Sibirien im Visier der Planer

Sibirien ist ein Land der Extreme: Aufgespannt über mehr als 8.000 Kilometer zwischen dem Ural im Westen und dem Pazifik im Osten nimmt es den Großteil des asiatischen Russland ein. Im Staatsverbund setzt es sich aus fünf Republiken und neun autonomen Regionen zusammen. (Dabei war die Frage, wo genau die Grenze zwischen Europa und Asien verläuft, immer wieder Gegenstand von Kontroversen.) Mit ihrem sibirischen Territorium bestreitet die Russische Föderation mehr als zwei Drittel ihrer Gesamtfläche. Sibirien ist riesengroß und dabei in weiten Teilen nur sehr dünn besiedelt, hat in mehreren Klimazonen extreme Kälte im langen Winter und große Hitze im kurzen Sommer zu bieten, ist reich an unberührter Natur und gezeichnet von Umweltzerstörung, besitzt im Norden Taiga und Tundra und viel Wasser, im Süden eher Steppe und viel Trockenheit, verfügt über urbane Industriezentren hier ebenso wie extreme Abgeschiedenheit da. Von den derzeit nur noch rund 25 Millionen Bewohnern leben die meisten in den großen und kleineren Städten des Südens: 90 Prozent. Zu den sibirischen Superlativen gehören einige mächtige Ströme: Lena, Ob/Katun, Irtysch und Jenissei, allesamt mit mehr als 4.000 Kilometer Länge.

In den begehrlichen Blick der Ingenieure und Projektplaner geriet Sibirien schon früh. Das konnte auch kaum anders sein bei einem so großen und rohstoffreichen, andererseits aber unterentwickelten Land, dessen Potenzial bislang nur zu einem Bruchteil genutzt worden war. Im 18. Jahrhundert begann man, noch zaghaft, das Land zu entwickeln. Ende des 19. Jahrhunderts träumte der Schriftsteller Zlatopolski, in den 1880er-Jahren ins beschwerliche sibirische Exil verbannt, von einer gigantischen, futuristischen Industriestadt, die ihren Bewohnern ein Höchstmaß an Lebensqualität, Reichtum und Bequemlichkeit bieten kann, weil Wissenschaft, Technik und Kunst vereint für ihre Perfektionierung arbeiten. Von solcherart Segnungen verwöhnt, müssen die Einwohner nur noch einen Bruchteil ihrer Zeit für Arbeit aufwenden. Die Vision blieb einstweilen Utopie, aber die Vorstellung, Sibirien zum Wohle der Menschen dienstbar zu machen, tauchte seither immer wieder auf. Der Gewerkschafter und Dichter Alexei Gastew bezog sich mitten im Ersten Weltkrieg auf Zlatopolskis Vision in »Express«, seiner »sibirischen Fantasie«: Darin präsentiert sich auf einer Fahrt mit dem Schnellzug »Panorama« vom Ural bis zum Pazifik Sibirien, wie es in der Vorstellung der zukunftsseligen Bolschewisten werden sollte. In der Tradition der Futuristen und wie später sein Schriftstellerkollege Wladimir Sasubrin lobpreist er moderne Maschinen, technologische Errungenschaften und Tempo als Wert an sich. Aus den ungezähmten, menschenleeren sibirischen Weiten ist ein gut vernetztes Industriegebiet geworden, dessen ungenutzte Landschaften ordentlich bestellte, blühende Gärten sind. Auch hier ist die lichte Zukunft das Ergebnis eines Krieges gegen die Natur, die das Land noch unter einer dicken Schneeschicht schlummern lässt – bis menschliche Willenskraft und die Segnungen der Technik »die schlafende Schöne« Sibirien zu industrieller Pracht aufblühen lassen. Der Zug fährt schließlich durch einen Tunnel unter der Beringstraße weiter nach Alaska.

