondern schwache Freude, als sie sich auf die Beine mühte. Sie wedelte langsam mit dem Schwanz und trat vor ihn. Damit hatte Chap nicht gerechnet, und er versuchte, sich an ihr vorbeizuschieben. Etwas Gelbes im Dunkeln weckte seine Aufmerksamkeit, und Elena in ihrem Sonnenblumenkleid schlüpfte durch die Tür.
Bei dem Mädchen nahm er nur Kummer wahr.
Schatten lief zu Elena und wedelte stärker mit dem Schwanz – ihr ganzes Hinterteil bewegte sich. Das Mädchen ging in die Hocke, und der Wolfshund leckte ihr das Gesicht. Chap näherte sich und sah direkt in Elenas Augen.
»Hilf uns«, flüsterte sie.
Elena hielt ihn nur für einen Hund, und doch bat sie ihn um Hilfe.
Chap lief zu Magiere und weckte sie.
Etwas Feuchtes berührte Magieres Gesicht.
Sie hob die Hand, um es fortzustoßen, öffnete ein Auge und starrte auf Chaps Schnauze. Er grollte leise, und seine Zunge strich ihr erneut über die Wange.
»Hör auf damit«, murmelte Magiere und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab.
Dann wandte sie sich wieder dem Hund zu, mit geschärften Sinnen.
Chap würde sie nie ohne Grund wecken.
»Leesil, wach auf«, hauchte sie.
Neben Chap stand der große Wolfshund namens Schatten, und daneben war Elena in die Hocke gegangen. Schmutz vom staubigen Boden hatte hier und dort Flecken an ihrem Kleid gebildet, und die ruhige Freundlichkeit des Mädchens war deutlicher Anspannung gewichen.
Leesil setzte sich neben Magiere auf. Die leisen Geräusche hatten auch Wynn geweckt – sie schob ihre Decke beiseite und rieb sich die Augen.
»Du bist die Jägerin«, flüsterte Elena. »Jene, die Untote bekämpft?«
Magiere spürte, wie die Wärme aus ihr wich. Niemand, dem sie bisher auf ihrer Reise begegnet waren, hatte Dinge erwähnt, die mit den alten Gerüchten in Verbindung standen. Vom Aberglauben einfacher Leute hatte Magiere genug.
»Hilf uns«, sagte Elena. »Bitte.«
»Warum glaubst du, meine Hilfe zu benötigen?«, fragte Magiere, und eine gewisse Schärfe lag dabei in ihrer Stimme.
Elena wich zurück. »Mein Herr schickt mich. Ich soll dich zum Gut bringen, damit er dort mit dir reden kann. Bitte hilf ihm. Er wird bezahlen, was immer du verlangst.«
»Morgen fahren wir mit dem Kahn nach Kéonsk weiter«, erwiderte Magiere. »Wir haben keine Zeit.«
Zwei Tränen rannen über Elenas Wangen. »Sprich nur mit ihm. Um mehr bitte ich dich nicht.«
»Jetzt?«, fragte Leesil.
»Er wartet. Er möchte in den Bewohnern dieses Ortes keine falschen Hoffnungen wecken, und deshalb soll dies geheim bleiben.«
Chap bellte einmal, lief zur Tür, sah von dort aus zurück und knurrte leise.
»Oh, er will was tun«, brummte Leesil. »Seit wir Bela verlassen haben, druckst er immer nur herum, und jetzt möchte er, dass wir das Mädchen begleiten.«
»Er glaubt, dass es etwas zu jagen gibt«, flüsterte Magiere.
Sie sah Leesil an, der zwar hellwach war, aber ausgezehrt und erschöpft wirkte. Seit fast einem Mond schliefen sie zusammen, und nur einige wenige Male war sie des Nachts erwacht und hatte gehört, wie er im Schlaf murmelte, vielleicht in einem Albtraum gefangen. Bei solchen Gelegenheiten hatte sie ihn sanft geweckt und in ihren Armen gehalten, bis er wieder einschlief. In dieser Nacht war das nicht geschehen, und doch schien er überhaupt nicht geschlafen zu haben. Wynn stand auf und schwankte.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Magiere.
Die junge Weise rieb sich erneut die Augen. »Ich bin … nur müde.«
Magiere nahm Stiefel und Schwert. »Was geht hier vor, Elena?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht alles. Ihr müsst mit dem Herrn sprechen.«
Magiere bedauerte, nicht auf den Kahnführer gehört zu haben; es wäre besser gewesen, an Bord zu übernachten.
»Na schön«, sagte Leesil. »Gib uns einen Moment.«
Er trat in seine Stiefel und legte die Scheiden mit den Klingen an. Als er den Mantel überstreifte, beobachtete Magiere, wie er das Topasamulett hervorholte, das sie ihm gegeben hatte. Er ließ es ganz offen am Hals hängen.
»Wynn, nimm das Leder mit den Symbolen für Chap mit«, sagte Leesil.
Kurze Zeit später eilten sie durch die Nacht. Magiere übernahm die Führung, das Falchion in der Hand, und Chap lief neben ihr. Elena und Wynn folgten, der Wolfshund zwischen ihnen. Leesil bildete den Abschluss.
»Wie weit ist es bis zum Gut des Lehnsherrn?«, fragte Magiere.
»Es ist nur ein kleines Stück entfernt«, antwortete Elena. »Es lässt sich leicht zu Fuß erreichen.«
Als sie an die Kreuzung mit den Dreibeinlampen kamen, wandte sich Elena landeinwärts. Auf der anderen Seite der Straße führte der Weg von der Anlegestelle weiter und wurde etwas breiter, als er den Wald erreichte. Ab und zu sah Magiere zurück und stellte fest, dass Leesil die Gassen zwischen den Gebäuden im Auge behielt. Als sie den Ort verlassen hatten, beobachtete er den Wald zu beiden Seiten des Weges, und dabei tastete seine Hand immer wieder nach dem Topasamulett.
