19. Kapitel

 

»Ich habe eine phantastische Idee«, sagte Stephen Katz. Wir saßen bei mir zu Hause in Hanover. Es war zwei Wochen später, und am nächsten Morgen wollten wir nach Maine aufbrechen.

»Und die wäre?« sagte ich und versuchte, nicht allzu genervt zu klingen, denn phantastische Ideen sind nicht gerade Katz’ Stärke.

»Du weißt doch, wie schrecklich schwer diese Rucksäcke immer sind.«

Ich nickte. Davon konnte ich ein Lied singen.

»Ich habe mir da nämlich etwas überlegt. Das heißt, eigentlich überlege ich da schon sehr lange. Denn um die Wahrheit zu sagen, Bryson, vor diesem Rucksackgeschleppe habe ich« – er senkte die Stimme – »einen Scheißhorror.« Er nickte feierlich und wiederholte das Schlüsselwort. »Und da kam mir eine geniale Idee. Eine echte Alternative. Mach die Augen zu.«

»Warum?«

»Es soll eine Überraschung sein.«

Ich mache nicht gern die Augen zu, wenn man mich mit etwas überraschen will. Das konnte ich noch nie ausstehen. Aber ich tat ihm den Gefallen.

Ich hörte, wie er in seinem ausrangierten Armeesack kramte. »Wer trägt ständig schwere Lasten mit sich herum?« fuhr er fort. »Das war die Frage, die ich mir gestellt habe. Wer muß jeden Tag viel mit sich herumschleppen? He, noch nicht gucken. Und dann kam mir die Idee.« Er schwieg einen Moment lang, als würde er noch ein paar entscheidende Veränderungen vornehmen, damit seine Präsentation auch einen perfekten Eindruck machte. »Gut. Jetzt kannst du gucken.«

Ich nahm die Hände von den Augen. Katz strahlte vor Stolz und hatte sich eine Zeitungstasche des Des Moines Register umgehängt – einen von den gelben Säcken, die Zeitungsboten sich über die Schulter werfen, bevor sie sich aufs Rad schwingen und ihre Runde machen.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, sagte ich leise.

»Es war mir noch nie so ernst mit etwas, mein lieber Wanderfreund. Ich habe dir auch eine mitgebracht.« Er zog die für mich gedachte Tasche aus seinem Armeesack, sie war zusammengefaltet und noch originalverpackt in einer durchsichtigen Plastiktüte.

»Du kannst doch nicht mit so einer Zeitungstasche durch die Wildnis von Maine marschieren, Stephen.«

»Wieso nicht? Sie ist bequem, sie ist geräumig, sie ist wasserdicht – fast jedenfalls –, und sie wiegt nur ein paar Gramm. Das ist die ideale Wanderausrüstung. Sag mir eins: Wann hast du das letzte Mal einen Zeitungsboten mit einem Knochenbruch gesehen?« Er nickte einmal knapp und energisch mit dem Kopf in meine Richtung, als würde das jedes Gegenargument zunichte machen.

Ich bewegte meine Lippen, als Andeutung, daß ich etwas sagen wollte, aber Katz plapperte weiter, bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte.

»Und hier ist mein Plan«, fuhr er fort. »Wir beschränken unser Gepäck auf das Allernotwendigste – kein Kocher, keine Gaskartuschen, keine Nudeln, kein Kaffee, keine Zelte, keine Packbeutel. Wir wandern und kampieren wie richtige Gebirgsburschen. Hatte Daniel Boone vielleicht einen Kunstfaserschlafsack für drei Jahreszeiten? Nicht, daß ich wüßte. Wir nehmen nur Trockennahrung mit, Wasserflaschen und höchstens eine Garnitur Ersatzkleidung. Wir können unser Gepäck auf zwei bis drei Kilo reduzieren. Und alles« – er wedelte hocherfreut mit der Hand in dem leeren Beutel – »kommt hier rein.« Sein Gesichtsausdruck war ein stilles Flehen, ihn mit Beifall zu überschütten.

»Hast du je einen Gedanken daran verschwendet, wie lächerlich du mit dieser Tasche aussiehst?«

»Ja. Aber das ist mir egal.«

»Hast du je in Erwägung gezogen, was für ein nie versiegender Quell der Heiterkeit du für alle Menschen zwischen hier und Katahdin darstellen wirst?«

»Mir alles scheißegal.«

»Also gut. Hast du je daran gedacht, was ein Ranger wohl dazu sagen wird, wenn er dich mit einer Zeitungstasche auf den langen Marsch durch die Hundred Mile Wilderness aufbrechen sieht? Weißt du, daß sie das Recht haben, jeden zurückzuweisen, den sie physisch und psychisch für ungeeignet halten?« Das war eine glatte Lüge, aber es zeichnete sich eine vielversprechende Falte auf Katz’ Stirn ab. »Und hast du dir auch mal überlegt, daß der Grund dafür, warum Zeitungsboten keine Knochenbrüche haben, vielleicht darin liegt, daß sie die Tasche nur ungefähr eine Stunde pro Tag tragen müssen? Daß es vielleicht nicht allzu bequem sein dürfte, sie zehn Stunden am Stück bergauf zu tragen? Daß sie unentwegt gegen deine Beine schlackert und daß der Gurt dir deine Schultern wundscheuert? Guck doch mal, er kratzt dir ja jetzt schon am Hals.«

Er blickte verstohlen hinunter zu dem Gurt. Das einzig Positive an Katz’ großartigen Ideen ist, daß man sie ihm sehr schnell wieder ausreden kann. Er zog den Gurt über seinen Kopf und legte die Tasche wieder hin. »Also gut«, räumte er ein, »scheiß auf die Taschen. Aber diesmal nehmen wir nur leichtes Gepäck mit.«

Damit war ich einverstanden. Mehr noch, es war sogar ein absolut vernünftiger Vorschlag. Wir packten mehr ein, als Katz sich gewünscht hatte – ich bestand darauf, daß wir Schlafsäcke, warme Kleidung und unsere Zelte mitnahmen, auch wenn das eine größere Belastung für Katz darstellte, als ihm lieb war –, aber ich erklärte mich damit einverstanden, den Kocher, die Gaskartuschen, Töpfe und Pfannen zu Hause zu lassen. Wir konnten uns von mir aus von Trockennahrung ernähren – hauptsächlich Snickers, Rosinen und einer unverderblichen Salami, die sich Slim Jim nannte. Wir würden in den 14 Tagen schon nicht verhungern. Außerdem konnte ich keinen Nudeleintopf mehr sehen. Alles in allem sparten wir damit ungefähr zwei bis zweieinhalb Kilo pro Person ein, eigentlich lächerlich, aber Katz freute sich kindisch. Es kam nicht oft vor, daß er seinen Willen bekam, wenn auch nur teilweise.

