10. Kapitel

 

Es gibt ein Gemälde von Asher Brown Durand, das den Titel »Verwandte Geister« trägt und häufig als Beispiel herangezogen wird, wenn es um amerikanische Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts geht. Das Bild stammt von 1849, und es zeigt zwei Männer, die auf einem Felsvorsprung in den Catskills vor einer grandiosen Kulisse stehen, die eine jener stilisierten, untergegangenen Welten zeigt, die man offenbar nur mit einer Expedition erreichen kann, aber dazu sind die beiden Männer gänzlich unpassend gekleidet, eher wie fürs Büro, mit langen Mänteln und dicken Halstüchern. Unter ihnen, in einer düsteren Schlucht, rauscht zwischen einem Gewirr von Felsbrocken ein Wildbach dahin. Jenseits, am Horizont, durch einen Baldachin aus Blättern, fällt der Blick auf eine lange Kette bedrohlich wirkender, aber herrlicher, blauer Berge. Von links und rechts schieben sich unregelmäßige Baumreihen ms Bild, die in einer alles verschlingenden Dunkelheit verschwimmen.

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gern ich mich in dieses Bild hineinbegeben würde. Die Landschaft hat etwas dermaßen Ungezähmtes an sich, der Horizont etwas so Undurchdringliches, daß es auf mich wie eine tollkühne Verlockung wirkt. Natürlich würde man da draußen umkommen – von einem Puma zerfetzt, von einem Tomahawk getroffen werden oder einfach nur beim Gehen in einen jämmerlichen Tod stürzen. Das sieht man auf den ersten Blick. Und dennoch. Man sucht bereits den Vordergrund nach einem geeigneten Weg über die steilen Felsen hinunter zu dem Wildbach ab und fragt sich, ob der Engpaß dahinter wohl zu einem Nachbartal führt oder nicht. Lebt wohl, Freunde. Das Schicksal ruft. Wartet nicht mit dem Abendessen auf mich.

Es gibt heute nichts Vergleichbares mehr. Vielleicht hat es solche Ausblicke nie gegeben. Wer weiß, welche Freiheiten sich diese romantischen Pinselquäler herausgenommen haben. Wer erklimmt schon an einem heißen Julinachmittag mit Staffelei, Klappstuhl und Farbenkasten im Gepäck einen Aussichtsfelsen mitten in gefährlicher Wildnis, wenn er nicht von dem Wunsch beseelt wäre, etwas Erhabenes und Großartiges auf die Leinwand zu bannen?

Selbst wenn die Appalachen vor dem Industriezeitalter nur halb so wildromantisch waren wie auf dem Bild von Durand und denen anderer Maler, müssen sie doch etwas Spektakuläres an sich gehabt haben. Man kann sich heute kaum vorstellen, wie wenig bekannt das Hinterland der Ostküste einst war und welchen Reichtum es bot. Als Thomas Jefferson die beiden Forscher Meriwether Lewis und William Clark in die Wildnis schickte, rechnete er fest damit, daß sie auf zottelige Mammuts und Mastodons stoßen würden. Hätte man damals schon von Dinosauriern gewußt, hätte er die beiden sicher gebeten, ihm einen Triceratops mitzubringen.

Die ersten Menschen, die von Osten her bis tief in die Wälder vordrangen – abgesehen von den Indianern, die bereits 20.000 Jahre zuvor so weit gekommen waren –, suchten keine prähistorischen Lebewesen, keine Passage nach Westen, auch keine neuen Siedlungsmöglichkeiten. Sie suchten Pflanzen. Amerikas botanische Vielfalt begeisterte die Europäer außerordentlich, und die Ausbeutung des Waldes brachte Ruhm und Geld. In den Wäldern des östlichen Amerikas gab es eine reichhaltige Flora, die in der Alten Welt unbekannt war, und sowohl Wissenschaftler als auch Hobbybotaniker waren gleichermaßen erpicht darauf, sich ein Stück des Kuchens zu sichern. Man stelle sich vor, ein Raumschiff würde morgen auf der Venus einen Dschungel entdecken. Was gäbe nicht zum Beispiel Bill Gates dafür, sich irgendein exotisches Gewächs von der Venus in sein Gewächshaus stellen zu können. Die Pflanze mit entsprechendem Flair im 18. Jahrhundert war der Rhododendron – ebenso angesagt waren Kamelie, Hortensie, Traubenkirsche, Sonnenhut, Azalee, Aster, Straußfarn, Trompetenbaum, Gewürzstrauch, Fliegenfalle, die virginische Kletterpflanze und die Wolfsmilch. Diese Pflanzenarten und noch Hunderte mehr wurden in den Wäldern Amerikas gesammelt und übers Meer nach England, Frankreich und Rußland verschickt, wo ihre neuen Besitzer sie ungeduldig erwarteten.