1948 proklamierte die KPdSU den Generalangriff auf die Naturgewalten – drei Jahre nach dem Sieg über Hitlerdeutschland und mit gewohnt militärischer Wortwahl. Für ein knappes Jahrzehnt nur hatte die Sowjetunion der Gigantomanie entsagt. Jetzt wurde der »Stalin’sche großartige Plan zur Umgestaltung der Natur« ausgerufen. Stalin störte sich nicht daran, dass er noch kurz zuvor den übergroßen Maßstab der Planer kritisiert, ja diese sogar wüst beschimpft hatte. Vielmehr erklärte er die Wiederaufbauphase nach den verheerenden Zerstörungen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg für beendet und rief zum Aufbruch an neue Ufer. Grund dafür war zum einen, dass die Wachstumszahlen besser waren als erwartet, gleichzeitig aber die Produktionskapazitäten der Kraftwerke mit dem wachsenden Strombedarf nicht mehr Schritt halten konnten, weshalb »die weiße Kohle« Wasserkraft nutzbar gemacht werden sollte. Die galt damals, vor dem Atomzeitalter, in aller Welt als die Energiequelle der Zukunft, weil sie im Unterschied zur fossilen Energie unerschöpflich und sauber war. Um die Kraft des Wassers nutzbar zu machen, wurde rund um den Globus Staudamm nach Staudamm gebaut – im Verlauf des 20. Jahrhunderts weltweit 800.000 kleinere und 45.000 größere. Letztere setzten rund eine Million Quadratkilometer Land unter Wasser, zerstörten Lebens- und Kulturräume und nahmen bis zu 80 Millionen Menschen ihre Heimat. Staudämme galten als »Weltwunder des 20. Jahrhunderts« und wurden mit den Pyramiden gleichgesetzt – es waren keineswegs die Kommunisten allein, die großspurige Vergleiche anstellten. Dennoch war dem ägyptischen Staatschef Nasser wichtig zu betonen, dass die Dämme im Unterschied zu den Pyramiden für die Lebenden gebaut wurden. Auch in der Sowjetunion schätzte man den Mehrwert der Dammbauten: Mit der Energieproduktion ließen sich auch Bewässerungs- und Entwässerungsmaßnahmen, Trinkwassergewinnung, positive Effekte für die Schifffahrt und weitere Verbesserungen der Infrastruktur sowie Potenziale für Freizeit und Tourismuswirtschaft verbinden.

Stolz präsentierte Pläne dieser Zeit zeigen ein großes Netz von wasserbezogenen Projekten links und rechts der Wolga, sowie zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer im Süden und einer Linie Moskau – Swerdlowsk (Jekaterinburg) im Norden. Solche Karten kündeten bis in die Satellitenstaaten der UdSSR von der Macht und Größe des großen Bruders. Im DDR-Jugendweihe-Pflichtbuch Weltall, Erde, Mensch der Ausgabe 1955 beispielsweise erhält die kolorierte Karte zum Aufklappen den Ehrenplatz am Ende des Buches sowie die Bildunterschrift: »Auf Grund der Beschlüsse der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sowie der Sowjetregierung und ausgerüstet mit den höchsten Ergebnissen der Wissenschaft, baut das Sowjetvolk gewaltige künstliche Stauseen, viele neue Wasserstraßen, legt umfangreiche Waldschutzgürtel an und errichtet gigantische Wasserkraftwerke. – Es verändert sich das Antlitz der Natur.«

Eines der ersten Großprojekte war das Kraftwerk Bratsk gewesen, für das die Angara, ein Nebenfluss des Jenissei, gestaut wurde, wodurch zwischen 1954 und 1966 einer der größten Stauseen der ganzen Welt entstand. Mehr als einhundert Dörfer mussten weichen, fast 120.000 Menschen verloren dabei ihre Heimat. Weitere Staudämme folgten, darunter Krasnojarsk und, wenn auch erst in den Achtzigerjahren, Sajanogorsk am Jenissei, dessen Staudamm der heute größte der Russischen Föderation ist.

Solche Mammutvorhaben nahmen in der gesamten Sowjet­union unzähligen Menschen die Heimat. Einer ungefähren Rechnung zufolge verschlangen die gigantischen Wasserbauprojekte auf insgesamt rund 80.000 Quadratkilometern (eine Fläche doppelt so groß wie das Gebiet der Niederlande) 2.600 Dörfer, 165 Städte sowie Zehntausende Fabriken und riesige Nutzflächen für Landwirtschaft und Forstbau. Und noch schlimmer: Bei vielen Projekten wurde auch der Tod Zehntausender Menschen in Kauf genommen, vor allem Zwangsarbeiter, die den überaus harten Arbeits- und Lebensbedingungen der Großbaustellen nicht gewachsen waren.

Stalins Nachfolger Chruschtschow behielt bei aller Demontage des Vorgängers diese Ausrichtung bei, insbesondere in der Landwirtschaft, die zunehmend industrialisiert wurde. Er ließ im Süden des Landes riesige Steppengebiete urbar machen, bei allerdings geringem wirtschaftlichem Nutzen. Daneben aber orientierte er sich in der Hochtechnologie, darunter Mikroelektronik, Atomenergie und Weltraumtechnik, vor allem am Konkurrenten USA. Das symbolische Potenzial der Eroberung des Weltalls zum Zwecke der Propaganda erkannten die Sowjets sogar vor den Amerikanern. Und tatsächlich gelang das Überholen des kapitalistischen Platzhirsches – vorübergehend zwar und vor allem in der Raumfahrt, aber der PR-Effekt war überaus groß und verpuffte auch nicht so schnell. Denn der Sputnik-Schock wurde geradezu sprichwörtlich: als die UdSSR den Systemgegner USA demütigen konnte, weil der erste Satellit im All ein sowjetischer war – und sich prompt ein jahrzehntelanges Wettrennen im Weltraum entspann, wo nunmehr sozusagen eine der Frontlinien des Kalten Krieges verlief.