Eine Grammatik ohne Ausnahmen
Ludwig Zamenhof gestand seinem Esperanto ein Alphabet mit 28 lateinischen Buchstaben zu – einen für jeden Laut und einige sogenannte »Dachbuchstaben«: a, b, c (ausgesprochen wie z), ĉ (ausgesprochen wie tsch), d, e, f, g, ĝ (ausgesprochen wie dsch), ĥ (ausgesprochen wie ch), i, j, ĵ (ausgesprochen wie sh), k, l, m, n, o, p, r, s (stimmhaftes s), ŝ (sch), t, u, û (kurzes u), v (ausgesprochen wie w) und z (stimmloses s). Die Aussprache geht dadurch stets aus der Schrift hervor, Umlaute kommen nicht vor, nebeneinanderstehende Vokale werden getrennt gesprochen. Gleichwohl erwies sich die Aussprache als Problem und war vor allem in der Anfangszeit uneinheitlich und Gegenstand einiger Debatten. Naturgemäß unterscheidet sich die Aussprache, beispielsweise der Vokale, je nach Herkunft der Sprecher. Hier kommt ein Problem zum Tragen, das »gewachsene« Sprachen nicht haben: Sie wurden allesamt gesprochen, bevor man sie aufgeschrieben hat. Esperanto ist die einzige Sprache, die in Schriftform gegossen wurde, bevor das Sprechen und damit der Praxistest begonnen hatte. In den folgenden Jahrzehnten der praktischen Erprobung wurden denn auch Modifikationen vorgenommen. Klar festgelegt war aber von Anfang an, dass in jedem Wort die vorletzte Silbe betont wird – das wird im Allgemeinen Zamenhofs polnischer Herkunft zugeschrieben.
Ganz insgesamt steht die Sprache für Klarheit und leichte Erlernbarkeit, denn Zamenhof wollte ausdrücklich, dass sie mit geringem Aufwand und von Angehörigen aller Bildungsniveaus erlernt werden könne. So gibt es nur einen bestimmten Artikel (la) und keinen unbestimmten, der Artikel wird in Ein- und Mehrzahl gleichermaßen verwendet. Ein Substantiv in Esperanto endet stets auf -o, ohne damit ein bestimmtes Geschlecht zu meinen. Allerdings wird für die weibliche Form vor die Endung -o die Silbe -in- eingefügt. So heißt der Hund hundo, die Hündin hundino. Für die Mehrzahl wird am Ende noch ein -j angehängt: hundoj für die Hunde, hundinoj für die Hündinnen. Zamenhof beschränkte seinen Sprachentwurf auf nur zwei Fälle: Nominativ (-o) und Akkusativ (-n). Weitere Präzisierungen werden durch Präpositionen und Vorsilben gekennzeichnet – wie Zamenhof insgesamt Wert darauf legte, Vorsilben und Endungen ausgewogen zu verwenden, um keine schwer erfassbaren Wortungetüme zu erhalten. Sinnfällig zusammengesetzte und daher ebenso einsichtige wie einprägsame Wörter gibt es dagegen in reicher Zahl, das Kompositionssystem ist ebenso einfach wie einleuchtend. Aus jedem Substantiv lässt sich ohne Ausnahme das zugehörige Adjektiv herstellen, indem die Endung -o durch -a ersetzt wird: Wärme: varmo, warm: varma. Kälte: frosto, kalt: frosta. Mit einem -e am Ende wird daraus ein Adverb. Verben enden im Infinitiv stets auf -i. Die Endungen der Verben sind in allen Konjugationsformen gleich: Ich brülle: mi kriegas. Er spricht: li parolas. Ihr lernt: vi lernas. Für die verschiedenen Zeitformen ändert sich an der Endung der Vokal: i für Vergangenheit, o für Zukunft, u für den Konjunktiv. Im Imperativ endet das Verb ohne s auf -u. Diese beeindruckende Klarheit setzt sich in der Grammatik in allen Regeln fort, und jeder Sprachschüler weiß rasch zu schätzen, dass es von diesen Regeln keine Ausnahmen gibt – ganz im Unterschied zu allen anderen Sprachen.