Alles nahm seinen Anfang mit John Bartram (eigentlich fing es mit Tabak an, aber im wissenschaftlichen Sinn war Bartram der erste), einem Quäker aus Pennsylvania, geboren 1699, der nach der Lektüre eines Buches über Botanik sein Interesse für das Thema entdeckte und Pflanzensamen und -ableger an einen Glaubensbruder in London schickte. Aufgefordert, nach weiteren Pflanzen zu suchen, begab er sich auf zunehmend gefährlichere Reisen in die Wildnis und legte manchmal Tausende von Kilometern durch zerklüftetes gebirgiges Gelände zurück. Obwohl er Autodidakt war, nie Latein gelernt hatte und nur oberflächliche Kenntnisse der Linneschen Klassifikation besaß, war Bartram ein begabter Pflanzensammler, mit einem sicheren Instinkt dafür, unbekannte Arten aufzuspüren und sie überhaupt als solche zu erkennen. Von den 800 während der Kolonialzeit in Amerika entdeckten Pflanzen geht ein Viertel auf sein Konto, sein Sohn William entdeckte noch viel mehr.

Ende des Jahrhunderts wimmelte es in den Wäldern des Ostens förmlich von Botanikern – Peter Kalm, Lars Yungstroem, Constantine Samuel Rafinesque-Schmaltz, John Fräser, Andre Michaux, Thomas Nuttall, John Lynn und zahllose andere. So viele Menschen waren dort, konkurrierten in ihrer Jagd nach seltenen Pflanzen, daß sich heute kaum mit Bestimmtheit sagen läßt, welcher Fund von wem stammt. Je nachdem, welche Quelle man konsultiert, entdeckte allein Fräser entweder 44 oder 215 Arten, möglicherweise liegt die korrekte Zahl auch irgendwo dazwischen. Verbürgt ist jedoch seine Entdeckung der wohlriechenden Balsamtanne, auch Fräser-Tanne genannt, die charakteristisch für die hohen Regionen von North Carolina und Tennessee ist. Aber sie trägt seinen Namen nur deswegen, weil er den Gipfel des Clingmans Dome kurz vor seinem schärfsten Rivalen Michaux erklommen hatte.

Diese Männer bereisten in einem beachtlichen Zeitraum oft riesige Gebiete. Eine der letzten Expeditionen von Bartram dauerte über fünf Jahre und führte ihn so tief in unerforschtes Waldgebiet, daß er lange als verschollen galt. Als er wieder auftauchte, mußte er feststellen, daß sich Amerika seit einem Jahr im Krieg mit England befand und er folglich seine Gönner verloren hatte. Michaux führten seine Reisen von Florida bis zur Hudson Bay, und der Abenteurer Nuttall stieß bis zur fernen Küste des Lake Superior vor, wobei er aus Geldmangel weite Strecken zu Fuß zurücklegte.

Die Forscher sammelten Unmengen von Pflanzenarten, und ihre Reisen glichen eher Raubzügen. Lyon zog allein an einem Berghang 3.600 Setzlinge der Magnolia macrophylla aus der Erde, dazu Tausende anderer Pflanzen, einschließlich eines hübschen roten Gewächses, das ihn in einen Fieberwahn versetzte und seinen Körper »umgehend in eine einzige Wundblase« verwandelte – er hatte den Giftsumach entdeckt. 1765 entdeckte John Bartram eine besonders hübsche Kamelie, Franklinia alta-maha, schon damals eine seltene Pflanze, die im Laufe von nur 25 Jahren ausgerottet wurde. Sie konnte nur als Züchtung überleben, was wir allein Bartram zu verdanken haben. Rafinesque-Schmaltz ist sieben Jahre lang durch die Appalachen gewandert und hat dabei nicht allzu viel entdeckt, er brachte jedoch 50.000 Samen und Ableger mit nach Hause.