 

Und so brachte uns meine Frau am nächsten Tag mit dem Auto bis tief in den schier endlosen Wald im Norden von Maine, von wo aus Katz und ich zu unserer Hundred-Mile-Wilderness-Tour aufbrechen wollten. Maine ist trügerisch. Es ist der zwölftkleinste Bundesstaat, aber er hat mehr unbesiedeltes Waldgebiet – vier Millionen Hektar – als jeder andere Bundesstaat außer Alaska. Auf Fotos sieht es immer friedlich und verlockend aus, wie ein einziger großer Park, mit Hunderten kühlen, tiefen Seen und einer welligen, nebelverhangenen Gebirgslandschaft, so weit das Auge reicht. Nur der Katahdin bietet mit seinen nackten Felshängen unterhalb des Gipfels und seiner überraschend brachialen Erscheinung einen einschüchternderen Anblick. In Wahrheit ist aber alles ziemlich anstrengend.

Die Waldhüter in Maine haben eine gewisse natürliche Begabung dafür, die steinigsten Anstiege und die gefährlichsten Hänge für den Trail auszusuchen, und von denen besitzt Maine eine atemberaubende Menge. Auf seinen 455 Kilometern durch Maine verlangt der Appalachian Trail von dem Wanderer, der von Süden nach Norden geht, 30.000 Höhenmeter Kletterei, also dreimal den Everest rauf und runter. Mittendrin liegt die berühmte Hundred Mile Wilderness, die von dem kleinen Ort Monson bis zu einem Campingplatz in Abol Bridge reicht, ein Stück hinter dem Mount Katahdin. Es sind genau 160,44 Kilometer Waldwanderweg, ohne ein Haus, einen Laden, ein Telefon oder eine asphaltierte Straße – der abgelegenste Abschnitt des gesamten AT. Wenn einem hier etwas passiert, ist man auf sich allein gestellt und kann schon an einer infizierten Blutblase sterben.

Die meisten brauchen eine Woche bis zehn Tage, um diese berüchtigte Wildnis zu durchqueren. Da wir zwei Wochen zur Verfügung hatten, ließen wir uns von meiner Frau in Caratunk absetzen, einem abgeschiedenen Ort am Kennebec River, 61 Kilometer vor Monson und dem offiziellen Ausgangspunkt der Strecke. So blieben uns drei Tage, um uns einzustimmen, und wir hatten Gelegenheit, uns in Monson noch einmal mit dem Nötigsten einzudecken, bevor wir uns endgültig in die Waldwildnis begaben. Ich war bereits in der Woche, bevor Katz dazustieß, zur Erkundung weiter westlich, um den Rangeley und den Flagstaff Lake, ein bißchen gewandert, und ich hatte das Gefühl, als würde ich das Gelände einigermaßen kennen. Trotzdem war es der reinste Schock.

Es war das erste Mal seit vier Monaten, daß ich wieder einen vollbepackten Rucksack aufsetzte. Ich konnte kaum fassen, wie schwer das Ding war, konnte kaum fassen, daß ich es je hatte fassen können. Der Druck war unausweichlich und entmutigend. Aber wenigstens war ich zwischendurch mal gewandert. Katz, das war sofort zu sehen, fing wieder bei Null an – eigentlich noch davor, genauer gesagt. Von Caratunk aus führte ein sanfter, acht Kilometer langer Anstieg zu einem großen See, dem Pleasant Pond. Das sollte eigentlich kein Problem sein, aber ich bemerkte gleich, daß Katz mit unglaublicher Anstrengung einen Fuß vor den anderen setzte und schwer atmete. Sein Gesicht zeigte einen entsetzten Ausdruck, als würde er sich fragen: Wo bin ich hier bloß gelandet?

Wenn ich mich nach seinem Befinden erkundigte, konnte er immer nur in höchst erstauntem Tonfall »Mann, oh Mann!« von sich geben, und als er bei der ersten Pause nach einer Dreiviertelstunde den Rucksack auf den Boden plumpsen ließ, entfuhr ihm ein aus tiefster Seele kommendes »Schaaaaaaeiße!« – keuchend und schleppend, ein Geräusch, als würde sich jemand auf einem prallen Kissen niederlassen. Es war ein schwüler Nachmittag, und Katz war schweißüberströmt. Er holte eine Wasserflasche hervor und trank sie zur Hälfte aus. Dann sah er mich mit einem leicht verzweifelten Blick an, setzte den Rucksack wieder auf und tat wortlos seine Pflicht.

Pleasant Pond ist ein Ferienort. Man hörte das vergnügte Kreischen von Kindern, die keine hundert Meter entfernt im Wasser planschten und schwammen – obwohl wir von dem See selbst durch die Bäume hindurch nichts erkennen konnten. Ohne den Lärm hätten wir gar nicht gemerkt, daß es dort einen See gab, eine ernüchternde Erinnerung daran, wie beklemmend dicht ein Wald sein kann. Hinter dem See erhob sich der Middle Mountain, schlappe 760 Meter hoch, aber in einem steilen Winkel – bei heißem Wetter und einem klobigen Sack hinten drauf, der auf die schwachen Schultern drückt, ist das doppelt so anstrengend. Ich trabte lustlos weiter bis zum Gipfel. Katz fiel sehr schnell weit zurück und kam mit unendlicher Langsamkeit hinterhergeschlurft.

