Die Jagd nach dem Erreger

Vor nicht einmal anderthalb Jahrhunderten konnte der deutsche Mediziner Robert Koch den Nachweis erbringen, dass winzige Organismen als Erreger für die gefürchteten Massen­erkrankungen verantwortlich sind. Er entdeckte 1876 den Milzbranderreger und begründete die Wissenschaft der Bakteriologie, später isolierte Koch auch die Erreger von Tuberkulose und Cholera. In der Folge wurden viele weitere Krankheitserreger identifiziert, neben den Bakterien die kleineren Viren, für deren Entdeckung es der leistungsfähigeren Elektronenmikroskope bedurfte. Mit Robert Kochs Erkenntnissen begann die Suche nach wirksamen Gegenmitteln, zum einen von Impfstoffen, um einer Infektion vorzubeugen beziehungsweise ihren Verlauf zu minimieren, zum anderen von wirksamen Medikamenten, allen voran die Antibiotika. Auch dank der Entwicklung von Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten stieg in Westeuropa zwischen 1880 und 1980 die durchschnittliche Lebenserwartung auf das Doppelte.

Für die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Poliomyelitis musste zunächst der Virus isoliert werden. 1908 entdeckten der österreichische Serologe Karl Landsteiner, der bereits das System der Blutgruppen erkannt hatte, und sein Kollege Erwin Popper das Poliovirus. Sie injizierten einem Affen Rückenmarksflüssigkeit eines an Poliomyelitis verstorbenen Kindes und wiesen Wickmans Vermutung nach, dass es sich um eine Infektionskrankheit handelte. Später erreichten sie die Konservierung der Polioviren. Bis zur Herstellung eines Polioimpfstoffes vergingen jedoch noch mehrere Jahrzehnte. 1948 gelang drei US-Epidemiologen – John Enders, Thomas Weller und Frederick Robbins, die einige Jahre später dafür den Medizin-Nobelpreis erhielten – der Nachweis, dass Polio­viren in lebenden Zellen gezüchtet werden können.

Erste frühe Versuche zur Herstellung eines Impfserums in den Dreißigerjahren – tatkräftig unterstützt von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt, der selbst mit Poliomyelitis diagnostiziert worden war – waren misslungen, aber 1954 wurde in den USA ein Impfstoff produziert und in einer klinischen Großstudie mit mehreren Hunderttausend Kindern getestet. Dieser erste Impfstoff, der intramuskulär verabreicht wurde, bestand aus abgetöteten Viren, die durch die Behandlung mit Formaldehyd ihre Fortpflanzungsfähigkeit verloren hatten. Die Herstellung gelang erstmals dem US-Immunologen Jonas Salk und seinen Mitarbeitern in Pittsburgh. 1955 wurde ihr Impfstoff in den USA in Windeseile zugelassen und ebenso schnell ein nationales Impfprogramm aufgelegt. In weniger als einem Monat stellten fünf Pharmafirmen rund vier Millionen Impfdosen her. Salks Impfstoff rettete zahllose Kinder vor der Ansteckung – aber er steht auch für den bis dahin größten Arzneimittelskandal der Vereinigten Staaten: Weil – verständlicherweise angesichts der verheerenden Auswirkungen der Poliomyelitis-Epidemien – die Zulassung des Impfserums übereilt erteilt worden war und aufgrund von Fahrlässigkeit bei der Herstellung, kamen Polioimpfstoffe auf den Markt, die nicht nur abgetötete, sondern auch Lebendviren enthielten, sodass durch die vermeintlich segensreiche Maßnahme Hunderttausende Kinder vor allem im Westen der USA erkrankten und Dutzende starben. Das Impfprogramm wurde im Mai 1955 vorübergehend gestoppt. Der dramatische Zwischenfall hinderte Salk, der dafür ja auch nicht verantwortlich gemacht werden konnte, nicht daran, sich in den USA als Held feiern zu lassen – und die zahllosen Beiträge und Vorarbeiten seiner Kollegen, die ihm seine Errungenschaft mit ermöglicht hatten, eitlerweise unerwähnt zu lassen.

In Deutschland trat die letzte Polioepidemie 1961 auf – in der Bundesrepublik, denn die DDR hatte bereits ein Jahr zuvor die Schluckimpfung eingeführt, weswegen dort nur vier Fälle registriert wurden. Westlich der innerdeutschen Grenze aber erkrankten 1961 fast 4.600 Menschen an Poliomyelitis, über 300 von ihnen starben. Zwar war die Spritzimpfung nach Salk auch in der Bundesrepublik verfügbar, wurde aber von der Ärzteschaft nicht mit ausreichender Vehemenz propagiert. 1962 setzte sich auch in der Bundesrepublik die Schluckimpfung durch. Parallel zu den Arbeiten des Teams um Jonas Salk war nämlich ein weiterer Impfstoff entwickelt worden, der aus einem Lebendimpfstoff besteht: abgeschwächte Erreger, die keine Erkrankung mehr auslösen können, den Körper aber zur Bildung von Antikörpern animieren. Die Arbeit an dem neuen Serum leitete Albert Sabin von der Universität von Cincinnati. Vor allem die Schluckimpfung verbindet sich im öffentlichen Gedächtnis bis heute mit dem Kampf gegen die Kinderlähmung. Dabei wird Kindern das Impfserum mit einem Stück Zucker oder einer anderen Süßigkeit oral verabreicht. In Deutschland haben ganze Generationen noch einen Slogan im Kopf, mit dem für die Poliovorsorge geworben wurde: »Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam«. Diese Form der Impfung wird aber auch zur Immunisierung gegen andere Krankheiten angewendet.