Das Gelände wurde hügeliger, doch die Hügel waren nicht so hoch wie in der Nähe von Miiska. Sie gelangten zu einer mit Geländern ausgestatteten Holzbrücke, die über einen schnell fließenden Bach führte. Sie wirkte recht stabil und bot genug Platz für zwei Pferde nebeneinander. Ein niedrig hängender Ast versperrte teilweise den Weg. Magiere schob ihn beiseite, und daraufhin brach er. Ein Regen aus Nadeln ging auf die Brücke nieder.
Der Ast schien tot zu sein, und er war so schnell verfault, dass den Nadeln daran gar nicht genug Zeit geblieben war, welk zu werden.
»Etwas ist dort draußen«, flüsterte Leesil.
Magiere sah zu ihm zurück und stellte fest, dass er den Wald flussaufwärts beobachtete.
»Wartet hier«, fügte er hinzu.
Er überquerte die Brücke, und Magieres Hand schloss sich fester um das Falchion. Sie sah Leesil in der Dunkelheit verschwinden. Als er nicht wieder erschien, trat sie ans Geländer der Brücke und hielt nach ihm Ausschau.
Sie entdeckte ihn schließlich weit oben am Hang, näher beim Weg. Er trat zwischen den Bäumen hervor und winkte Magiere und ihre Begleiter über die Brücke. Chap lief sofort los, und Magiere, Wynn und Elena folgten ihm. Als sie zu Leesil aufschlossen, ergriff er Magiere an der Hand und zog sie mit sich.
»Chap, bleib bei Wynn und Elena«, sagte er.
Magiere folgte Leesil in den Wald, in dem es kaum Büsche und Sträucher gab. An einigen Stellen zeigte sich nackter Boden ohne jede Vegetation. Durch die größer werdenden Lücken zwischen den Bäumen gingen sie hangabwärts, bis Leesil stehen blieb und den Arm ausstreckte.
»Nah beim Wasser, auf dieser Seite des großen Felsens«, sagte er.
Zuerst wusste Magiere nicht genau, was er meinte. Dann sah sie einige Kühe beim Wasser – sie standen völlig still.
»Sie rührten sich nicht einmal, als ich aus dem Wald kam«, sagte Leesil. »Eigentlich keine große Überraschung, so wie sie aussehen.«
Magiere machte von ihrer Nachtsicht Gebrauch.
Die Kühe waren hager. Selbst aus dieser Entfernung ließen sich deutlich die Rippenknochen unter der Haut erkennen. Die großen Augen waren halb geschlossen – die Tiere schliefen nicht, waren aber auch nicht richtig wach. Warum trieben sie sich allein im Wald herum? Kümmerte sich niemand um sie?
»Hier scheint es besonders schlimm zu sein«, sagte Leesil. »Mit den Ziegen in der Siedlung und den dortigen Menschen ist es ähnlich.«
»Ich verstehe das nicht.« Magiere seufzte, und Leesil schüttelte den Kopf. Er wirkte müde, wie alles und jeder an diesem Ort. Sie streckte die Hand aus und berührte ihn an der Wange, ließ die Finger dann zum Kinn wandern. »Und ich mache mir Sorgen um dich. Dies gefällt mir nicht.«
»Mir auch nicht. Aber wir werden herausfinden, was hier los ist.«
Sie kehrten zu den anderen zurück und setzten den Weg landeinwärts fort. Nach zwei weiteren Kurven erschien das Ziel vor ihnen.
Es war keine richtige Feste, aber ein befestigtes Gebäude aus Stein, zwei Stockwerke hoch. So tief im Landesinnern von Dröwinka, weit von den Grenzen entfernt, war vielleicht nicht mehr nötig. An den Seiten standen weitere Gebäude aus Holz, eins von ihnen groß genug für eine Scheune, aber mit einem Giebeldach. Eine niedrige Steinmauer umgab das Anwesen, und der Weg führte in einem weiten Bogen zum großen eisernen Tor. Geza wartete dort auf sie.
»Ihr seid gekommen«, sagte er nur und winkte sie durchs Tor. Der Hauptmann führte sie zum großen steinernen Gutshaus, und als sie dort durch die Tür traten, kam es zu einer Veränderung.
Magiere spürte, wie ein Ruck durch sie ging. Es fühlte sich an, als hätte sie mit nur einem Schritt eine große Strecke zurückgelegt und einen weit entfernten Ort erreicht, der von der Welt draußen getrennt war. Das Innere des Gutshauses war einem adligen Lehnsherrn oder einem Vasallenlord angemessen, doch Magieres seltsames Gefühl ging nicht auf die luxuriöse Umgebung zurück. Etwas war gerade geschehen, und sie richtete einen argwöhnischen Blick auf Geza, der die Tür schloss.
»So ist es viel besser«, sagte Wynn und rollte die Schultern.
Kohlepfannen hingen an den Wänden neben dem Eingang, und Lampen erhellten den Flur. Geza gab ihnen Gelegenheit, ihre schmutzigen Stiefel in einem kleinen Nebenzimmer auszuziehen, führte sie dann durch den Korridor. Ein dunkelblauer Teppich mit fransigen Rändern und Ahornblättern nachempfundenen Mustern bedeckte den steinernen Boden.
»Hier fühlt es sich anders an«, sagte Leesil erleichtert. »Weniger … beklemmend.«
Geza warf ihm einen kurzen Blick zu, ohne auf die Worte einzugehen. »Hier entlang.«
Magiere bemerkte die Reaktionen ihrer Begleiter. Sowohl Leesil als auch Wynn wirkten wacher. Sie waren nicht völlig ausgeruht, aber wachsam. Der Hauptmann geleitete sie durch einen offenen Torbogen in einen großen Raum.
Das Licht von eisernen Kohlepfannen an den Steinwänden fiel auf Tapisserien mit Jagdszenen. Ein Tisch aus Walnussholz mit hochlehnigen Stühlen reichte vom einen Ende bis zum anderen. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein großer, gewölbter Kamin. Aufeinandergestapelte Scheite brannten darin und schickten eine Woge aus Hitze durch den Saal. Bedienstete gab es nicht, und Magiere hatte draußen auch keine Wächter gesehen.
