Großprojekt ohne Masterplan
Ob man Ford nun gewogen war oder nicht – dass der Mann die Sache richtig anpacken würde, stellte wohl kaum jemand in Frage, weder in den USA noch in Brasilien. Und wohl auch nicht, dass dieses Anpacken kompetent und planvoll vor sich gehen würde, jeder wohlüberlegte Schritt der ambitionierten Unternehmung auf den vorherigen aufbauen und in absehbaren Etappen die Eckpfeiler einer beeindruckenden Erfolgsgeschichte sichtbar werden würden. Es wäre zu erwarten gewesen, dass ein US-Industrieller, der reichste Mann der Welt, ein hochkarätiges Expertenteam berufen würde, um die notwendigen Schritte generalstabsmäßig vorzubereiten, also Wirtschaftsberater mit guter Brasilienkenntnis, erfahrene Manager von Großprojekten, Regenwaldfachleute, Geographen und Geologen sowie weitere Fachleute verschiedenster Disziplinen. Ein Vorhaben dieser Größenordnung, zumal auf so schwierigem Terrain wie dem des Amazonasregenwaldes, verlangte nach einem durchdachten Masterplan. Den aber gab es gar nicht.
Wer Henry Ford kannte, hätte gewarnt sein können. Wie ein Feldherr, der in einen Krieg zieht, ohne Karten studiert und die Stärke des Feindes in Erfahrung gebracht zu haben, machte sich der Automobilgigant an sein Kautschuk-Abenteuer. Er hegte keine Zweifel, dass er mit seinen brasilianischen Plantagen Erfolg haben würde. Überaus siegessicher, zog er ein Scheitern gar nicht in Erwägung – ja, er prüfte nicht einmal die spezifischen Bedingungen und Hindernisse vor Ort, die der Umsetzung im Wege stehen könnten. Und wenn man als Kern des Ganzen den Aufbau ertragreicher Kautschukplantagen verstand, musste vor allem dieser Teil des Projekts gut vorbereitet sein: von der Auswahl des Terrains über die Ermittlung der geeignetsten Baumarten bis hin zur ergiebigsten Zapfart mit dem richtigen Werkzeug. Da es sich nicht um die erste Plantage handelte, hätte man auf bereits gewonnene Erkenntnisse anderswo zurückgreifen können. Die Fachleute in Südostasien konnten auf ein halbes Jahrhundert an Erfahrung verweisen. Auch dass andere vor ihm im Amazonas mit dem Aufbau von Plantagen gescheitert waren, ließ Ford gänzlich unbeeindruckt. Als Selfmademan mit einfacher Schulbildung, deren Lücken zu überheblichem Gespött der gebildeten Schichten geführt hatten, pflegte er eine ausgeprägte Abneigung gegen Experten und vertrat eher den entschlossen zupackenden als den planvoll-bedächtigen Unternehmer. Insgesamt erweckt die Ford’sche Strategie den Eindruck, als seien nur einige wenige Aspekte in Gesprächen des Ford-Managements besprochen und eine Chronologie nur grob festgelegt worden. Tatsächlich war es also zunächst nicht der widerspenstige Amazonas, der dem Erfolg des Unternehmens im Wege stand. Sein Status als größter Industrieller und die Art seines Aufstiegs schienen Ford zwar recht zu geben, das Projekt unkonventionell anzugehen. Aber damit ging er ein immenses Risiko ein.