Wie die Forscher das geschafft haben, ist ein Rätsel. Jede Pflanze mußte katalogisiert und bestimmt werden, die Samen eingesammelt oder ein Ableger geschnitten werden, letzterer mußte in ein Behältnis aus steifem Papier oder Segeltuch eingetopft, gegossen und gepflegt und dann noch durch eine weglose Wildnis in die Zivilisation transportiert werden. Die Entbehrungen und Gefahren waren allgegenwärtig und kräftezehrend. Es wimmelte von Bären, Schlangen und Panthern. Michaux’ Sohn wurde auf einer Expedition einmal übel zugerichtet, als ein Bär ihn aus einem Baum vertrieb. (Schwarzbären scheinen früher wilder gewesen zu sein, denn in fast allen Expeditionsberichten finden sich Hinweise auf plötzliche, willkürliche Attacken. Es ist durchaus denkbar, daß die Bären im Osten der Vereinigten Staaten insgesamt zurückhaltender geworden sind, weil sie gelernt haben, Menschen mit Gewehren in Verbindung zu bringen.) Auch Indianer waren den Forschern im allgemeinen feindlich gesinnt – ebenso häufig allerdings amüsierten sie sich über die weißen, europäischen Gentlemen, die lauter Pflanzen, die um sie herum doch in Hülle und Fülle wuchsen, behutsam einsammelten und mitnahmen – und dann gab es noch all die Krankheiten, die man sich in den Wäldern holen konnte: Malaria, Gelbfieber und andere. »Nicht einer meiner Freunde ist bereit, die Strapazen auf sich zu nehmen und mich auf meinen Wanderungen zu begleiten«, beklagt sich John Bartram bitterlich in einem Brief an seinen englischen Gönner. Das überrascht kaum.

Offenbar haben sich die Reisen trotzdem gelohnt. Ein einziger besonders wertvoller Samen brachte bis zu fünf Guineen ein. In einem Jahr erzielte John Lyon bei einer Reise nach Abzug aller Kosten einen Gewinn von 900 Pfund – damals ein beträchtliches Vermögen. Im Jahr darauf begab er sich wieder auf Reisen und verdiente ungefähr noch mal die gleiche Summe. Fräser unternahm eine sehr lange Reise im Auftrag der russischen Zarin Katharina der Großen und mußte, als er aus der Wildnis heimkehrte, feststellen, daß es einen neuen Zar gab, der sich nicht für Pflanzen interessierte, ihn für verrückt hielt und seinen Vertrag nicht anerkannte. Fräser schaffte danach alles nach Chelsea, wo er eine kleine Gärtnerei besaß, und verdiente sich fortan seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Azaleen, Rhododendren und Magnolien an die englische Oberschicht.

Andere wiederum gingen aus reiner Entdeckerfreude auf Reisen, allen voran Thomas Nuttall, ein junger, kluger, aber ungebildeter Handwerker und Drucker aus Liverpool, der 1808 nach Amerika kam und seine bislang ungeahnte Leidenschaft für Pflanzen entdeckte. Er unternahm zwei große Expeditionen, die er aus eigener Tasche finanzierte, machte zahlreiche, bedeutende Entdeckungen und spendete viele Pflanzen, mit denen er ohne weiteres sehr viel Geld hätte verdienen können, großzügigerweise dem Botanischen Garten in Liverpool. In nur neun Jahren entwickelte er sich von einem Laien ohne jegliche Kenntnisse zur führenden Autorität auf dem Gebiet der Pflanzen Amerikas. 1817 produzierte er – was ganz wörtlich zu verstehen ist, denn er verfaßte nicht nur den Text, sondern setzte auch die Druckstöcke zum großen Teil selbst – sein Buch Genera of North America, das über viele Jahrzehnte hinweg als das wichtigste Nachschlagewerk für amerikanische Botanik galt. Vier Jahre später wurde er zum Direktor des Botanischen Gartens der Harvard University ernannt, ein Amt, das er mit Würde zwölf Jahre lang bekleidete; er fand trotzdem Zeit, sich auch noch zu einem führenden Experten der Vogelkunde zu machen, und legte 1832 einen viel beachteten Text über die Vogelwelt Amerikas vor. Er war nach einhelliger Aussage ein sehr freundlicher Mensch, der den Respekt all jener gewann, die seine Bekanntschaft machten. Schönere Geschichten kann das Leben eigentlich nicht schreiben.