Ein Stuhl stand in der Nähe des Feuers, und darauf saß ein großer Mann Anfang dreißig, der in die Flammen starrte. Er trug eine einfache Hose und weiche, saubere Stiefel. Das Hemd war mattweiß und musste gewaschen werden. Der Mann hatte sich eine Decke um die Schultern geschlungen, die Arme darunter verborgen.
Es fiel Magiere schwer, sich vorzustellen, dass jemand in diesem viel zu warmen Raum frieren konnte. Sie streifte ihren Mantel ab und legte ihn über einen nahen Stuhl.
Der Mann hatte sandfarbenes Haar wie Geza, aber bei ihm war es länger und zottelig. Die Stoppeln an Kinn und Wangen wiesen darauf hin, dass er sich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr rasiert hatte. Elena eilte zu ihm und legte wie beschützend die Hände auf die Rückenlehne.
»Sie sind da, Herr«, sagte sie. Als der Mann nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Stefan … die Jägerin ist hier.«
Magiere schnitt eine Grimasse, als sie das Wort Jägerin hörte. Sie beobachtete, wie Elenas Hand zärtlich zur Schulter des Mannes wanderte und von dort aus zum Nacken. Leesil berührte Magiere am Arm und wölbte die weißblonden Brauen.
War Elena die Geliebte des Lehnsherrn?
»Du wolltest uns sprechen?«, fragte Leesil.
Der Mann blinzelte, drehte den Kopf und sah sie an. Sein Blick kehrte ins Hier zurück, doch er stand nicht auf. Stattdessen deutete Elena auf die Sitzbänke in der Nähe des Feuers.
»Es ist so warm hier drin«, sagte Wynn. Bei diesen Worten straffte der Mann auf dem Stuhl die Schultern.
»Ihr könnt mich Stefan nennen«, sagte er auf Belaskisch. »Die übliche Etikette haben wir schon vor einer ganzen Weile aufgegeben, denn Gefangene haben keine Titel.«
Stefan musterte Magieres Schwert und Leesils Klingen, als er seinen Mantel ebenfalls ablegte und sich dem Kamin näherte. Dann sah er zu Chap, und ein leises Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Wie ich sehe, hat Schatten einen Freund gefunden. Die Hunde waren die ersten Opfer, bis auf meinen.«
Seine rechte Hand kam unter der Decke hervor – die linke blieb darunter –, und Schatten näherte sich steifbeinig und leckte die Finger.
Magiere blieb stehen, während Leesil auf einer Sitzbank Platz nahm und sein Hemd aufknöpfte. Wynn setzte sich ebenfalls, und Chap ließ sich neben ihr nieder.
»Was ist mit den anderen Hunden?«, fragte Leesil.
Stefan antwortete nicht, und das vage Lächeln blieb auf seinen Lippen, als er Wynn musterte. Das Leder mit den Elfensymbolen lag halb aufgerollt neben ihr auf der Bank.
»Wer bist du?«, fragte er. »Es wundert mich, eine gelehrte junge Frau in solcher Gesellschaft zu sehen.«
»Ich helfe, wo ich kann«, antwortete Wynn.
Magiere verschränkte die Arme. Einige Minuten in der Präsenz dieses Mannes genügten ihr, ihn unsympathisch zu finden. Vermutlich nahm er sich zu wichtig und war vor allem mit sich selbst beschäftigt.
»Komm zur Sache und sag uns, warum du uns hierhergebeten hast«, forderte sie ihn auf.
»Es ist eine recht lange Geschichte, und wenn ihr helfen könnt, bin ich bereit, jeden Preis zu zahlen, den ihr verlangt.«
»Sag uns einfach, was die Bewohner des Ortes heimgesucht hat.«
»Der Mann, der mich ersetzen sollte«, sagte Stefan.
Und er erzählte seine Geschichte.
Lord Stefan Korboris Gemahlin Byanka zählte nicht zu den schönen, kultivierten und reichen Frauen von Dröwinka. Er war Soldat, Sohn eines Adligen der zweiten Generation, der im militärischen Dienst für Prinz Rodêks Vater den Tod gefunden hatte. Er besaß nur einen kleinen Titel, war aber ehrgeizig und durchaus fähig, Menschen zu führen, und er schätzte sich glücklich, Byankas Hand gewonnen zu haben. Sie war mit dem Haus der Äntes blutsverwandt, eine Cousine zweiten Grades von Iwanowa, Halbschwester von Prinz Rodêk. Und Rodêk regierte Dröwinka als Großfürst.
In Byankas Gesellschaft stieg Stefan aus den Rängen des niederen Adels auf und erlangte die Aufmerksamkeit von Baron Cezar Buscan, Prinz Rodêks Hauptberater und Stadtprotektor in der Hauptstadt Kéonsk. Nachdem Stefan im Alter von sechsundzwanzig Jahren einen Bauernaufstand niedergeschlagen hatte, bei dem es um Getreidesteuern gegangen war, bekam er als Belohnung das Gut bei Pudúrlatsat mitsamt dem dazugehörenden Lehen, auf dem Fluss nur zwei Tagesreisen von Kéonsk entfernt.
Er nahm seine neue Verantwortung sehr ernst, und Byanka leistete gute Dienste als seine Gemahlin, ohne darüber zu klagen, dass sie das Leben in der Hauptstadt aufgeben musste. Sie teilte seinen Ehrgeiz und sah in dem Lehen einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Gunst des Großfürsten höchstpersönlich. Nach zwei Jahren auf dem Gut feierte Stefan die Geburt eines Sohnes. Bei jener Gelegenheit empfand er seiner Frau gegenüber eine Zuneigung, die nichts mit ihrem königlichen Blut zu tun hatte.
Das Getreide wuchs gut, sein Sohn lernte laufen, die Steuern wurden pünktlich bezahlt, und die Wirtschaft des Lehens florierte. Nachdem er sein Geschick im Umgang mit Waffen bewiesen hatte, zeigte Stefan seine Verwaltungskompetenz. Als er eines Abends aus einem benachbarten Dorf heimkehrte, saß Byanka im Saal am Kamin und ermahnte ihren Sohn, die Hündin namens Schatten rücksichtsvoller zu behandeln und nicht an ihrem Schwanz zu ziehen.
