Börsenliebling Urwaldkautschuk
Die ersten fünfzig Jahre nach Goodyears Entdeckung der Vulkanisation hatte Brasilien den Kautschukhunger der westlichen Welt stillen können und daran gut verdient. Aber mit beständig wachsender Nachfrage stieg der Preis – immer tiefer mussten die Kautschukzapfer auf der Suche nach zapfreifen Bäumen in den Amazonasurwald vordringen, um den Bedarf zu decken. Schon Mitte der 1850er-Jahre forderte daher ein weitsichtiger britischer Kautschuk-Industrieller, Großbritannien müsse den Anbau von Kautschukbäumen in seinen tropischen Kolonien versuchen. Aber obwohl das Empire Erfahrung hatte mit botanischen Verpflanzungen wie der des chinesischen Tees nach Indien, sah die britische Regierung keine Veranlassung zum Handeln. In welch schwindelerregende Höhen der Bedarf noch steigen würde, war Jahrzehnte vor Erfindung und Siegeszug des Autos und der ihr zuliefernden Reifenindustrie ja auch noch gar nicht absehbar.
Die fahrlässig-unbekümmerte Haltung ihrer Regierung weckte den Ehrgeiz einer Handvoll hartnäckiger Engländer, die mit einer Weitsicht, die heutigen Entscheidungsträgern zumeist abgeht, sich der Sache annahmen. Sie gehörten zur sich gerade formierenden naturwissenschaftlichen Elite Großbritanniens, die den Fortschrittsglauben des imperialen Zeitalters auf die eigene Arbeit übertrug. Im Zentrum standen die Royal Botanic Gardens in Kew bei London, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts britische Pflanzer in Übersee mit Samen und Setzlingen von kommerziell vielversprechenden Nutzpflanzen sowie dem dazugehörigen Knowhow versorgten. So war die Korkeiche nach Vorderindien, die Macadamianuss von Australien auf die Westindischen Inseln oder die brasilianische Brechwurzel nach Trinidad gekommen. In Kew heckte man das Unternehmen Kautschuk aus, denn inzwischen entstand allmählich ein Risikobewusstsein für die Versorgung mit jenem Naturrohstoff. 1876 sammelte der 30-jährige Abenteurer Henry Alexander Wickham, eigentlich ein Verlierertyp und miserabler Geschäftsmann, am Tapajós, der in der Nähe von Santarém in den Amazonas fließt, 70.000 Samenkapseln, die er gut verpackt nach England verschiffte. Aus denen wurden Setzlinge gezogen und in britische Besitzungen nach Südostasien verschifft, um dort den Grundstock für Kautschukplantagen zu bilden.
Als das 20. Jahrhundert anbrach, war der im Vergleich zu anderen Rohstoffen ohnehin stolze Preis für Kautschuk auf immer neue Spitzenwerte geklettert, vor allem durch den Aufschwung der Reifenindustrie, aber auch wegen seiner wachsenden Bedeutung als Rüstungsgut. Und schließlich wurde zu dieser Zeit mehr denn je auf den Kautschukpreis spekuliert, was den Markt nur noch mehr unter Druck setzte. Kein anderer Naturrohstoff hatte im freien Wettbewerb jemals vergleichbare Gewinnspannen erzielt; die Anleger frohlockten. Am anderen Ende der Welt aber, in Südostasien, waren fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit ausgedehnte Kautschukplantagen entstanden. Ein weiterer weitsichtiger und hartnäckiger Mann namens Henry Ridley, Direktor am Botanischen Garten von Singapur, hatte vorausschauend dafür vorgesorgt, dass die aus Brasilien über Kew nach Asien exportierten Kautschuksamen ihre Mission erfüllten: mit botanischer Forschung, mit dem Aufbau einer Samenreserve und mit Kautschuk-PR bei den Pflanzern vor Ort. Gegen alle Widerstände machte Ridley, der dafür als »mad Henry« verspottet wurde, den Überraschungscoup des Plantagenkautschuks möglich. Als in Britisch-Malaya und Ceylon Tee und Kaffee unter Schädlingsbefall und Krankheiten litten, wurde Hektar nach Hektar unter Kautschuk gebracht.