Es kam, wie es kommen musste: Probleme bestimmten die Agenda. Die Fortschritte ließen sich Zeit, überwundene Widerstände wuchsen nach wie die Köpfe der Hydra und die
Geduld der zuständigen Männer in Dearborn, Michigan wurde auf eine harte Probe gestellt. In einer Mischung aus überzogener Selbstgewissheit, Blauäugigkeit und fordtypischer hemdsärmeliger Herangehensweise machte sich eine Truppe aus Detroit an die Arbeit im Dschungel. Fassungslos mussten brasilianische Beobachter mit ansehen, wie diese Abgesandten der Firma Ford, die wie niemand sonst für Effektivität und straffes Management stand, am Amazonas einen Arbeitsstil an den Tag legten, der allenfalls und mit viel Schönfärberei eine Art kreatives Chaos zum Ziel haben konnte. Eigentlich waren schon bei den Verhandlungen die Augenbrauen der brasilianischen Gesprächspartner voller Unverständnis nach oben geschnellt. Die Vertreter Fords hatten nämlich strikte Anweisung, den ehrenhaften Prinzipien ihres Arbeitgebers zu folgen und weder jemanden zu bestechen, noch auch nur die harmloseste Form von Lobbyarbeit zu betreiben. Das aber widersprach den brasilianischen Usancen und erwies sich als Indiz für die verhängnisvollen Geburtsfehler des ehrgeizigen Projekts. Auch schiere Unfähigkeit seitens der Ford-Beauftragten stellte von Anfang an ein Problem dar. So ließ man mit dem brasilianischen Bundesstaat Pará ausgehandelte Privilegien, darunter vor allem die Steuerbefreiung für den Import der Ausrüstung, die man für den Aufbau der Plantage benötigte, nicht von der Bundesregierung in Rio de Janeiro bestätigen, weshalb sie keine Gültigkeit erlangten. Das sollte sich als keineswegs unerheblich erweisen, denn die Ford Company schickte alles, bis hin zum Sägewerk und einer Eisenbahn, aus den Vereinigten Staaten an den Tapajós.
Zumindest über den ersten notwendigen Schritt bestand kein Zweifel: die Rodung großer Urwaldflächen, um Unterkünfte bauen zu können und erste Pflanzungen anzulegen. Allerdings waren die mitgeführten Gerätschaften zur Rodung und Planierung des Geländes dem feuchten Klima nicht gewachsen und versagten den Dienst. Übereilt und fahrlässig hatte Ford außerdem kalkuliert, die Kosten des Aufbaus von Fordlandia wären durch den Verkauf der gerodeten Bäume mühelos wieder hereinzuholen. Auch das misslang kläglich. Zwar erhielt Fordlandia das größte Sägewerk Brasiliens, doch zum einen eignete sich das Holz ganz überwiegend nicht zur Verarbeitung, weil es zu hart war. Zum anderen verrottete der Großteil des dafür geeigneten Bestandes während der Lagerung, denn wegen der abgeschiedenen Lage Fordlandias und monatelangem Niedrigwasser des Tapajós konnte es nicht sogleich abtransportiert werden. Andere Holzsorten wiederum durften gar nicht exportiert werden. Weitere Pläne sahen vor, Karosserieteile aus Holz vor Ort zu produzieren, ebenso Ziegel für den Hausbau in der Region. Zu den Versprechungen brasilianischen Behörden gegenüber hatte auch die Fabrikation von Autoreifen und Schläuchen gehört. Nicht der einzige, aber ein wesentlicher Grund dafür, dass daraus nichts wurde, waren die enormen Schwierigkeiten, Arbeitskräfte zu gewinnen. Denn die Rekrutierung einheimischer Arbeitskräfte hatte sich längst als überaus problematisch erwiesen. Das Amazonasbecken ist sehr dünn besiedelt, und Menschen aus weiter entfernten Gegenden wurden von den Bedingungen im Urwald abgeschreckt. Wer aus wirtschaftsschwachen Regionen im brasilianischen Norden stammte und gewillt war, anderswo sein Glück zu versuchen, zog eher in die wachsenden Industriestädte des Südens. Eine ausreichende Anzahl an Arbeitern zu gewinnen war also von Anfang an aussichtslos und konnte zu keinem Zeitpunkt umgesetzt werden.