Mit seiner ersten Sprachschrift lieferte Zamenhof neben sechzehn sehr klaren Regeln und Übungstexten eine Vokabelliste mit, die zunächst aus 904 Grundwörtern bestand. Für das Vokabular nahm sich Zamenhof die Wörterbücher verschiedener (europäischer) Sprachen vor und suchte all die Wörter zusammen, die eine gemeinsame Herkunft aufweisen, was möglichst vielen das Erlernen der neuen Sprache erleichtern sollte. Manche Wörter ähneln sich in vielen Sprachen, etwa die für Rose oder Zigarette. Für den restlichen Wortschatz versuchte Zamenhof, möglichst gerecht und gleichmäßig auf den Bestand bestehender Sprachen zurückzugreifen: zunächst die romanischen, dann die germanischen, dann die slawischen. Bezogen auf den Esperanto-Grundwortschatz aus dem Jahr 1905 sind die Wörter für deutsche Muttersprachler zu fast zwei Dritteln, für die Sprecher romanischer Sprachen sogar zu 80 Prozent und für die slawischen Muttersprachler immerhin noch zu knapp einem Drittel erkennbar.
Wie zugänglich Esperanto auch für den Sprachunkundigen daherkommt, soll ein Satz aus der Erklärung des ersten Esperanto-Weltkongresses von 1905 illustrieren: »Esperantisto estas nomata ĉiu persono, kiu scias kaj uzas la lingvon Esperanto, tute egale por kiaj celoj li ĝin uzas. Apartenado al ia aktiva Societo esperantista por ĉiu esperantisto estas rekomendinda, sed ne deviga.« (Esperantist wird jede Person genannt, die die Sprache Esperanto versteht und benutzt, ganz gleich für welche Ziele sie diese benutzt. Die Zugehörigkeit zu einer aktiven Esperanto-Gesellschaft ist für jeden Esperantisten empfehlenswert, aber nicht Pflicht.)
Reine Kunstsprachen leben nicht, weshalb sie sich auch nicht verändern. Die Plansprache Esperanto dagegen wird seit vielen Jahrzehnten praktiziert und hat sich dabei fortentwickelt. Die erste Überarbeitung von Grundgrammatik und -wortschatz nahm Zamenhof nach entsprechenden Forderungen aus der noch jungen Sprechergemeinde 1894 selbst vor. 1905 wurde ein Fundamento de Esperanto als »unantastbare« Grundlage bestimmt, um die weitere Sprachentwicklung auf eine sichere Basis zu stellen. Auf der entwickelte sich Esperanto seither weiter, im Sinne des Spracherfinders, der sich als ihr Initiator und nicht als ihr Schöpfer verstanden hatte. Beispielsweise hat sich seither die Aussprache nach den anfänglichen Schwierigkeiten vereinheitlicht und ist das Vokabular von unter 1.000 Grundwörtern auf ungefähr das Fünfzehnfache gestiegen – nicht eingerechnet zusammengesetzte Wörter, die abermals ein Vielfaches dessen ausmachen. Die Praxis hat außerdem manche Wörter aus dem Wortschatz durch neue mit derselben Bedeutung verdrängt – so wurde aus signo de poŝto für Briefmarke poŝ tmarko – und längere Wörter verkürzt (beletristiko wurde zu beletro) oder zwecks einfacherer Aussprache verändert (tekniko statt teĥniko). Und natürlich passt sich das Vokabular ebenso an wie andere Sprachen auch, sei es mit interreto für Internet, poŝ telefono für Mobiltelefon oder tutmondiĝa für Globalisierung.
Den Praxistest bestand Esperanto auch als Literatursprache. Die ersten Theateraufführungen gab es bereits auf dem ersten Weltkongress, drei Jahre später wurde in Dresden Goethes Iphigenie auf Tauris in Esperanto uraufgeführt, 1926 erschien die Bibel in Esperanto. Schon früh begann auch eine Tradition der Originalliteratur, sodass Esperanto heute sowohl als Übersetzungs- als auch Literatursprache von Bedeutung ist. Ein weiterer Kritikpunkt, die neue Sprache sei zu starr für Nuancierungen, unverzichtbar beispielsweise für Poesie und Humor, ist vielfach widerlegt worden.