Bereits zu Nuttals Zeiten unterlag der Wald dramatischen Veränderungen. Pumas, Wapitis und Timberwölfe waren bereits ausgerottet, Biber und Bären standen kurz davor. Die meisten großen nordamerikanischen Kiefern der ersten Generation - Mastbaumkiefer, Strobe und Weymouthskiefer, von denen einige bis zu 70 Meter groß wurden, was ungefähr der Höhe eines zwanzigstöckigen Hauses entspricht – waren bereits gefällt worden, um daraus Schiffsmasten herzustellen oder um Weideland zu erhalten, der Rest war bis Ende des Jahrhunderts verschwunden. Es herrschte ein Geist der Rücksichtslosigkeit, die der Vorstellung entsprang, die Wälder Amerikas seien im Grunde unerschöpflich. Es war gang und gäbe, zweihundertjährige Pecanobäume einfach umzuhauen, weil sich so die Nüsse in den Ästen der Wipfel bequemer ernten ließen. Mit jedem Jahr veränderte sich der Charakter des Waldes sichtbar. Bis vor kurzem - leider nur bis vor kurzem – gab es allerdings einen Baum im Überfluß, was den Eindruck von paradiesischen Zuständen in den Wäldern Amerikas aufrecht erhielt: die Kastanie.

Es gibt keinen anderen vergleichbaren Baum. Die amerikanische Kastanie streckt sich bis zu 30 Meter aus dem Waldboden empor, und ihre aufragenden Äste breiten sich zu einem unglaublich üppigen Baldachin aus, bis zu 4.000 Quadratmeter pro Baum, Millionen Quadratmeter Blattfläche insgesamt. Obwohl nur halb so groß wie die höchsten Kiefern in den Wäldern der Ostküste, besitzt die Kastanie einiges mehr an Masse und Gewicht, und sie ist symmetrischer geformt. In Bodennähe erreicht ein ausgewachsener Baum bis zu drei Meter Durchmesser und über sechs Meter Umfang. Ich habe einmal ein Foto gesehen, das Anfang des Jahrhunderts aufgenommen wurde. Es zeigt eine Gesellschaft, die in einem Kastanienwald ein Picknick veranstaltet, unweit von der Stelle, an der Katz und ich uns gerade befanden, in einem Gebiet, das zum Jefferson National Forest gehört. Es ist eine heitere Gruppe von Wochenendausflüglern, alle tragen schwere Kleidung, die Damen mit aufgespannten Sonnenschirmen, die Herren mit Melone und buschigen Schnauzbärten. Man sitzt im Halbkreis auf einer Decke auf einer Lichtung, vor einem Hintergrund aus steil einfallenden Sonnenstrahlen, zwischen Bäumen von sagenhafter Erhabenheit. Die Menschen nehmen sich so winzig aus, ihre Größe steht in einem so grotesken Mißverhältnis zu den sie umgebenden Bäumen, daß man sich im ersten Moment fragt, ob das Bild nicht manipuliert worden ist, so wie die Postkarten aus der Zeit, auf denen scheunentorgroße Wassermelonen oder Maiskolben zu sehen sind, die einen ganzen Wagen für sich beanspruchen, darunter die witzige Unterschrift: »Typische Farmszene in Iowa.« Aber so hat es tatsächlich einmal ausgesehen – auf Zehntausenden von Quadratkilometern Hügellandschaft von North und South Carolina bis New England. Alles verschwunden.