Stefan lächelte. »Hört er auf dich?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Byanka. »Zum Glück hat Schatten viel Geduld mit ihm.«
Stefans Frau war klein, dicklich und schlicht, mit mausgrauem Haar, das sie allerdings sorgfältig frisierte. Sie hatte Gezas Tochter Elena als persönliche Zofe in ihre Dienste genommen und ließ sich von ihr jeden Morgen das Haar richten, obwohl sie das Gutshaus nur selten verließ. Für sie bestand ein guter Tag darin, sich um ihren Sohn zu kümmern und die Hauptmahlzeit in Gesellschaft ihres Mannes einzunehmen, was ihnen Gelegenheit bot, über die Zukunft zu sprechen. Er mochte ihr ruhiges Gebaren und wusste um das Opfer, das sie gebracht hatte, indem sie ihn heiratete; er wollte, dass sie ihre Entscheidung nie bereute. In den kommenden Jahren würde man ihn bestimmt an den Hof in Kéonsk rufen, und vielleicht bekam er dort Gelegenheit, als Berater des Prinzen tätig zu werden.
Geza, Hauptmann der Wache, kam herein. »Ihr habt einen Besucher aus Kéonsk, Herr.«
»Die Steuern werden erst in einem Monat fällig. Wer ist gekommen?«
»Ich kenne ihn nicht, Herr«, erwiderte der Hauptmann. »Er nennt sich Vordana und behauptet, von Baron Buscan geschickt worden zu sein. Soll ich ihn hereinführen?«
»Vordana? Kein Titel?«
»Er hat keinen erwähnt, Herr.«
Es handelte sich wahrscheinlich nicht um einen sehr wichtigen Besucher – vielleicht war er nur ein Kurier. Aber Stefan konnte nicht ganz sicher sein, und deshalb beschloss er, ihn privat zu empfangen.
»Byanka, ich schlage vor, du gehst mit dem Jungen nach oben.«
Mit einem Lächeln nahm Byanka den Knaben in die Arme und eilte mit ihm fort. Kurze Zeit später führte Geza den Besucher herein und verließ den Raum. Stefan versuchte nicht, seine Überraschung zu verbergen.
Vordana war mittelgroß und schmächtig. Er schien nicht bewaffnet zu sein und trug einen wadenlangen umbrabraunen Umhang, der bei jeder Bewegung raschelte und an der Hüfte von einer scharlachroten Schnur zusammengehalten wurde. Es klebte kein Schmutz an den Stiefeln. Seine für eine Reise ungewöhnliche Kleidung war nicht das Erstaunlichste an ihm.
Haar so weiß wie das eines Greises umgab das Gesicht eines jungen Mannes von etwa zwanzig Jahren. Es reichte offen auf die Schultern und noch tiefer, bis auf den Rücken, und es schien im Kaminfeuer zu glühen. Mit dem schmalen Mund und den tief in den Höhlen liegenden Augen hätte man Vordana nicht unbedingt als attraktiv bezeichnet, aber er war zweifellos faszinierend.
Stefan wusste nicht, was er sagen sollte, und er vergaß sogar einen höflichen Gruß, als Vordana durch den Raum ging, sich alles ansah und anerkennend nickte. Stefan schenkte er keine Beachtung.
»Ja«, sagte er, und es klang wie ein Zischen. »Dies ist gut.«
»Du kommst aus Kéonsk?«, fragte Stefan. »Baron Buscan hat dich geschickt?«
Vordana drehte sich um, als sähe er Stefan zum ersten Mal, oder wie jemand, der gezwungen war, die Präsenz einer anderen Person zur Kenntnis zu nehmen. »Ja«, sagte er.
»Du bist doch nicht allein gekommen, oder? Hast du Männer dabei, die untergebracht werden müssen?«
Vordana starrte ihn aus schwarzen Augen an. »Ich bin tatsächlich nicht allein gekommen – zwei Wächter befinden sich draußen. Mehr brauche ich nicht, denn deine Männer genügen mir.«
Stefans Unruhe wuchs. »Meine Leute werden sich um alles kümmern. Vielleicht solltest du mir jetzt sagen, aus welchem Grund du gekommen bist.«
»Aus welchem Grund?« Vordana blieb neben dem Kamin stehen und verschränkte die Arme. »Ich soll die Verwaltung des Lehens übernehmen. Ist Baron Buscan nicht befugt, darüber zu befinden, wer die Lehen der Äntes verwaltet?«
Zuerst unterdrückte Stefan seine zunehmende Sorge und fragte sich, mit welchem Fehler er die Gunst des Barons verloren hatte. Im Lehen war alles in Ordnung. Mehr noch: Während seiner Verwaltung hatte sich die wirtschaftliche Situation verbessert. Er versuchte sich zu beruhigen.
»Ich kümmere mich um dieses Lehen«, sagte er. »Baron Buscan hat es mir nicht entzogen. Und du trägst nicht einmal einen Titel.«
Vordana lächelte und zeigte dabei Zähne so weiß wie sein Haar. Mit einer Hand griff er in die Tasche seines Umhangs und holte eine Pergamentrolle hervor.
»Hier ist der vom Baron unterschriebene Befehl. Du wirst zur Kavallerie unter dem Kommando von Baron Lonâes versetzt, der wegen Grenzangelegenheiten nach Strawinien unterwegs ist. Soweit ich weiß, hast du Frau und Kind. Es genügt, wenn du morgen früh aufbrichst.«
Stefan riss Vordana die Rolle aus der Hand. Sie trug das Siegel der Äntes.
Er löste es und überflog zweimal den Inhalt, um jedes giftige Wort zu verstehen. Unter dem Text stand die Unterschrift von Baron Buscan. Stefan war tatsächlich irgendwie in Ungnade gefallen.
»Es ist alles vorbereitet«, sagte Vordana. »Wie ich hörte, bist du dem Großfürsten und dem Haus Äntes treu ergeben. Man erwartet von dir, dass du dich auf dein Pflichtbewusstsein besinnst.«
Für einen Moment stand Stefan völlig still. Dann zog er mit einem Ruck das Schwert aus der Scheide und rammte es in Vordanas Brust.