Brasilien wiegte sich noch eine Weile in Sicherheit, dabei drängte immer mehr asiatischer Plantagenkautschuk auf den Markt – und erwies sich als besser als selbst der beste Urwaldkautschuk. Zudem machte sich der Standortvorteil Südostasiens bemerkbar: Billige Arbeitskräfte waren leichter zu bekommen als im Amazonas, und das kostenintensive System mit vielen profitverwöhnten Zwischenhändlern entfiel. Die Plantagen arbeiteten auch deshalb effektiver, weil weder wilde Bäume im Regenwald gesucht, noch der Kautschuk den endlosen Amazonas flussabwärts transportiert werden musste. Außerdem zahlte sich die jahrelange Forschung aus: Die Ausbeute pro Baum lag in Asien viel höher als im Amazonas. Mit anderen Worten: Wirtschaftlich und qualitativ war der Plantagenkautschuk der Urwald-Konkurrenz haushoch überlegen. 1913 wurde zum letzten Mal mehr Urwald- als Plantagenkautschuk produziert. Dann ging die Zeit des brasilianischen Kautschuks zu Ende, während Britisch-Malaya in kürzester Zeit zum größten Kautschukproduzenten der Welt aufstieg. Damit war Großbritannien der Platzhirsch im internationalen Kautschukhandel, die Kolonialmächte Frankreich und Niederlande mussten sich mit einer Nebenrolle begnügen.
An der steigenden Nachfrage nach Kautschuk kam Henry Ford ein entscheidender Anteil zu, hatte er doch inzwischen die Welt auf vier motorisierte Räder gesetzt. Sein Modell T sollte über Jahrzehnte den Rekord als meistverkauftes Auto der Welt halten – bis ihm der VW Käfer den Rang ablief. Folglich hatte die Ford Motor Company, von deren Bändern damals die Hälfte aller weltweit produzierten Autos rollte, einen Riesenbedarf an Kautschuk. Das war der große Haken am US-amerikanischen Autoboom – oder besser gesagt: ein Hindernis. Denn über 90 Prozent der Kautschukproduktion stammte damals aus Südostasien, drei Viertel davon aus britischen Kolonien; sehr viel weniger kam aus französischen und niederländischen Überseebesitzungen. Mehr als 70 Prozent dieses Kautschuks aber ging in die USA, die eben keine Kolonien besaßen, welche für den Anbau von Kautschuk geeignet gewesen wären.
Als Unternehmer in den Vereinigten Staaten und erklärter Patriot ärgerte Henry Ford die britische Vorherrschaft auf dem Weltmarkt für Rohkautschuk. Als vollends unerträglich aber empfand er die Situation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Denn als im Gefolge des Friedensschlusses die Nachfrage für Rohkautschuk sank, begann London mit dem Aufbau eines Kautschukkartells, um die Preise zu stützen. Dagegen liefen die Vereinigten Staaten als größte Kautschukabnehmer Sturm; ein regelrechter Handelskrieg entbrannte zwischen Washington und London. Drei US-Industrielle nahmen die Herausforderung an und reagierten auf das Kartell mit eigenem Plantagenanbau: Die Reifenhersteller Firestone und Goodyear ließen im westafrikanischen Liberia beziehungsweise auf Sumatra und den Philippinen Plantagen anlegen. Und auch Henry Ford beschloss kurzerhand, seinen eigenen Kautschuk anzubauen. Noch forschte zwar sein betagter Erfinderfreund Edison nach Möglichkeiten der Kautschukgewinnung aus Pflanzen, die in den Vereinigten Staaten angebaut werden konnten. Aber als das nicht gelang, verlegte sich auch Ford auf den Plantagenanbau im Mutterland des Kautschuks. Er kaufte 1927 riesige Ländereien im brasilianischen Amazonas-Regenwald.