1904 fiel einem Pfleger im Zoo der Bronx in New York auf, daß die schönen Kastanienbäume auf dem Gelände über und über mit kleinen, orangefarbenen, krebsartigen Geschwüren eines unbekannten Typs bedeckt waren. Innerhalb weniger Tage erkrankten die Bäume und starben. Als Wissenschaftler den Erreger identifiziert hatten, einen asiatischen Pilz mit der Bezeichnung Endothia parasitica – wahrscheinlich mit einer Schiffsladung infizierter Bäume oder Holzbretter aus dem Orient eingeschleppt –, waren die Kastanienbäume bereits alle abgestorben und der Pilz in die Weite der Appalachen verschleppt, wo jeder vierte Baum eine Kastanie war.

Trotz seiner Masse ist ein Baum ein höchst empfindliches Gebilde. Das gesamte Innenleben spielt sich in drei hauchdünnen Gewebeschichten direkt unter der Borke ab – Phloem, Xylem und Kambium –, die zusammen einen feuchten Mantel um das tote Kernholz bilden. Wie groß ein Baum auch immer wird, im Grunde besteht er nur aus einigen Kilogramm lebender Zellen, die sich weiträumig zwischen Wurzeln und Blättern verteilen. Diese drei aktiven Zellenschichten sind zuständig für die gesamte komplizierte Wissenschaft und Technik, die nötig sind, um einen Baum am Leben zu erhalten, und die Effizienz, mit der dies geschieht, zählt zu den größten Naturwundern. Ohne viel Getöse und Aufhebens zieht jeder Baum im Wald riesige Wassermengen aus dem Boden hoch – bei großen Bäumen sind das an heißen Tagen 1.000 Liter und mehr –, von den Wurzeln bis in die Blätter, von wo aus es zurück in die Atmosphäre gelangt. Stellen Sie sich den Lärm vor, den die Maschinen der Feuerwehr veranstalten würden, wenn sie die gleiche Menge Wasser dort hinaufbefördern müßten.

Der Wassertransport ist nur eine der vielen Aufgaben von Phloem, Xylem und Kambium. Sie stellen außerdem Lignin und Zellstoff her, regulieren den Vorrat und die Produktion von Gerbsäure, Saft, Gummi, Ölen und Harzen, verteilen Mineralien und Nährstoffe, verwandeln Stärke in Zucker, der für zukünftiges Wachstum gebraucht wird (Stichwort Ahornsirup), und erledigen lauter andere wichtige Dinge. Alles vollzieht sich in einer sehr zarten Schicht, weswegen ein Baum höchst anfällig für eindringende Organismen ist. Um dem entgegenzuwirken, verfügen Bäume über ein ausgeklügeltes Abwehrsystem. Der Grund, warum ein Gummibaum beim Anschneiden zum Beispiel Latex absondert, liegt darin, daß damit Insekten und anderen Organismen mitgeteilt werden soll: »Vorsicht! Ungenießbar. Verschwindet!« Bäume können auch gefräßige Raupen abschmettern, indem sie ihre Blätter mit Gerbsäure überschwemmen, wodurch die Blätter weniger schmackhaft werden und die Raupe genötigt wird, sich woanders nach Futter umzusehen. Wenn der Befall besonders schlimm ist, können manche Bäume diesen Umstand sogar als Information weitergeben. Einige Eichenarten setzen eine chemische Substanz frei, durch die anderen Eichen in der Umgebung mitgeteilt wird, daß in Kürze ein Angriff erfolgen wird. Als Reaktion darauf erhöhen die so gewarnten Eichenbäume die Produktion von Gerbsäure, um sich gegen den Überfall zu wappnen.

Solche Mittel sind es, die die Natur am Leben erhalten. Probleme ergeben sich dann, wenn der Baum einem Angreifer gegenübersteht, für den ihn die Evolution nicht ausgerüstet hat, und selten war ein Baum einem Eindringling schutzloser ausgeliefert als seinerzeit die amerikanische Kastanie der Endothia parasitica. Dieser Parasit dringt mühelos in den Baum ein, verspeist die Kambiumzellen und stellt sich bereits auf einen Angriff auf den nächsten Baum ein, bevor ersterer – chemisch gesehen – auch nur eine Ahnung davon bekommt, was ihn befallen hat. Er breitet sich mittels Sporen aus, die millionenfach in jedem Geschwür produziert werden. Ein einziger Specht kann allein mit einem Flug zwischen zwei Bäumen Milliarden Sporen transportieren. Auf dem Höhepunkt des Kastanienbaumsterbens in Amerika wurden mit jeder Windböe Milliarden von Sporen freigesetzt und als tödliche Wolke auf die Nachbarberge geweht. Die Sterberate lag bei 100 Prozent. Nach gut 35 Jahren gehörte die amerikanische Kastanie der Vergangenheit an. Allein die Appalachen verloren im Zeitraum einer Generation vier Milliarden Bäume, die ein Viertel der Gesamtfläche einnahmen.