Es war bereits nach sechs, als ich auf der anderen Seite am Fuß des Berges ankam und an einem Flüßchen namens Baker Stream, neben einem grasbewachsenen, kaum benutzten Forstweg, einen guten Lagerplatz für uns fand. Ich wartete ein paar Minuten auf Katz und schlug dann mein Zelt auf. Als er nach 20 Minuten immer noch nicht kam, machte ich mich auf die Suche nach ihm. Es dauerte fast eine Stunde, bis ich ihn schließlich fand; seine Augen waren ganz glasig.

Ich nahm ihm den Rucksack ab und stöhnte bei der nicht ganz unerwarteten Feststellung, daß er einigermaßen leicht war.

»Was ist mit deinem Rucksack passiert?«

»Hab’ ein paar Sachen weggeworfen«, erwiderte er mißmutig.

»Was für Sachen?«

»Klamotten und so.« Er war unsicher, ob er beschämt oder aggressiv reagieren sollte. Er entschied sich für letzteres. »Als erstes diesen blöden Pullover« Wir hatten uns beim Packen etwas über die Notwendigkeit von Wollsachen gestritten.

»Aber es könnte kalt werden. Das Wetter ist wechselhaft in den Bergen.«

»Ja, ja. Wir haben August, Bryson. Falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte.«

Es hatte nicht viel Zweck, mit ihm zu diskutieren. Als wir das Lager erreichten und er sein Zelt aufschlug, warf ich einen Blick in seinen Rucksack. Er hatte fast seine ganze Ersatzkleidung weggeworfen und anscheinend auch einigen Proviant.

»Wo sind die Erdnüsse geblieben?« fragte ich ihn. »Und deine , Salami?«

»Wir brauchen den ganzen Scheiß nicht. Es sind doch nur drei Tage bis Monson.«

»Der Proviant war hauptsächlich für die Hundred Mile Wilderness gedacht, Stephen. Wir wissen doch gar nicht, was es für Lebensmittel in Monson gibt.«

»Ach so.« Er sah mich erschrocken und reumütig an. »Ich fand, es war einfach zu viel für drei Tage.«

Ich wühlte verzweifelt in seinem Rucksack, dann suchte ich den Boden ab. »Wo ist deine zweite Wasserflasche?«

Er setzte eine dämliche Miene auf. »Die habe ich weggeworfen. «

»Hast du wirklich deine Wasserflasche weggeworfen?« Das war der reinste Wahnsinn. Wenn man eins beim Wandern im August absolut braucht, dann literweise Trinkwasser.

»Sie war zu schwer.«

»Natürlich ist die schwer. Wasser ist immer schwer. Aber es ist nun mal lebensnotwendig, findest du nicht?«

Er sah mich wieder hilflos an. »Ich mußte etwas Gewicht loswerden. Ich war verzweifelt.«

»Nein. Saublöd.«

»Ja, das auch«, pflichtete er mir bei.

»Wenn du nur nicht immer solchen Scheiß machen würdest, Stephen.«

»Ich weiß«, sagte er bußfertig.

Während Katz weiter sein Zelt aufbaute, ging ich los, um für den nächsten Morgen Wasser zu filtern. Baker Stream war eigentlich ein richtiger Fluß – breit, flach, klar – und sah im Licht des Sommerabends, mit den überhängenden Zweigen im Hintergrund und den letzten Sonnenstrahlen, die auf der Wasseroberfläche funkelten, sehr malerisch aus. Als ich so am Ufer kniete, spürte ich irgend etwas Merkwürdiges – ich weiß nicht was – zwischen den Bäumen links hinter mir, das mich veranlaßte aufzustehen und durch das Gestrüpp am Ufer zu schauen. Weiß der Himmel, was mich dazu trieb, mich umzusehen, denn bei dem melodischen Geplätscher des Flußwassers hätte ich gar nichts hören können – jedenfalls starrte mich aus dem dunklen Unterholz knapp fünf Meter von mir entfernt mit haßerfülltem Blick ein Elch an, voll ausgewachsen, ein Weibchen, wie ich vermutete, da es kein Geweih trug. Offenbar war es auf dem Weg zu seiner Wasserstelle gewesen, als es durch meine Anwesenheit aufgehalten worden war. Jetzt schien es unentschlossen, was es tun sollte.

Mitten im Wald einem wilden Tier, das größer ist als man selbst, von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen ist eine außergewöhnliche Erfahrung. Man weiß natürlich, daß diese Tiere dort leben, aber man erwartet in keinem Moment, tatsächlich einem zu begegnen, und schon gar nicht, eines aus so unmittelbarer Nähe zu sehen. Dieses hier war so nah, daß ich den Schwärm fliegenähnlicher Insekten erkennen konnte, die seinen Kopf umkreisten. Wir schauten uns minutenlang in die Augen, beide unsicher, wie wir uns verhalten sollten. Es lag etwas Abenteuerliches in dieser Begegnung, das war deutlich zu spüren, aber auch etwas Tiefgründiges und Elementares – eine Art gegenseitige Anerkennung, die ein dauerhafter Blickkontakt mit sich bringt. Das war das Aufregende daran – das Gefühl, daß in unserer behutsamen, gegenseitigen Respektbezeugung gewissermaßen eine Begrüßung zum Ausdruck kam. Ich war hingerissen.

Kurz zuvor hatte ich irgendwo zu meinem Ärger gelesen, daß man in New England wieder angefangen hat, Jagd auf Elche zu machen. Es ist mir ein Rätsel, wie man auf so ein harmloses und zurückhaltendes Tier wie einen Elch schießen kann, aber Tausende von Menschen finden Vergnügen daran, offenbar sogar so viele, daß einige Bundesstaaten dazu übergegangen sind, die Jagdlizenzen zu verlosen. 1996 gingen für die 1.500 in Maine zu vergebenden Jagdscheine 82.000 Anträge ein, und über 12.000 Antragsteller aus anderen Bundesstaaten zahlten bereitwillig 20 Dollar Gebühr nur für die Erlaubnis, überhaupt an der Verlosung teilnehmen zu dürfen.