»Dies ist meine Vorstellung von Pflicht«, sagte er mit leiser Schärfe.
Das Lächeln verschwand von Vordanas Lippen. Er versuchte, noch einmal nach Luft zu schnappen und sank tot zu Boden. Dunkelrotes Blut quoll durch das weiße Hemd unter seinem Umhang. Eine kleine Messingphiole kam unter dem Kragen hervor und baumelte an einer Kette über die Schulter.
»Geza!«, rief Stefan.
Der Hauptmann lief mit gezücktem Schwert in den Saal, denn Stefan rief nie. »Herr …?«, begann Geza, und dann sah er den Toten.
»Wo sind seine Wächter?«, fragte Stefan.
»Draußen auf dem Hof«, erwiderte der Hauptmann. »Sie warten bei den Pferden.«
»Nimm dir Männer, denen du vertraust, und schick sie zu den Ställen. Sag den beiden Wächtern, sie sollen ihre Pferde dorthin bringen. Lass sie von deinen Männern umbringen, wenn sie außer Sicht sind. Schafft Leichen und Pferde in den Wald, wo sie niemand findet. Wenn jemand kommt und fragt … Wir hatten keine Besucher aus Kéonsk. Hast du verstanden?«
Geza sah ihn groß an. Stefan wusste, dass sich der Hauptmann an die Anweisungen halten würde. Seine eigene berufliche Laufbahn hing von Stefans Position ab. Nach kurzem Zögern legte sich Geza Vordanas Leiche über die Schulter und ging mit ihr hinaus.
Stefan atmete zweimal tief durch und versuchte, der Aufregung Herr zu werden. Schließlich straffte er die Schultern. Wenn Buscan ihn wirklich ersetzen wollte, würde er es bald erfahren, aber etwas an dem Pergament fühlte sich falsch an. Es war noch nie vorgekommen, dass die Verantwortung für ein Lehen ohne jede Vorankündigung jemand anderem übertragen wurde, erst recht nicht bei einem Lehen, an dessen Verwaltung es überhaupt nichts auszusetzen gab. Man ersetzte keinen Lehnsherrn, der gute Arbeit leistete, durch einen Niemand ohne Titel. Stefan beschloss, weitere Nachrichten aus Kéonsk abzuwarten.
Er begann sich zu entspannen. Geza zeigte in seiner Nähe eine gewisse Unruhe, aber abgesehen davon verlief das Leben in normalen Bahnen. Bis zu der Nacht, in der Byanka schrie.
Stefan saß im Saal beim Feuer und hörte das entsetzte Geheul im Obergeschoss. Er lief die Treppe hoch, ließ sich von der Stimme den Weg leiten und fand seine Frau im Zimmer ihres Sohnes. Sie raufte sich das Haar.
Im Bett lag ihr Sohn … oder das, was von ihm übrig war.
Das kleine Gesicht und die Hände waren verschrumpelt, die offenen Augen trocken. Er sah aus wie jemand, der in einer Wüste verdurstet war, schien in einen vertrockneten, verhutzelten Greis verwandelt worden zu sein. Stefan hatte seinem Sohn erst vor wenigen Stunden einen Gutenachtkuss gegeben, und jetzt war er tot.
Byanka schrie wie eine Irre. »Ich habe die Wächter flüstern gehört. Der Besucher, der an jenem Abend zu uns kam … Was hat er mit uns gemacht?«
Als Stefan sie umarmen und trösten wollte, stieß sie ihn fort und heulte erneut.
In den nächsten Tagen veränderte sich Byankas Stimmung nicht. Eines Abends, als Stefan erneut versuchte, sie zu trösten, sah er Falten in ihrem Gesicht und Ringe unter den Augen. Furcht erfasste ihn, als er an eine unbekannte Krankheit dachte, die sich unter ihnen ausbreitete. Er schloss das Gutshaus für Außenstehende und hielt seine Wächter so oft wie möglich von den Dörfern fern. Während der nächsten drei Tage wurde Byanka immer schwächer. Wie viel Wasser oder Brühe sie auch trank, ständig hatte sie großen Durst. Stefan saß an ihrem Bett und weinte, als sie schließlich starb – sie sah genauso geschrumpft und verwelkt aus wie ihr Sohn.
Wenige Wochen später starben die ersten Bauern und Tiere von Pudúrlatsat.
Das Getreide und andere Pflanzen waren ebenfalls betroffen und begannen zu verkümmern. Geza befolgte alle Befehle, ohne Fragen zu stellen, doch er mied den Blick seines Herrn. Am Ende des Monats ritt Stefan zu einem abgelegenen Dorf und stellte fest, dass dort alles in Ordnung war. Nur die Siedlungen in der Nähe des Gutes, am Fluss nach Kéonsk, unterlagen dem verderblichen Einfluss. Als er an jenem Abend heimkehrte, wusste er nicht, was er tun sollte.
Er dachte daran, Kéonsk um Hilfe zu bitten, fürchtete aber Ermittlungen. Auf dem Hof überließ er sein Pferd einem Wächter, betrat das Gutshaus und verharrte im Eingang des Gutshauses.
Am Kamin stand ein Fremder, in einen Kapuzenmantel gehüllt. Es fiel Stefan schwer, ruhig zu atmen, als er eintrat. Jemand war auf der Suche nach Vordana gekommen. Als sich die Gestalt umdrehte, verwandelte sich Stefans Beklommenheit in Entsetzen.
Die Haut des Fremden war so grau wie die von Stefans Frau und Sohn, als er sie beerdigt hatte. Der bis zu den Waden reichende Mantel war völlig verdreckt, ebenso wie die Stiefel und das blutverschmierte Hemd. Weißes Haar hing in schmutzigen, verfilzten Büscheln unter der Kapuze hervor. Die Augen lagen tief in den Höhlen.
Stefan wollte sprechen, doch plötzlich steckte ein dicker Kloß in seinem Hals.