Aber auch bei den US-amerikanischen Mitarbeitern im Amazonas gab es viel Fluktuation, was dem Fortschritt beim Bau der Siedlung und dem Aufbau einer Plantage hinderlich sein musste. Viele vertrugen das Klima nicht, und die Abgeschiedenheit von Fordlandia, das heißt ohne Zerstreuungen, wie man sie aus den USA gewohnt war, empfanden andere als zu große Belastung. Schon der erste Manager verließ seine neue Wirkungsstätte nach seiner Ankunft mehr oder weniger postwendend. Auch seine Nachfolger blieben nicht lange, mal gingen sie freiwillig, mal wurden sie wegen Unfähigkeit abberufen. Da nachkommende Ford-Entsandte sich ihrerseits akklimatisieren und mit den regionalen Bedingungen vertraut machen mussten, verrann wertvolle Zeit, und sowohl terminliche als auch finanzielle Erwartungen an Fordlandia erwiesen sich schon sehr bald als obsolet. Ein Masterplan hätte Neuankömmlingen ermöglicht, den Faden der Arbeit rasch wiederaufzunehmen – so aber musste sich jeder ganz neu einarbeiten. Und jeder war mit dem Maßstab der Aufgabe und der mangelnden Vorbereitung auf die eine oder andere Weise überfordert. Ein Ford-Abgesandter schrieb voller Entsetzen an die Zentrale in Dearborn: »Auf den Besitzungen gibt es keinerlei Organisation. Niemand hat eine Vorstellung vom großen Ganzen. Die Verschwendung schreit zum Himmel. Derzeit ist es ein Fass ohne Boden.«
Als Fass ohne Boden erwies sich auch der Teil des Unternehmens, den man als US-zivilisatorische Mission à la Ford bezeichnen könnte. Er uferte in jeder Hinsicht aus, sodass das eigentliche Anliegen, der Aufbau ausgedehnter, profitabler Kautschukplantagen, zeitweise völlig aus dem Blick geriet. Dafür war Henry Ford höchstpersönlich verantwortlich, denn er hatte ja mehr im Sinn als profitable Plantagen: ein umfassendes Projekt, das in jeder Facette seiner Philosophie und seinem ganz persönlichen Missionsgedanken entsprechen sollte. Statt sich also mit dem Aufbau der Pflanzungen und der sachgemäßen Pflege der Setzlinge zu befassen, konzentrierte man sich auf die Errichtung eines kleinen nordamerikanischen Musterstädtchens. Ein Dokumentarkurzfilm aus dem Hause Walt Disney, der mit Ford persönlich befreundet war, zeigt noch 1944 die stolzen Ergebnisse des US-Außenpostens am Tapajós. Kamerafahrten durch saubere Teerstraßen entlang gepflegter Vorgärten, emsige Arbeiter beim Roden des Dschungels, Krankenhauspersonal in blütenweißen Kitteln, dankbare brasilianische Kinder, die die Schulspeisung verschlingen – die Aufnahmen mochten die nordamerikanischen Zuschauer mit Stolz auf das eigene Land und Respekt vor der Leistung Fords erfüllen. Dem Urwald ein Städtchen mit geteerten Straßen und Vorgärten, mit Telefon, Straßenbeleuchtung und Kanalisation sowie anderen zivilisatorischen Errungenschaften abzuringen war ja auch eine durchaus beachtliche Leistung.
Allerdings hatte Fordlandia keineswegs ausschließlich Schokoladenseiten zu bieten. Beispielsweise entsprach die Bauweise der Wohnhäuser in keinster Weise den klimatischen Bedingungen des Regenwaldes, und ihre Bewohner schwitzten darin wie im Backofen, weil sich unter den Metallspitzdächern die feuchte Hitze staute, anstatt die Bewohner davor zu schützen. Grund dafür war Fords verstockte Entschlossenheit, Fordlandia nach US-Vorbild bauen zu lassen. Immerhin sorgten in den Alleen Mangobäume für Schatten. Andere westliche Errungenschaften überzeugen aber durchaus: Ein Kraftwerk sorgte für die Stromversorgung, ein Abwassersystem für Hygiene, Dutzende Kilometer Straße und Schienen für kurze Wege. Das moderne Krankenhaus war stets gut ausgelastet und bot eine medizinische Qualität, die im Amazonas sonst nirgendwo anzutreffen war, schon gar nicht in den entlegenen Gegenden des Regenwaldes. Ford ließ außerdem einen Hafen bauen, drei Schulen, mehrere Kirchen und Clubhäuser, daneben Tennisplätze, einen Golfplatz und Schwimmbäder sowie Parks.
Drei Jahre nach Beginn der Arbeiten in Fordlandia konnten die Ford-Mitarbeiter erstmals das Gefühl haben, ein Etappenziel erreicht zu haben. Zum Symbol für die ersten sichtbaren Erfolge wurde der typisch US-amerikanische Wasserturm, der bis heute von weither den Ort markiert. Er war mit 45 Meter Höhe das höchste Bauwerk des Amazonas. Als er 1930 errichtet wurde, war zu seinen Füßen eine funktionierende Kleinstadt entstanden, die ebenso gut in einem südlichen Bundesstaat der USA hätte stehen können.