Die Jäger wollen einem weismachen, Elche seien wilde und bösartige Tiere. Unsinn. Elche sind friedlich wie Kühe, die von einem Dreijährigen am Strick herumgeführt werden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Elche sind die seltsamsten Geschöpfe, die je in der Wildnis gelebt haben, und sie sind auf liebenswerte Weise hilflos. Alles an einem Elch – die spindeldürren Beinchen, der typische, unentwegt verwirrte Gesichtsausdruck, das komische, wie zwei Topfhandschuhe geformte Geweih – -wirkt wie ein einziger possierlicher Witz der Evolution. Das Tier ist erstaunlich unbeholfen: Es läuft, als wüßte ein Bein nicht, was das andere macht. Was den Elch jedoch besonders auszeichnet, ist der unübertreffliche Mangel an Intelligenz. Wenn man auf einem Highway fährt und unterwegs tritt ein Elch aus dem Wald und stellt sich in den Weg, starrt einen das Tier erstmal minutenlang an -Elche sind bekannt für ihre Kurzsichtigkeit –, dann, urplötzlich, versucht es wegzurennen, jedes Bein in eine andere Richtung. Es spielt keine Rolle, daß sich zu beiden Seiten des Highway Zigtausende Hektar Wald erstrecken. Dem Elch ist das egal. Ahnungslos läuft er zuerst Richtung New Brunswick, bevor ihn seine ungelenken Schritte auf halbem Weg zurück in den Wald treiben, wo er, kaum angekommen, sofort wieder stehenbleibt und seinen gewohnt verwirrten Gesichtsausdruck aufsetzt, als sagte er sich: Hallo, Wald. Wie bin ich bloß hierher gekommen? Elche sind dermaßen konfus im Kopf, daß sie, sobald das Geräusch eines sich nähernden Autos oder Lastwagens zu hören ist, sogar aus dem Wald heraus auf den Highway stürmen, in der Hoffnung, dort vor dem Verkehr sicher zu sein.

Erstaunlicherweise gehört der Elch, trotz seines exorbitanten Mangels an Grips und des eigenartig getrübten Überlebensinstinkts, zu den Tieren in Nordamerika, die am längsten überlebt haben. Außer Elchen tummelten sich früher noch Mastodons, Säbelzahntiger, Wölfe, Karibus, Wildpferde und sogar Kamele im Osten der Vereinigten Staaten, aber alle gingen allmählich ihrer Ausrottung entgegen, während die Elche einfach weiter durch die Lande trabten. Das war nicht immer so. Schätzungen zufolge lebten um die Jahrhundertwende nur noch ein Dutzend Elche in New Hampshire und in Vermont vermutlich kein einziges Exemplar mehr. Heute gibt es in New Hampshire ungefähr 5.000 Elche, in Vermont etwa 1.000 und in Maine an die 30.000. Diese konstanten beziehungsweise steigenden Zahlen sind der Grund dafür, daß die Tiere wieder zur Jagd freigegeben worden sind. Hierbei gilt es jedoch zweierlei zu bedenken: Zunächst einmal sind die Zahlen reine Spekulation. Elche treten nicht zum Zählappell an. Manche Biologen sind der Ansicht, die Schätzungen könnten bis zu 20 Prozent zu hoch liegen, was bedeuten würde, daß die Jagd keine Auslese wäre, sondern eine pure Metzelei. Nicht weniger relevant ist das Argument, daß es zutiefst und unzweifelhaft unrecht ist, ein so einfältiges und anspruchsloses Tier wie den Elch zu töten. Dieses hier hätte ich mit einer Schleuder erlegen können, mit einem Stein oder einem Stock -wahrscheinlich sogar mit einer zusammengefalteten Zeitung –, dabei wollte es doch nur einen Schluck Wasser trinken. Da kann man doch gleich Jagd auf Kühe machen.

Vorsichtig, um das Tier nicht aufzuschrecken, schlich ich davon, um Katz Bescheid zu sagen. Als wir wiederkehrten, war der Elch ans Wasser getreten und trank ungefähr sieben Meter flußaufwärts. »Meine Güte«, keuchte Katz. Er war begeistert, wie ich zufrieden feststellte. Der Elch schaute zu uns herüber, kam zu dem Schluß, daß wir ihm nichts Böses wollten, und trank weiter. Wir beobachteten das Weibchen noch ein paar Minuten lang, aber die Stechmücken fraßen uns dabei fast auf. Also rissen wir uns von dem Anblick los und kehrten mit einem erhabenen Gefühl zu unserem Zeltlager zurück. Es war wie eine Bestätigung – wir waren jetzt wirklich in der Wildnis angekommen -und eine erfreuliche und angemessene Belohnung für einen Tag der Schinderei.

Wir nahmen unser Abendessen ein, Slim Jims, Rosinen und Snickers, und zogen uns anschließend vor den Dauerattacken der Mücken in unsere Zelte zurück. Während wir so dalagen, sagte Katz ziemlich fröhlich: »Anstrengender Tag heute. Ich bin geschafft.« Redseligkeit zur Schlafenszeit sah ihm gar nicht ähnlich.

Ein zustimmendes Räuspern meinerseits.

»Ich hatte vergessen, wie anstrengend es ist.«

»Ja, ich auch.«

»Aber die ersten Tage sind immer anstrengend, oder?«

»Ja.«

Er stieß zum Abschluß einen Seufzer aus und gähnte herzhaft. »Morgen wird es besser«, sagte er, immer noch gähnend. Wahrscheinlich sollte das heißen, daß er morgen keine Sachen wegwerfen würde. »Also dann, gute Nacht«, fügte er hinzu.

Ich sah wie gebannt in die Richtung, aus der die Stimme kam. In all den Wochen unserer gemeinsamen Zeltlager war dies das erste Mal, daß er mir eine gute Nacht wünschte.

»Gute Nacht«, sagte ich.

Ich drehte mich auf die andere Seite. Er hatte natürlich recht. Die ersten Tage sind immer schlimm. Morgen würde es bestimmt besser. Minuten später waren wir beide eingeschlafen.