Der Fremde, der dort stand … Es war Vordana.
Ja, kam die zischende Antwort, und Stefan wusste nicht, ob das Wort wirklich laut ausgesprochen war. Er zog sein Schwert und lief am Tisch vorbei.
Ich bin schon tot. Das nützt dir nichts.
Vordanas Lippen blieben unbewegt.
Ich könnte dich aussaugen und in eine leere Hülle verwandeln, so wie deine Frau und euren Sohn. Aber ich möchte, dass du ein langes, qualvolles Leben führst … als meine Marionette! Selbst deine Wächter lasse ich in Ruhe … für eine Weile.
Stefan stieß das Schwert in Vordanas Brust. Der Mann wankte einen Schritt zurück, aber mehr geschah nicht.
Unverständliche Worte erklangen wie ein Summen in Stefans Kopf. Sie wurden lauter, und mit ihnen wuchs ein Schwindelgefühl. Er verlor die Kontrolle über den Körper – die Hände sanken schlaff an seine Seite, und die Beine knickten ein, bis er kniete.
Vordana zog sich nicht einmal das Schwert aus der Brust. Hilflos beobachtete Stefan, wie sich ihm die schmutzigen Hände des Mannes näherten und seinen Kopf umfassten. Über dem Summen zwischen seinen Schläfen ertönten Worte, die er verstehen konnte.
Ich kann hier ebenso gut hinter einer Marionette wachen, doch für mein zerstörtes Leben ist deins verwirkt. Du bleibst in diesem Haus, und dies ist mein Wille: Wenn du über die Schwelle nach draußen trittst, so ist dir sofortiger Tod sicher. Du wirst tun, was ich dir sage, und immer in deinem prächtigen Käfig bleiben. Unterdessen nehme ich die Kraft deines Landes und seiner Bewohner, um meine Existenz zu erhalten. Wenn sie mir nicht mehr geben können, was ich brauche, wende ich mich an dich und jene, die sich hier befinden.
Und falls du Selbstmord für einen Ausweg halten solltest … Auf diese Weise wirst du nicht zu deiner Frau und eurem Sohn gelangen können. Sieh mich an: Dies erwartet dich im Tod, wenn du dir das Leben nimmst.
Alles andere in Stefans Wahrnehmung wich zurück: der Saal, er selbst, Vordana … Es gab nur noch die Worte, die seine Gedanken beherrschten, und hinter ihnen das Summen.
Dann herrschte plötzlich Stille, und er öffnete die Augen.
Der Saal war leer, ebenso der Flur. Er lief zur Eingangstür und zog sie auf – niemand stand draußen.
In jenem stillen Moment erschien ihm alles wie ein vom Gefühl der Schuld und des Verlustes verursachter Albtraum. War Vordana überhaupt bei ihm gewesen? Benommen legte er die Hand an die Seite der Tür, um sich abzustützen. Plötzliche Kälte stach in Fleisch und Knochen, und mit einem Aufschrei zog er die Hand zurück.
»Was ist geschehen?«, fragte Wynn. »Konntest du das Haus nicht verlassen?«
Lord Stefan schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Dann streckte er beide Arme unter der Decke hervor, und nur eine Hand wurde sichtbar – die andere fehlte. Wo sich die linke Hand hätte befinden sollen, sah Wynn nur einen vernarbten Stumpf.
»Wir mussten sie abschneiden«, sagte Geza auf Belaskisch.
Wynn fuhr zusammen, als sie die Stimme des Hauptmanns hörte. Sie war so sehr auf Stefans Geschichte konzentriert gewesen, dass sie Gezas Präsenz ganz vergessen hatte. »Die Hand musste entfernt werden, weil sie zu verfaulen begann«, fügte der Hauptmann hinzu.
»Deine Frau und das Kind …«, wandte sich Magiere an Stefan. »Wiesen ihre Körper irgendwelche Verletzungen oder Zeichen auf?«
Elena schüttelte den Kopf und antwortete für den Lehnsherrn. »Sie verloren einfach nur ihre Lebenskraft und schwanden dahin.«
»Wie konnte Vordana zwei Schwertstöße durchs Herz überstehen?«, fragte Leesil. »Und wie hielt er diesen Mann im Haus gefangen? Womit haben wir es zu tun?«
Einige Sekunden lang herrschte Stille.
»Wir haben gehofft, das könntet ihr uns sagen«, erwiderte Stefan.
»Die Beschreibungen deuten auf einen Untoten hin«, sagte Leesil. »Vielleicht handelt es sich um eine neue, uns bisher unbekannte Art von Edlen Toten.«
»Edle Tote?«, wiederholte Stefan. »Was bedeutet das?«
»Das sind die höchsten und mächtigsten Untoten«, antwortete Wynn. »Sie behalten mehr von dem, wer und was sie im Leben waren, als einfache Geister der Toten. Sie wandeln aus eigenem Willen in der Welt und brauchen für ihre Existenz das Blut der Lebenden. Sie können lernen, wachsen und sich entwickeln wie Lebende.«
Magiere brummte bei den letzten Worten, aber Wynn reagierte nicht darauf. Sie sprachen nie über ihre Kontroverse in Hinsicht auf Chane und die Ereignisse in den Abwasserkanälen von Bela, aber Wynn wusste, dass Magiere sich geirrt hatte. Nicht alle Menschen waren gleich, und es leuchtete ein, dass das auch für Vampire galt. Was den Mann betraf, der Lord Stefans Platz hatte einnehmen wollen … Er schien mehr zu sein als ein gewöhnlicher Vampir.
»Vordana ist also ein Edler Toter«, sagte Stefan und steckte die Arme wieder unter die Decke. »Er hat doch noch einen Titel bekommen.«
»Deine Schilderungen deuten auf einen Magier hin«, sagte Leesil. »Auf einen solchen Untoten sind wir schon einmal gestoßen.«
Wynn bemerkte Leesils Blick. Magiere war natürlich nicht die Einzige, die sich an den Moment in Belas Kanalisation erinnerte.
