Wie der Aufschwung per Knopfdruck
DIE KYBERNETIK

Im Jahr 1968 erschien in Ostberlin ein Buch mit dem schönen Titel Wirtschaftswunder DDR, ein entschieden tendenziöser Abriss zweier Jahrzehnte ostdeutscher Wirtschaftsgeschichte aus staatlicher Sicht. Es ist das Jahr, in dem der Staatschef Walter Ulbricht die Anstrengungen der DDR, mit mehr oder weniger sozialistischen Methoden den kapitalistischen Konkurrenten BRD wirtschaftlich zu überrunden, auf die nicht minder schöne Formel brachte: »Überholen, ohne einzuholen«. Allerdings war da die Zeit seines »Neuen Ökonomischen Systems« (NÖS), das Ulbrichts dialektischer Überholaktion zugrunde lag, schon fast wieder vorbei. Auf dem VII. Parteitag der SED im Jahr zuvor war das NÖS als ÖSS (Ökonomisches System des Sozialismus) zwar bestätigt worden, allerdings in modifizierter Form. Der Wind begann sich zu drehen, um bald darauf den Befürwortern des neuen Wirtschaftskurses in eisiger Form geradewegs ins Gesicht zu blasen. 1971 schließlich wurden die Prioritäten erneut verschoben; der nunmehr eingeschlagene wirtschaftliche Kurs gilt als einer der Sargnägel der DDR. Spätestens jetzt bewegte sich der ostdeutsche Teilstaat auf seinen Bankrott zu, der sich 1989/90 vollziehen sollte.

Historiker sprechen von den »langen Sechzigerjahren« der DDR-Geschichte, die von 1957 bis 1971 reichen. Am Anfang steht wie eine euphorisierende Droge der Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik 1 der UdSSR im Jahr 1957, mit dem der Sozialismus dem Westen eine lange Nase machte und sich auf der Überholspur wähnte. An ihrem Ende steht die Machtübernahme durch Erich Honecker, dessen Kurs in den Niedergang führte. Vor allem das Jahrzehnt nach dem Bau der Berliner Mauer gilt als reformfreudig und wirtschaftlich durchaus vielversprechend. 1963 schlug die DDR einen radikal neuen Wirtschaftskurs ein: Mittels Reform-, Innovations- und Rationalisierungskurs sollte die behäbige Staatswirtschaft des Sozialismus auf Trab gebracht werden. Recht sperrig definierte der VI. Parteitag der SED im Januar 1963 den neuen wirtschaftlichen Weg als »die organische Verbindung der wissenschaftlich fundierten Führungstätigkeit in der Wirtschaft und der wissenschaftlich begründeten, auf die Perspektive orientierten zentralen staatlichen Planung mit der umfassenden Anwendung der materiellen Interessiertheit in Gestalt des in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel«. Das hieß so viel wie Planwirtschaft 2.0, angereichert nämlich mit Funktionselementen der eigentlich verpönten Marktwirtschaft sowie modernsten Methoden von Wissenschaft und Technologie. Zwar hatte man schon Ende der Fünfzigerjahre die Modernisierung der Wirtschaft angestoßen und als ein Rezept dafür die Automatisierung erkannt. Namentlich die Wirtschaftsreform durch das NÖS sollte die DDR jetzt aber so radikal modernisieren, dass die Zukunftsversprechen des Sozialismus auch eine materielle Grundlage erhalten würden. Technologischer Fortschritt wurde der Öffentlichkeit als Wert vermittelt – als der Nährboden, auf dem der Sozialismus mit vereinten Kräften aufgebaut werden konnte, als fruchtbarer Acker, der Wohlstand für alle abwerfen würde.

Auf ihrem Modernisierungskurs scheiterte die DDR jedoch. Verschiedene Projekte der Hochtechnologie wurden mit großem Aufwand verfolgt, waren aber nur vereinzelt von Erfolg gekrönt, so in der Chemieindustrie – jedenfalls solange billiges russisches Erdöl verfügbar war. Das Scheitern hatte verschiedene Ursachen und war zum Teil äußeren, zum Teil inneren Umständen geschuldet. Jedenfalls gelang der Durchbruch aus eigener Kraft weder in der zivilen Luftfahrtindustrie noch in der Kernenergie, weder in der Halbleitertechnik noch in der Mikroelektronik, und der Status als Hochtechnologieland blieb für den ostdeutschen Staat ein ferner Traum.

Die Anstrengungen um eine Wirtschaftsreform in den Sechzigerjahren gelten den einen als der von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuch, das hoffnungslose Mangelsystem der Planwirtschaft mit kapitalistischen Methoden zu optimieren. Andere sehen darin den bedauerlichen Fall, bei dem Halbherzigkeit in der Umsetzung und ein voreiliges Ende aus ideologischem Starrsinn den Nachweis verhinderten, dass der Marktwirtschaft nach westlichem Vorbild durchaus erfolgreich Paroli geboten werden kann. Wie auch immer – beim Versuch, die sozialistische Planwirtschaft auf Erfolgskurs zu bringen, zählten die Reformer auf die Hilfe der noch jungen Wissenschaft der Kybernetik. Besagter Wirtschaftswunder-Report berichtet denn auch unter anderem vom Beschluss des auf dem Parteitag verabschiedeten Programms, die kybernetische Forschung zu beschleunigen, um mit deren Erkenntnissen ein »dynamisches Volkswirtschaftssystem« herauszubilden. Die Kybernetik sollte als eine Art Wirtschaftswunderwaffe zum Einsatz kommen.