Der Widerstand wächst

Jahrzehntelang hatte sich der geringe Widerstand gegen die Umweltzerstörungen im Gefolge der sowjetischen Megaprojekte staatlicherseits gut beherrschen lassen. Als sich aber abzuzeichnen begann, dass der südsibirische Baikalsee von hydrotechnischen Maßnahmen und Industrieansiedlungen massiv betroffen sein würde, wuchs der Unmut. Der Baikal, inzwischen UNESCO-Weltnaturerbe, ist der tiefste und mit über 30 Millionen Jahren älteste sowie an Wasservolumen größte See der Erde – er bedeckt eine Fläche von der Größe Belgiens. Er weist das reinste Wasser der Welt auf, verfügt über ein Fünftel der weltweiten Süßwasserreserven und ist ein einzigartiges Biotop mit zahlreichen Tierarten, die nirgendwo anders vorkommen. Wegen der zunehmenden Verschmutzung des Baikalsees und der Pläne für schadstoffreiche und wasserintensive Papier- und Zellulosefabriken entstand in der Sowjetunion erstmals so etwas wie eine Umweltbewegung, zu deren rühriger Symbolfigur der Schriftsteller Valentin Rasputin wurde. Im Fall des Baikalsees konnte der Bau der Fabriken zwar nicht verhindert werden, doch hatten die Umweltschützer ihre Muskeln weithin sichtbar spielen lassen. Zum Anlass für einen größeren Zulauf zu dieser Bewegung geriet schließlich die politische Erstarrung und wirtschaftliche Stagnation der von einer Kreml-Gerontokratie regierten Sowjetunion, die sich rückblickend betrachtet seit den Siebzigerjahren ihrem Zerfall entgegenschleppte.

Größter Triumph der Umweltaktivisten aber war das Aus für das sibirische Flussprojekt, das bekämpft wurde, seitdem seine Umsetzung sich bedrohlich zu konkretisieren begann. Die Argumente waren mannigfaltig: Zunächst drohte angesichts der Schadstoffmengen, die die sowjetische Industrie in die Gewässer pumpte, im Norden eine zunehmende Schadstoffkonzentration, wenn weniger Wasser zum Verdünnen bereitstand. Die Feuchtgebiete im Norden würden bedroht, der Fischbestand der Flüsse dezimiert, Flora und Fauna nachhaltig geschädigt. Die Berechnungen hinsichtlich der Auswirkungen der geplanten Maßnahmen auf das Kaspische Meer wurden als schönfärberisch in Zweifel gezogen – und nicht zuletzt wurden Befürchtungen laut, gefährliche Klimaänderungen in der Polarregion stünden ins Haus. Andere Kritiker rechneten glaubhaft vor, derselbe Effekt, den die Projektbefürworter als Lösung für die sinkenden Wasserstände ins Feld führten, könnte bedeutend billiger erreicht werden, wenn für Bewässerungsmaßnahmen in der Sowjetunion jene Standards gelten würden, wie sie überall sonst auf der Welt bereits üblich waren. Denn die Wasserverschwendung der Bewässerungsanlagen und der heimischen Industrie war bekanntermaßen enorm. Und schließlich lag auf der Hand, dass die Maßnahmen zahllose Kulturdenkmäler im europäischen Teil Russlands zerstören, aber auch die Schönheit Sibiriens und seine Kultur in erheblichem Maße schädigen würden – von den Umsiedlungsmaßnahmen im großen Stil und ihren sozialen Folgen ganz abgesehen.