»Könnte er dazu in der Lage sein?«, fragte Leesil. »Könnte er aus eigener Kraft von den Toten zurückkehren?«
Wynn schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Bei meiner Heimatgilde beschäftigen wir uns mit vielen Dingen, bevor wir auf Reisen gehen. Domin il’Samaud war mein Lehrer für geheime Künste, doch so etwas wie in diesem Fall hat er nie erwähnt. Wir haben über Lebenstheorie gesprochen, und darüber, dass sich manche Beschwörer auf Geister konzentrieren, mit deren Hilfe sie Tote wiederbeleben können.«
Wynn fiel ein kleines Detail in Lord Stefans Geschichte ein.
»Du hast erwähnt, dass Vordana etwas an seinem Hals trug.«
Stefan nickte. »Eine kleine Messingphiole an einer Kette. Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat.«
»Manche Beschwörer verwenden Behälter aus Messing, um beschworene Essenzen aufzubewahren, auch die eines Geistes, selbst eines menschlichen«, sagte Wynn. »Aber es wäre unmöglich, auf diese Weise dem Tod vorzubeugen oder den eigenen Geist aus dem Jenseits zurückzurufen.«
Wynn spürte Chaps Pfote am Bein. Der Hund schnappte nach dem Leder mit den Elfensymbolen, zog es von der Sitzbank und legte es auf den Boden. Sie bückte sich, und als sie es ganz aufgerollt hatte, deutete Chap sofort auf Symbole.
»Was macht er da?«, fragte Elena.
»Die Erklärung würde zu lange dauern«, sagte Leesil.
Wynn folgte den Bewegungen der Pfote. Schließlich hielt Chap inne und sah zu ihr auf.
»Tôlealhân … Willenskraft?«, fragte sie verwirrt.
Zuerst ergab es keinen Sinn, doch dann verstand sie plötzlich.
»Zauberei«, hauchte sie. Chap bellte einmal, um es zu bestätigen, und Wynn fügte hinzu: »Ich weiß jetzt, was passiert ist. Vordana hat einen Hàs auf Lord Stefan gelegt.«
»Zauberei ist verboten«, sagte Leesil. »Und was meinst du mit Hàs?«
»Das ist ein Wort aus meiner Muttersprache, dem Numanischen«, antwortete Wynn. »Ich kenne keinen belaskischen Ausdruck dafür. Tôlealhân kommt aus dem Elfischen; damit könnte ein auf das Mentale spezialisierter Magier gemeint sein. Das ist Zauberei, so wie die Magie der körperlichen Sphäre Thaumaturgie genannt wird und die der Geister Beschwörung. In der Elfensprache auf meinem Heimatkontinent kann Hàs mit Gyeas übersetzt werden. Es ist eine so tief im Bewusstsein des Opfers verankerte Aufgabe, dass es sich eher freiwillig zu Tode bringt, als der Aufgabe nicht gerecht zu werden.«
Sie sah Stefan an. Er hatte getötet, um das Lehen zu behalten, aber er tat ihr trotzdem leid.
»Gewöhnliche Magie hält einen Gyeas nicht fest«, sagte Wynn zu Stefan. »Er wird Teil des Opfers und seiner Gedanken, wie eine verborgene Erinnerung, die man nicht vergessen kann. Tief im Innern glaubt das Opfer mit unerschütterlicher Gewissheit daran, was geschehen wird, wenn es nicht gehorcht. Nur ein Gegen-Gyeas kann die Wirkung aufheben.«
»Und dazu wäre ein Zauberer wie Vordana erforderlich.« Stefans Blick glitt in die Ferne.
Mehr konnte ihm Wynn nicht bieten, und es folgte eine Stille, die sie belastete. Schließlich wechselte Leesil das Thema.
»Angeblich hat der Baron den Mann geschickt, der deinen Platz einnehmen sollte«, wandte er sich an Stefan. »Als du deinen neuen Dienst in der Kavallerie nicht angetreten hast … Wieso kam niemand, um nach dem Rechten zu sehen?«
»Vielleicht war alles eine Lüge, und Baron Buscan wusste überhaupt nichts davon.« Stefan zog sich die Decke enger um die Schultern und schüttelte den Kopf. »Was ich getan habe … Allein Furcht steckte dahinter.«
»Das bezweifle ich«, sagte Magiere. »Wie dem auch sei: Wichtig ist nur, ob wir dagegen kämpfen können.«
»Zauberei wird nicht nur bei Opfern angewandt«, erklärte Wynn. »Sie kann auch benutzt werden, um die Macht des Zauberers zu erweitern. Sie ist die tückischste der drei Arten von Magie, aber sie war es nicht, die Vordana zurückbrachte. Um so etwas zu bewerkstelligen, muss er auch ein Meister der Beschwörung sein, mit einzigartiger Macht. Selbst bei den Studien mit Domin il’Samaud fanden wir kaum Legenden über Individuen, die alle drei Arten der Magie beherrschten und sie zu etwas Neuem vereinten, einer Art Supermagie.«
»Wundervoll.« Leesil stöhnte. »Dann gibt es jemand anders, der dies für ihn arrangiert hat.«
Magieres Züge verhärteten sich, als sie vor dem Kamin auf und ab ging. Sie drehte den Kopf und sah zu Stefan.
»Wir müssen jetzt also entscheiden, ob wir einem … Mörder helfen sollen.«
Die harten Worte verblüfften nicht nur Wynn, sondern auch Elena, die ebenso giftig erwiderte:
»Wie kannst du es wagen? Du hast keine Ahnung, wie sehr er gelitten hat. Bist du bereit, uns zu helfen, oder nicht?« Ihre kleine Hand blieb wie beschützend auf Stefans Schulter.
Stefan hob die eigene Hand und legte sie auf die ihre. »Schon gut.«
Wynn sah zu Magiere. »Es sind die einfachen Leute, die unsere Hilfe brauchen.«
»Wir müssen dies untereinander bereden«, sagte Magiere offen. »Allein.«
Stefan nickte, stand auf und ging zur Tür. Elena und Geza folgten ihm.