Wir hatten uns beide geirrt. Der nächste Tag fing ganz gut an, mit einem Morgenrot, das heiße Temperaturen versprach. Es war das erste Mal während unserer Wanderung, daß wir bei warmem Wetter aufstanden, und wir freuten uns über diese Premiere. Wir packten unsere Zelte ein, frühstückten Rosinen und Snickers und brachen auf. Um neun Uhr stand die Sonne bereits hoch und knallte erbarmungslos auf uns nieder. Normalerweise ist es im Wald selbst an heißen Tagen einigermaßen kühl, aber heute war die Luft stickig und feucht, geradezu tropisch. Zwei Stunden nach unserem Aufbruch kamen wir an eine schätzungsweise knapp einen Hektar große Lagune voller Schilf, umgestürzter Baumstämme und den nackten Rümpfen abgestorbener Bäume. Libellen tanzten auf der Wasseroberfläche. Am anderen Ufer erhob sich ein gigantischer Koloß, der Moxie Bald Mountain, und wartete auf uns. Aber zunächst stellten wir mit großer Beunruhigung fest, daß der Weg am Rand des Sees abrupt endete. Katz und ich sahen uns an – hier konnte etwas nicht stimmen. Zum ersten Mal seit damals in Georgia fragten wir uns ernsthaft, ob wir uns verirrt hatten. (Wer weiß, wie sich Chicken John in so einer Situation verhalten hätte.) Wir gingen den gleichen Weg ein gutes Stück zurück, überprüften irritiert unsere Karte und unseren Trail-Führer, suchten nach einer Alternativroute um den See herum, durch das dichte, die Haut aufschürfende Unterholz, und gelangten schließlich zu der Erkenntnis, daß man offenbar von uns erwartete, daß wir den See durchquerten. Katz entdeckte auf der gegenüberliegenden Seite, knapp 80 Meter entfernt, die Fortsetzung des Wegs und das typische weiße Wanderzeichen des Appalachian Trail. Wir mußten also durch das Wasser waten.

Katz ging voraus, barfuß und in Boxershorts, nahm einen langen Stock zur Hilfe und stakte damit durch das Gewirr von halb unter, halb über Wasser liegenden Baumstämmen. Ich folgte ihm in gebührendem Abstand auf die gleiche Weise und achtete darauf, daß ich mit meinem Gewicht nicht einen Baumstamm belastete, auf dem er gerade ging. Die Stämme waren mit einer dicken Moosschicht bedeckt und schnellten hoch oder drehten sich, wenn man auf sie trat. Zweimal wäre Katz beinahe gestürzt. Nach ungefähr 25 Metern verlor er gänzlich den Halt und fiel platschend, mit rudernden Armen und lautem Wehgeschrei in das trübe Wasser. Er tauchte vollständig unter, tauchte auf, ging wieder unter und kam heftig strampelnd und mit den Armen fuchtelnd hoch, so daß ich im ersten Moment dachte, er würde ertrinken. Das Gewicht seines Rucksacks zog ihn nach hinten und hinderte ihn daran, sich aufzurichten oder wenigstens den Kopf über Wasser zu halten. Ich wollte gerade meinen eigenen Rucksack absetzen und mich in die Fluten stürzen und ihm zur Hilfe eilen, als Katz einen Baumstamm zu fassen bekam und sich an ihm in eine aufrechte Haltung hochzog. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust. Er klammerte sich an den Baumstamm, keuchte schwer vor Anstrengung, wieder zu Atem zu kommen und sich zu beruhigen. Er hatte offenbar einen gehörigen Schrecken bekommen.

»Geht es wieder?« fragte ich ihn.

»Alles prima«, erwiderte er. »Alles prima. Ich frage mich nur, warum sie hier keine Krokodile ausgesetzt haben, dann wäre es wenigstens ein richtiger Abenteuerurlaub.«

Ich kämpfte mich weiter vorwärts, aber nach wenigen Schritten fiel ich auch ins Wasser. Es gab ein paar Momente, da sah ich die Welt, surreal und wie in Zeitlupe, aus der ungewöhnlichen Perspektive eines Tauchers, während sich meine Hand verzweifelt nach einem Baumstamm ausstreckte, ihn aber knapp verfehlte – all das geschah in einer seltsamen Stille, wie in einer Blase –, bevor Katz mir mit schaufelnden Bewegungen zur Hilfe eilte, mich zurück in die Welt des Lichts und der Geräusche zog und auf die Beine stellte. Ich war erstaunt, wie kräftig er war.

»Danke«, prustete ich.

»Keine Ursache.«

Wir wateten mit schweren Schritten ans andere Ufer, fielen abwechselnd hin und halfen uns gegenseitig wieder auf die Beine, krochen die matschige Böschung hoch, halb verrottete Pflanzen im Schlepptau und mit triefenden Rucksäcken. Wir setzten unsere Last ab und ließen uns völlig durchnäßt und erledigt auf dem Boden nieder und schauten hinaus auf die Lagune, als hätte diese uns soeben einen bitterbösen Streich gespielt. Ich wüßte nicht, wann ich mich je so früh am Tag so erschöpft gefühlt hatte. Plötzlich hörten wir Stimmen, und zwei junge Hiker, locker, flockig und ziemlich sportlich, traten aus dem Wald hervor. Sie begrüßten uns mit einem Kopfnicken und schauten abschätzend auf das Wasser.

»Da müßt ihr wohl oder übel durch«, sagte Katz.

Einer der beiden sah ihn erstaunt, aber nicht unfreundlich an. »Seid ihr das erste Mal in dieser Gegend?« fragte er.

Wir nickten.

»Ich will euch ja nicht den Mut nehmen, aber ihr habt gerade erst damit angefangen, naß zu werden.«

Mit diesen Worten hoben die beiden ihre Rucksäcke über den Kopf, wünschten uns alles Gute und stiegen ins Wasser. Sie wateten geschickt in knapp 30 Sekunden hindurch – Katz und ich hatten dafür die gleiche Anzahl von Minuten gebraucht-, stiegen am anderen Ufer heraus, als hätten sie ein Fußbad genommen, setzten die trockenen Rucksäcke wieder auf, winkten kurz zu uns herüber und verschwanden.