Auch im Fall des sibirischen Flussprojekts zeigte sich der Schriftsteller Valentin Rasputin als der rührigste Opponent der Projektbefürworter. Der gebürtige Sibirier war einer der sogenannten Dorfschriftsteller, die in Opposition zum parteikonformen »sozialistischen Realismus« eine traditionellere Erzählweise und konservativere Werte vertraten, darunter die Achtung der Schöpfung und die Abkehr vom blinden Industrialismus. Rasputin wurde im Westen berühmt durch sein Buch Abschied von Matjora, das Anfang der Achtzigerjahre auch verfilmt wurde. Es beschreibt die Endzeit des Dorfes Matjora, gelegen auf einer Flussinsel, die im Zuge des Staudammbaus von Bratsk alsbald überflutet wird. Das traditionelle und naturnahe Leben einer Dorfgemeinschaft vermittelt sich als klarer Gegenpol zum anonymen Großstadtleben, das den sozialistischen Vorstellungen nach modern und erstrebenswert ist, und nibelungenhaft stemmt es sich den staatlichen Räumkommandos entgegen. Die Vertreter der Dorfliteratur ersetzten die martialische Sowjetliteratur der Naturbezwingung durch antisowjetisch und mitunter durchaus nationalistisch gefärbte Lobpreisungen der Natur und traditioneller Lebensweisen. Ganz ausdrücklich forderten sie, der Mensch müsse sich in seinen Bedürfnissen einschränken, wenn er seinen Lebensraum nicht zerstören und die Würde der Natur nicht unentwegt verletzen wolle. Angesichts längst unübersehbar gewordener Umweltschäden fiel diese Umwidmung des Verhältnisses Mensch-Natur bei den Bevölkerungen vieler sozialistischer Länder auf fruchtbaren Boden. Weder die kämpferisch-futuristischen Visionen revolutionärer Autoren noch die Utopien der lichten Zukunft sozialistischer Industrialisierung ihrer staatstreuen Kollegen hatten ihre Versprechen einlösen können, da war der Rückgriff aufs Traditionelle naheliegend.

Als die Kritik nicht verstummen wollte, sich vielmehr immer lautstärker erhob, versuchten Projektplaner und Behörden gegenzusteuern. Bis 1985 wurden Versuche unternommen, die Bedenken ernst zu nehmen und das Projekt zu modifizieren, aber natürlich nicht aufzugeben. Gleichzeitig sollte der Widerstand nicht allzu sehr bekannt werden, was sich durch die Zensur zumindest im nationalen Rahmen steuern ließ. Nach dem Durchführungsbeschluss 1976 waren die Vorbereitungen weitergegangen und hatten erste Vorarbeiten begonnen, doch mit der Machtübernahme Michail Gorbatschows im Politbüro im Frühjahr 1985 kam die Wende. Bei mehr Transparenz und zunehmender öffentlicher Beteiligung an Staatsangelegenheiten – wie sie der neue Generalsekretär mit seiner Politik von Perestroika und Glasnost förderte – hatte der Plan zur Umkehrung der sibirischen Flüsse keine Chance mehr. Nunmehr ergingen Attacken gegen das Projekt von allen Seiten; zwei Schriftstellerkongresse im Dezember 1985 – der sogenannte Ökologiekongress – und im Juni 1986 bildeten ihre Höhepunkte. Jetzt verfügte Parteichef Gorbatschow 1986 den Stopp des Projekts. Zwar ist bis heute nicht klar, ob für diese Entscheidung die enormen Kosten oder der wachsende öffentliche Druck verantwortlich waren, man darf aber vermuten, dass beides eine gewichtige Rolle spielte. Am 20. August 1986 verkündete die Parteizeitung Prawda das Ende des ehrgeizigen Vorhabens.

Recherchen der Neunzigerjahre legten auf erschütternde Weise bloß, wie in sich korrupt das Behörden- und Institutskonglomerat gewesen war, das für das »Jahrhundertprojekt« verantwortlich zeichnete. Mit komplizierten Abhängigkeiten, Loyalitäten und allerlei Winkelzügen hatte ein Amt dem anderen Unterstützung und Rechtfertigung geboten, um gemeinsam den Kurs halten zu können. Denn alle Beteiligten saßen in einem Boot und konnten nur verlieren, wenn irgendwo eine Angriffsfläche geboten wurde und das Vorhaben unter Rechtfertigungsdruck geriet. Nur in sich stabil, war das Konstrukt bei einigem Druck von außen, wie es ihn jahrzehntelang in der Sowjetunion nicht hatte geben dürfen, in sich zusammengefallen, als wäre es ein windschiefes Kartenhaus.