Zamenhofs Sprachkreation fand zunächst vor allem in den slawischen Ländern Zuspruch, bald aber auch im übrigen Europa. Die erste Broschüre war in Russisch erschienen, aber rasch folgten Ausgaben in Polnisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Hebräisch und Jiddisch. Bereits zwei Jahre nach der ersten Veröffentlichung konnte Zamenhof voller Stolz ein erstes Anschriftenverzeichnis der Esperanto-Sprecher herausgeben – es enthielt ansehnliche 1.000 Einträge, die Mehrheit aus dem Zarenreich. Ein früher prominenter Fürsprecher der neuen Sprache war der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, auch wenn er sie nie erlernte. Er verhalf der Esperanto-Bewegung einerseits zu weltweitem Augenmerk, andererseits aber zu misstrauischer Behinderung durch die zaristischen Behörden. Eine eigene Zeitschrift durfte Zamenhof in seiner Heimat nicht publizieren, obwohl im Russischen Reich die Mehrzahl der frühen Esperantisten lebte. In die Bresche sprang der vormalige Volapük-Club in Nürnberg, der seit 1889 die erste Monatsschrift der Sprachbewegung herausgab: La Esperantisto. Allerdings waren die Beziehungen nach Nürnberg keineswegs spannungsfrei. Und als ein der Zensur unliebsamer Beitrag Tolstois erschien, belegten die russischen Zensurbehörden die Zeitschrift kurzerhand mit einem Einfuhrverbot.
Ins romanischsprachige Europa fand Esperanto seinen Weg durch den Enthusiasmus eines Franzosen, des Privatlehrers Louis Chevreaux, der sich als »Marquis Louis de Beaufront« neben dem klangvollen Namen auch eine recht schillernde Biographie gebastelt hatte. Als einer der ersten Esperantisten Frankreichs sowie gewiefter Organisator und PR-Mann rührte er gekonnt die Werbetrommel für Zamenhofs Sprachenschöpfung, insbesondere unter der französischen Intelligenzija. Bereits 1905 fand im nordfranzösischen Boulogne-sur-Mer der erste Esperanto-Weltkongress statt, auf dem die Sprache ihren Zweck erstmals unter Beweis stellen konnte. Fast 700 Delegierte aus vielen Ländern kamen zusammen und verstanden sich, wenn auch noch nicht immer mühelos: dank Zamenhofs Esperanto. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges bestanden Esperantoverbände in fast allen Ländern Europas sowie in Japan und den Vereinigten Staaten. Bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges nahm Zamenhof an allen Weltkongressen teil; er reiste dafür sogar bis nach Washington. Während des Krieges veröffentlichte er noch ein Memorandum für die Zeit nach Friedensschluss, ein Plädoyer für die Vereinigten Staaten Europas inbegriffen. Das Ende des Krieges erlebte er allerdings nicht mehr, er starb im Frühling 1917 mit nur 56 Jahren in Warschau an einem Herzinfarkt.
Sein Ziel war es, Esperanto zum Katalysator einer besseren Welt zu machen, in der eine gemeinsame Sprache alle anderen Unterschiede überbrückt und Konflikten den Boden entzieht. Ausdrücklich wollte Zamenhof eine internationale Sprache, wie er sie auch zunächst nannte (lingvo internacia), und keine Weltsprache (lingvo tutmonda), die alle Nationalsprachen ersetzt. Es ging ihm also keineswegs um eine linguistische Weltrevolution, wie noch heute gern behauptet wird. Auch wollte er keine statische, »perfekte« Sprache, sondern eine lebendige und praktikable. Zamenhofs »Sprachführer« von 1887 bestand denn auch ganz bewusst aus einer Minimalgrammatik.