Katz holte einmal tief und bedächtig Luft – es war teils ein Seufzer, teils die Freude über die Fähigkeit, wieder atmen zu können. »Ich will nicht destruktiv sein, Bryson, wirklich nicht, das schwöre ich dir, aber ich weiß nicht, ob ich für so etwas der Richtige bin. Könntest du deinen Rucksack einfach so über den Kopf halten?«

»Nein.«

Mit dieser Vorahnung setzten wir uns die Rucksäcke wieder auf und stapften klatschnaß den Moxie Bald Mountain hinauf.

 

Die Wanderung entlang des Appalachian Trail ist das Anstrengendste, was ich je unternommen habe, und der Abschnitt in Maine war bei weitem der anstrengendste Teil. Das lag zum einen an der Hitze. Maine, das zu den Bundesstaaten mit eher gemäßigtem Klima zählt, wurde gerade von einer mörderischen Hitzewelle überrollt. In der sengenden Sonne strahlten die schattenlosen Granitflächen des Moxie Bald eine wahre Gluthitze ab, und selbst im Wald war die Luft drückend und feucht, als hauchten uns die Bäume und Blätter ihren heißen Atem entgegen. Wir schwitzten wie die Tiere und schütteten Unmengen von Wasser in uns hinein, hatten aber trotzdem permanent Durst. Manchmal war Wasser im Überfluß vorhanden, aber meistens gab es über weite Strecken keinen einzigen Tropfen, so daß wir nie sicher sein konnten, wieviel wir vernünftigerweise zu uns nehmen konnten, ohne später knapp dran zu sein. Selbst bei vollem Vorrat machte es sich jetzt bemerkbar, daß Katz eine Flasche weggeworfen hatte. Zu alldem kamen noch die erbarmungslosen Insekten, das beunruhigende Gefühl der Abgeschiedenheit und das schwierige Gelände hinzu.

Katz reagierte darauf so, wie ich es vorher noch nicht bei ihm erlebt hatte. Er zeigte eine verbissene Entschlossenheit, als gäbe es nur eine Möglichkeit, mit diesem Problem fertig zu werden: Augen zu und durch.

Am nächsten Morgen gelangten wir in aller Frühe an den ersten von mehreren Wasserläufen, die wir durchqueren mußten. Er hieß Bald Mountain Stream, aber in Wahrheit handelte es sich um einen richtigen Fluß – breit, bewegt und im Flußbett übersät mit großen Steinbrocken. Er hatte etwas sehr Einnehmendes an sich – die Oberfläche glitzerte in der Morgensonne wie Tausende von Pailletten, und das Wasser war unglaublich klar –, aber es herrschte eine starke Strömung, und vom Ufer aus konnte man nicht erkennen, wie tief er in der Mitte war. Es gab einige größere Flüsse in der Nähe, zu denen mein Appalachian Trail Guide to Maine naiv meinte, es sei »schwierig oder gefährlich, sie bei Hochwasser zu durchqueren«. Ich beschloß, diese Information lieber nicht an Katz weiterzugeben.

Wir zogen Schuhe und Strümpfe aus, krempelten die Hosenbeine hoch und stiegen vorsichtig in das eisige Wasser. Die Steine auf dem Grund hatten alle möglichen Größen und Formen -flach, eiförmig, rund – und drückten hart gegen die Fußsohlen, sie waren mit einer glitschigen, grünlichen Schicht bedeckt, die unglaublich rutschig war. Ich hatte noch keine drei Schritte getan, als ich ausglitt und schmerzhaft auf dem Hintern landete. Ich rappelte mich halbwegs hoch, rutschte aber wieder aus und stürzte erneut, taumelte ein, zwei Meter seitwärts, kippte dann hilflos vornüber, konnte mich mit den Händen auffangen und hockte schließlich auf allen vieren wie ein Hund im Wasser. Beim Aufprall rutschte mir der Rucksack über den Kopf, und die Schuhe, die ich mit den Schnürsenkeln an das Rucksackgestell gebunden hatte, wurden in eine Art Umlaufbahn geschleudert. Sie flogen in einem großen eleganten Bogen seitlich am Rucksack vorbei, stießen gegen meinen Schädel, knallten aufs Wasser auf und schaukelten dann in der Strömung. Während ich dasaß und mir einredete, daß dies alles eines schönen Tages nur noch Erinnerung sein würde, kamen zwei Burschen, die aussahen wie Klone der beiden jungen Männer vom Vortag, selbstsicheren Schrittes und Wasser spritzend vorbeigeschlendert, ihre Rucksäcke über ihre Köpfe haltend.

»Hingefallen?« sagte der eine munter.

»Nein. Ich wollte mir nur mal das Wasser von unten ansehen.« Schlaumeier.

Ich ging zurück ans Ufer, zog meine durchweichten Schuhe an und stellte fest, daß es deutlich einfacher war, den Fluß mit festem Schuhwerk statt barfuß zu durchqueren. Ich konnte mich einigermaßen aufrecht halten, und die Steine schmerzten auch nicht mehr so wie vorhin an den nackten Füßen. Ich ging vorsichtig, überrascht von der starken Strömung in der Mitte – jedesmal, wenn ich ein Bein hob, wollte der Wasserdruck es weiter stromabwärts absetzen, so als gehörte es zu einem Klapptisch –, aber der Fluß war an keiner Stelle tiefer als einen knappen Meter, und ich gelangte ohne einen weiteren Sturz ans andere Ufer.

Katz hatte in der Zwischenzeit eine andere Methode entdeckt, den Fluß zu durchqueren. Er benutzte die Brocken im Wasser als Trittsteine, fiel aber zum Schluß mitten in einen tosenden Strudel an einer Stelle, die ziemlich tief aussah. Er stand da, die Stirn in Falten. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, wie er dahingeraten war – der Brocken ragte einsam aus der weiten Wasserfläche heraus, um ihn herum lauter gefährliche Stromschnellen. Katz wußte nicht ein noch aus. Er versuchte, sich langsam in das silbrig schimmernde Wasser hinabzulassen und die letzten zehn Meter zum Ufer zu waten, wurde aber auf der Stelle wie ein Spielzeugboot weggeschwemmt. Zum zweiten Mal innerhalb von 48 Stunden dachte ich, er würde ertrinken – er machte jedenfalls einen ziemlich hilflosen Eindruck –, aber die Strömung trieb ihn zu einer seichten Stelle mit glitzernden Kieselsteinen sechs Meter stromabwärts, wo er Wasser spuckend auf alle viere kam, ans Ufer kroch und gleich weiter in den Wald stiefelte, ohne einen Blick zurückzuwerfen, als handele es sich um die normalste Sache der Welt.

