Wie ein Schluck gegen
die Grausamkeit
DIE AUSROTTUNG DER KINDERLÄHMUNG
In seinem 2010 erschienenen Roman Nemesis führt der US-amerikanische Autor Philip Roth seine Leser zurück in das Jahr 1944. In einem überaus heißen Sommer in Newark, New Jersey, ist mit einem Mal nicht mehr der Zweite Weltkrieg das beherrschende Gesprächsthema, sondern eine (fiktive) Epidemie, die die Stadt westlich von New York heimsucht. Eine Epidemie, wie sie damals die Vereinigten Staaten immer wieder in Atem hielt und nicht nur, aber vor allem Kinder und Jugendliche erfasst. In Roths Buch erkranken immer mehr Kinder im Viertel Weequahic an Poliomyelitis, an der grausamen Kinderlähmung. Die Bedrohung durch die gefürchtete Infektionskrankheit stürzt die Bewohner des ruhigen jüdischen Wohnviertels in Hilflosigkeit, weil niemand genau weiß, wie die Krankheitserreger sich verbreiten, und demzufolge, wie man sich wirksam dagegen schützen kann. Die Polioviren spielen ein teuflisches Roulette mit den Kindern und Jugendlichen des Viertels.
Als die Zahl der Erkrankungen zunimmt und immer mehr Kinder an Poliomyelitis sterben, werden Mutmaßungen zur Quelle der Infektionen zum wichtigsten Gesprächsthema: »Jemand sagt, man überlege, ob man den schwarzen Putzfrauen verbieten solle, nach Weequahic zu kommen, aus Sorge, sie könnten die Kinderlähmung aus den Slums einschleppen. Ein anderer sagte, seiner Meinung nach werde die Krankheit durch Geld übertragen, durch das Papiergeld, das von Hand zu Hand ging. Es sei wichtig, fuhr er fort, sich jedes Mal, wenn man Papiergeld oder Münzen angefasst habe, die Hände zu waschen. Und was ist mit der Post?, fragt einer. Könnte es nicht sein, dass die Viren mit der Post verbreitet werden? Denkt doch mal an all die Leute, durch deren Hände die Briefe gehen.«
In ihrer ohnmächtigen Verzweiflung machen die Bewohner des Viertels noch andere mögliche Ursachen aus, darunter die Hotdog-Bude an der Ecke. Der größte Konsens besteht darüber, dass die Fliegen unbedingt zu bekämpfen seien, entsprechende Warnungen ergehen auch seitens der Behörden. Wer kann, schickt seine Kinder in die Berge oder ans Meer, die übrigen Eltern versuchen mit allerlei nützlichen und überflüssigen Maßnahmen, ihre Kinder, so gut es geht, zu schützen. Doch die Epidemie greift weiter um sich. Und ein Impfstoff gegen die gefürchtete Infektionskrankheit ist nicht verfügbar.