Bis sie in Bela zu dieser Reise aufgebrochen waren, hatte Wynn immer bei den Weisen gelebt und schlichte graue Umhänge getragen. Als sie Elena mit dem Lehnsherrn beobachtete, fragte sie sich für einen Moment, wie es sein mochte, langes blondes Haar zu haben, ein Kleid zu tragen und die Hand eines Mannes zu halten. Sie schob diese Gedanken beiseite.
»Du weißt, dass wir nicht ablehnen können, Magiere«, sagte sie. »Vordana mag allen Grund haben, sich an Lord Stefan rächen zu wollen, aber dazu benutzt er die Bewohner des Ortes. Früher oder später wird er hier alles umgebracht haben, und dann nimmt er sich vielleicht andere Siedlungen vor.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er weiterziehen würde«, erwiderte Magiere. »Und wir haben keine Möglichkeit, diesen Vordana zu finden. Seit dem Anlegen des Kahns habe ich nichts gespürt, und Leesils Topas hat keine Reaktion gezeigt.«
»Vielleicht ist Vordana derzeit zu weit entfernt«, spekulierte Wynn.
»Nein, er ist nahe«, sagte Leesil. »Nach dem, was uns der Lord erzählt hat und was wir gesehen haben … Er ist nahe genug.«
»Könnte Chap ihn finden?«, fragte Magiere.
Der Hund bellte dreimal.
»Das bedeutet vielleicht, er ist sich also nicht ganz sicher«, sagte Wynn. »Aber möglicherweise können wir auf seine Hilfe verzichten. Ich bin keine Magierin, doch ich kenne gewisse Dinge und könnte es mit einem … kleinen mantischen Trick versuchen. Zwischen allen Dingen existieren Verbindungen, insbesondere zwischen lebenden. Wenn Vordana von der Lebenskraft um ihn herum zehrt, so bin ich vielleicht in der Lage, das zu sehen, denn es beeinflusst die Schichten des Geistigen an diesem Ort. Ich könnte ihn finden.«
Leesil schüttelte den Kopf. »Wynn, das klingt nach …«
»Vergleicht es damit, die Oberfläche eines Teiches zu beobachten, wenn irgendwo an seinem Ufer ein Graben ausgehoben und geöffnet wird«, unterbrach sie ihn. »Die ganze Oberfläche zeigt Anzeichen von Bewegung in Richtung des Abflusses, was in diesem Fall bedeutet: in Richtung Vordana. Ich habe noch einige Notizen von unseren damaligen Untersuchungen und glaube, dazu imstande zu sein. Wir müssen es versuchen. Untote zu jagen, das ist doch eure Spezialität, oder?«
Wynn schwieg. In Bela hatte sie einmal versucht, den geblendeten Leesil mit ihrer Lebenskraft zu heilen. Es schien geklappt zu haben, aber sie war offen und ehrlich gewesen mit dem Hinweis, keine Magierin zu sein. In diesem Fall ging es um mehr als nur darum, den natürlichen Heilungsprozess zu beschleunigen. Doch welche Wahl blieb ihr? Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Magiere einfach die Reise fortsetzte, mit der Begründung, dass Stefan – der immerhin die Verantwortung für den Tod von zwei unschuldigen Wächtern trug – an allem schuld war.
Magiere schloss resigniert die Augen und nickte. Das genügte Leesil als Antwort.
»Wir versuchen es auf deine Weise, Wynn.« Leesil beugte sich vor und klopfte ihr auf die Hand. »Wir versuchen es auf deine Weise. Aber da wäre noch eine Sache. Nach Stefans Schilderungen hat Vordana gesagt, dass er hier wachen will. Um was geht es dabei?«
»Das ist mir ebenfalls aufgefallen«, sagte Magiere. »Ich bin mir nicht sicher, was es bedeutet.«
Leesil stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn auf die Hände. »Vielleicht ist Vordana ein Spion … oder ein Späher, jemand, der für einen bevorstehenden Krieg ausspioniert.«
»Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Wynn ein wenig zu laut. »Belaski ist reich, und Strawinien hat ständig ein wachsames Auge auf die Provinzen, die ihr Kriegsländer nennt. Wer sollte angreifen?«
»Vielleicht kein äußerer Feind, sondern ein innerer«, erwiderte Leesil. »Ein Bürgerkrieg. Wenn Buscan Vordana geschickt hat … Wieso hat er dann keine Nachforschungen angestellt? Vielleicht kann er das nicht, zumindest nicht öffentlich. Oder jemand anders wollte Vordana hier aus irgendeinem Grund als Wachtposten.«
»Es betrifft uns nicht«, sagte Magiere, obgleich Wynn sah, dass ihr Leesils Worte zu denken gaben. »Wir helfen also Lord Stefan … sind wir uns einig? Dies könnte auf eine Weise scheußlich werden, die wir jetzt noch nicht voraussehen, und ich möchte, dass wir die Entscheidung gemeinsam treffen.«
Chap bellte einmal, und Wynn nickte.
»Ganz gleich, was Elena sagt, der Lord ist ein selbstsüchtiger Mistkerl«, brummte Leesil. »Soll er ordentlich dafür bezahlen, bis an die Schmerzgrenze. Und sosehr ich das Reiten auch verabscheue, verlang außerdem Pferde von ihm. Der Schleppkahn wird nicht auf uns warten. Wenn dies vorbei ist, müssen wir die Reise über Land fortsetzen.«
»Morgen früh holen wir unsere Sachen vom Kahn«, sagte Magiere. »Heute Nacht bleiben wir hier. Dies scheint der einzige Ort zu sein, den Vordana in Ruhe lässt – die Veränderungen, die ich bei dir und Wynn beobachtet habe, bestätigen das.«
»Ja.« Wynn seufzte erleichtert. »Ich sage Bescheid, dass wir bleiben.«
Magiere nahm ihren Mantel und wandte sich dann noch einmal an Wynn. »Ich bin froh, dass du bei uns bist.«
Wynns Wangen glühten plötzlich. »Ich ebenfalls.« Und überrascht stellte sie fest, dass sie es ernst meinte. Sie hoffte nur, dass sie Magieres und Leesils Erwartungen gerecht werden konnte, wenn es so weit war.