Und so ging es im Eiltempo bis nach Monson, über einen beschwerlichen Pfad und durch noch mehr Flüsse. Unterwegs sammelten wir Narben und Schrammen auf unserer Haut, und die Insektenstiche verwandelten unseren Rücken in eine Reliefkarte. Am dritten Tag kamen wir wie benommen vor lauter Wald und verdreckt an eine sonnenbeschienene Straße, die erste seit Caratunk. Das letzte Stück bis zu dem verlassenen Flecken Monson war ein Sommerspaziergang. Unweit vom Zentrum des Städtchens befand sich ein altes, mit Schindeln verkleidetes Haus. Im Vorgarten stand eine bemalte Holzskulptur, ein bärtiger Hiker, der ein Schild trug: »Willkommen bei Shaw’s.«

Das Shaw’s ist das berühmteste Gästehaus am Appalachian Trail, zum einen, weil es die letzte zivilisierte Rast für jeden ist, der sich auf die Hundred-Mile-Wilderness-Tour begibt, und umgekehrt die erste, für alle, die sie gerade hinter sich gelassen haben, zum anderen aber auch, weil in dem Haus eine freundliche Atmosphäre herrscht und es preisgünstig ist. Für 28 Dollar pro Person bekamen wir ein Zimmer, Abendessen und Frühstück und konnten dazu kostenlos Dusche, Waschmaschine und den Aufenthaltsraum benutzen. Das Haus wird von Keith und Pat Shaw geführt. Die Gründung ihrer Herberge vor 20 Jahren verdankten die beiden einem Zufall. Keith brachte eines Tages einen ausgehungerten Wanderer mit nach Hause, der später weitererzählte, wie nett man ihn hier aufgenommen hatte. Bereits wenige Wochen danach, berichtete Keith stolz, als wir uns ins Gästebuch eintrugen, hätten sie den zwanzigtausendsten Hiker begrüßen können.

Es war noch eine Stunde Zeit bis zum Abendessen. Katz lieh sich fünf Dollar von mir – für Limonade, wie ich annahm – und verschwand auf sein Zimmer. Ich duschte, stopfte einen Haufen Wäsche in die Maschine und ging nach draußen auf den Rasen vor dem Haus, wo ein paar robuste Gartenstühle standen, auf die ich meinen müden Leib zu betten gedachte. Ich wollte mir eine Pfeife anzünden und mich der glückseligen Behaglichkeit eines sommerlichen Spätnachmittags und der angenehmen Vorfreude auf ein wohlverdientes Abendessen hingeben. Aus einem Fenster in der Nähe hörte ich das Klappern von Pfannen, wenig später ein Brutzeln. Ich wußte nicht, was dort gebraten wurde, aber es roch lecker.

Nach einer Minute trat Keith vor die Tür und setzte sich zu mir. Keith war ein alter Mann, weit über 60, er hatte fast keine Zähne mehr und einen Körper, der so aussah, als hätte er schon so manches aushaken müssen. Keith war ziemlich nett.

»Du hast doch hoffentlich nicht den Hund gestreichelt, oder?« sagte er.

»Nein.« Ich hatte das Tier vom Fenster aus gesehen, ein häßlicher, bösartiger Mischling, der auf der Rückseite des Hauses angebunden war und sich bei jedem Geräusch und jeder kleinsten Bewegung im Umkreis von 100 Metern unangemessen in Rage kläffte.

»Nicht, daß du auf die Idee kommst, ihn zu streicheln. Laß dir das gesagt sein: bloß nicht den Hund streicheln. Gerade letzte Woche hat einer ihn gestreichelt, obwohl ich ihn gewarnt hatte. Der Hund hat ihm in die Eier gebissen.«

»Wirklich?«

Er nickte. »Er wollte gar nicht wieder loslassen. Du hättest den Kerl jaulen hören sollen.«

»Wirklich?«

»Ich mußte dem Hund eins mit der Hake überbraten, damit er losließ. Glaub mir, das ist der gemeinste Scheißköter, den ich je gesehen habe.«

»Und wie ist es dem armen Kerl ergangen?«

»Na ja, gefreut hat er sich nicht gerade darüber, das kann ich dir sagen.« Er kratzte sich nachdenklich am Hals, als fiele ihm ein, daß er sich demnächst mal wieder rasieren müßte. »War auch noch ein Weitwanderer. Ist den ganzen Weg von Georgia bis hierher zu Fuß gegangen. Ziemlich weit, um sich seine Eier anknabbern zu lassen.« Mit diesen Worten stand er auf, um nach dem Abendessen zu sehen.

Das Abendessen wurde an einem langen Eßtisch serviert, und es wurde großzügig aufgetragen, Platten mit Fleisch, Schüsseln mit Kartoffelpüree und Maiskolben, ein windschiefer Holzteller mit Brot und ein Napf mit Butter. Katz kam etwas später dazu, frisch geduscht und rundum zufrieden. Er wirkte außergewöhnlich, fast übertrieben energiegeladen und kitzelte mich beim Vorübergehen spontan am Rücken, was überhaupt nicht seine Art war.

»Geht’s gut?« fragte ich.

»Mir ist es noch nie so gut gegangen, mein alter Wanderfreund, noch nie.«

Es setzten sich noch zwei andere Gäste zu uns an den Tisch, ein niedliches, etwas verschüchtert wirkendes und irgendwie züchtiges Pärchen, beide sonnengebräunt und kräftig und ebenfalls frisch geduscht. Katz und ich begrüßten sie mit einem Lächeln und fingen an, unsere Teller vollzuladen, als wir merkten, daß die beiden ein Tischgebet murmelten. Es schien kein Ende zu nehmen. Wir fingen trotzdem an zu essen.

Es schmeckte phantastisch. Keith agierte als Kellner und bestand darauf, daß wir reichlich aßen. »Wenn ihr es nicht eßt, kriegt es der Hund«, sagte er. Das Vieh ließ ich nur zu gern hungern.

Die beiden jungen Leute waren Weitwanderer aus Indiana und am 28. März am Springer Mountain aufgebrochen – ein Datum, das jetzt, in der sommerlichen Hitze eines Augustabends, unendlich weit entfernt war und irgendwie nach Schnee roch – und waren 141 Tage am Stück gewandert. Sie hatten 3.291,82 Kilometer zurückgelegt und noch 184,9 Kilometer vor sich.

»Dann habt ihr es ja bald geschafft«, sagte ich, nur um ein Gespräch anzuknüpfen.

»Ja«, antwortete die Frau. Sie sagte es betont langsam, fast in zwei Silben, als wäre ihr der Gedanke noch nie vorher gekommen. Ihre Art hatte etwas heiter Unbekümmertes an sich.

»Habt ihr je daran gedacht aufzugeben?«

Die Frau überlegte einen Moment lang. »Nein«, lautete die schlichte Antwort.

»Wirklich nicht?« Ich fand das erstaunlich. »Habt ihr nie gedacht: meine Güte, es reicht. Ich kann einfach nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich habe keine Lust mehr?«

Sie überlegte wieder, wobei leichte Panik sie erfaßte. Das waren Fragen, über die sie sich offenbar bisher noch nie den Kopf zerbrochen hatte.

Ihr Freund eilte ihr zur Hilfe. »Es gab am Anfang ein paar schwierige Phasen«, sagte er, »aber wir haben unser ganzes Vertrauen auf Gott gesetzt, und Sein Wille geschah.«

»Lobet den Herrn«, flüsterte die Frau fast unhörbar.

»Ach so«, sagte ich und nahm mir vor, unbedingt meine Zimmertür abzuschließen, wenn ich nachher ins Bett ging.

»Und gesegnet sei Allah für das Kartoffelpüree«, sagte Katz vergnügt und lud sich zum dritten Mal auf.

 

Nach dem Abendessen schlenderten Katz und ich ein Stück die Straße hinunter zu einem kleinen Lebensmittelladen, um Proviant für die Hundred-Mile-Wilderness-Tour zu kaufen, zu der wir morgen aufbrechen wollten. Katz benahm sich irgendwie komisch in dem Laden. Er wirkte einigermaßen munter, aber auch abwesend und unruhig. Wir mußten immerhin für zehn Tage in der Wildnis einkaufen, eine ziemlich ernste Angelegenheit, aber er war nicht gewillt, sich zu konzentrieren, und spazierte einfach weiter oder holte lauter unpassende Sachen aus den Regalen, wie Chilisoße und Büchsenöffner.

»He, wie war’s mit einem Sechserpack Bier«, sagte er plötzlich in Partylaune.

»Komm, Stephen, bleib doch mal bei der Sache«, sagte ich. Ich begutachtete gerade die Käsesorten.

»Ich bin bei der Sache.«

»Willst du lieber Cheddar oder Colby?«

»Mir egal.« Er schlenderte zum Bierregal und kam mit einem Sechserpack Budweiser unterm Arm zurück.

»Na, was hältst du von einem Sechserpack Budweiser. Ein Sechserpack Bud, Buddy?« Er stupste mich in die Seite, um mich auf seinen Wortwitz aufmerksam zu machen.

Ich zuckte vor dem Stupser zurück, abgelenkt von anderen Dingen. »Hör auf, so rumzualbern, Stephen.« Ich war zu dem Regal mit Süßigkeiten und Plätzchen weitergegangen und überlegte, was wohl zehn Tage halten würde, ohne daß es unterwegs zu einer klebrigen Masse zerschmolz oder völlig zerbröselt würde. »Willst du Snickers, oder möchtest du mal was anderes ausprobieren?« fragte ich.

»Ich will Budweiser.« Er grinste, doch als er merkte, daß ich nicht darauf eingehen würde, bekam seine Stimme plötzlich einen eindringlichen, flehentlicheren Tonfall. »Bitte, Bryson, kannst du mir« – er sah auf das Preisschild – »vier Dollar und 79 Cents leihen? Ich bin pleite.«

»Was ist denn mit dir los, Stephen? Stell das Bier weg. Was ist überhaupt mit den fünf Dollar, die ich dir eben gegeben habe?«

»Schon ausgegeben.«

»Wofür?« Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Du hast wieder getrunken, stimmt’s?«

»Nein«, sagte er entrüstet, als müßte er eine ungeheuerliche und verleumderische Unterstellung zurückweisen.

Er war betrunken, jedenfalls fast. »Doch, das stimmt«, sagte ich völlig baff.

Er seufzte und verdrehte leicht die Augen. »Vier halbe Michelob. Was ist das denn schon?«

»Du hast wieder getrunken.« Ich war bestürzt. »Wann hast du wieder damit angefangen?«

»In Des Moines. Nur ein bißchen. Ein paar Bierchen nach der Arbeit, mehr nicht. Kein Grund zur Aufregung.«

»Du weißt doch, daß du nicht trinken darfst, Stephen.«

Das wollte er nicht hören. Er sah aus wie ein vierzehnjähriger Junge, dem man gesagt hat, er soll sein Zimmer aufräumen. »Erspar dir deine Belehrungen, Bryson.«

»Ich kaufe dir kein Bier«, sagte ich ruhig.

Er grinste wieder, als sei ich die Tugend in Person. »Mach schon. Ich will doch nur ein Sechserpack.«

»Nein!«

Ich war wütend, stinksauer – seit Jahren war ich nicht mehr so wütend über etwas gewesen. Ich konnte nicht fassen, daß er wieder angefangen hatte zu trinken. Es kam mir vor wie ein gemeiner, törichter Verrat- an sich selbst, an mir, an unserer gemeinsamen Unternehmung.

Katz sah mich immer noch mit einem schelen Grinsen an, aber es stimmte nicht mehr mit seinen Gefühlen überein. »Du willst mir also kein Bier ausgeben – nach allem, was ich für dich getan habe?«

Das war ein ziemlicher Tiefschlag. »Nein.«

»Dann leck mich doch am Arsch«, sagte er, machte auf dem Absatz kehrt und ging raus.