Das ist natürlich eine große Tragödie. Aber was für ein Glück, wenn man bedenkt, daß solche Krankheiten wenigstens artenspezifisch sind. Viel schlimmer wäre es, wenn es statt Kastanienbaumsterben oder Ulmensterben oder dem schwarzen Brenner bei Hartriegel eine allgemeine Plage für Bäume gäbe, die wahllos alle treffen und unaufhaltsam ganze Wälder vernichten würde. Es gibt diese Plage aber bereits. Sie heißt saurer Regen.

Genug der Wissenschaft, ich denke, das reicht für ein Kapitel. Aber bitte behalten Sie den Gedanken im Hinterkopf, denn eines kann ich Ihnen versichern: Es gab nicht einen Tag in den Wäldern der Appalachen, an dem ich nicht Dankbarkeit empfand für das, was von ihnen noch vorhanden war.

Der Wald, durch den Katz und ich jetzt stapften, war nicht zu vergleichen mit den Wäldern, die die Generation unserer Väter noch gekannt hatte, aber immerhin waren wir von Bäumen umgeben. Und es war ein herrliches Gefühl, wieder in unserer vertrauten Umgebung zu sein. Eigentlich war es in jeder Hinsicht der gleiche Wald, den wir in North Carolina verlassen hatten - die gleichen gefährlich schiefen Bäume, der gleiche schmale braune Pfad, die gleiche ausgedehnte Stille, nur unterbrochen von unserem leisen Ächzen und angestrengten Schnaufen, als wir Berge erklommen, die sich als mindestens so steil erwiesen wie die, die wir hinter uns gelassen hatten, wenn auch nicht ganz so hoch. Aber obwohl wir uns jetzt ein paar hundert Kilometer weiter nördlich befanden, war hier der Frühling merkwürdigerweise schon weiter fortgeschritten. Die Bäume, vorwiegend Eichen, standen in voller Blüte, hier und da sah man Büschel von Wildpflanzen aus der Schicht der Blätter des Vorjahres herausragen -Blutkraut, Wachslilien und Doppelsporn. Das Sonnenlicht sickerte durch die Zweige über uns und warf scheinwerferartig Lichtflecken auf den Weg, und in der Luft lag eine gewisse berauschende, charakteristisch frühlingshafte Leichtigkeit. Zuerst zogen wir unsere Jacken aus, dann folgten die Pullover. Die Welt war wieder ein freundlicher Ort.

Am schönsten waren die Ausblicke rechts und links, herrlich und betörend. Der Blue Ridge sieht in seinem 650 Kilometer langen Verlauf durch Virginia im Grunde wie eine Rückenflosse aus.

Er ist zwei bis drei Kilometer breit, hier und da mit tiefen, V-förmigen Durchlässen, den sogenannten Gaps versehen, ansonsten hält er sich gleichmäßig auf einer Höhe von knapp 1000 Metern. Im Westen erstreckte sich das breite, grüne Valley of Virginia, das bis zu den Allegheny Montains reicht, im Osten träger und ländlicher die Piedmontebene. Wenn wir uns hier auf einen Berggipfel schleppten und einen Aussichtsfelsen betraten, sahen wir keine haubenförmigen grünen Berge, die bis zum Horizont reichten, sondern blickten jedesmal aus luftiger Höhe hinab auf eine bewohnte Welt: sonnenbeschienene Farmen, kleine Dörfer, einzelne Waldstücke, Serpentinenstraßen, alles sehr idyllisch aus der Ferne. Selbst ein Interstate Highway mit seinen kleeblattförmigen Kreuzen und Querstraßen sah freundlich und besinnlich aus, wie die Illustrationen in den Kinderbüchern, die ich als kleiner Junge hatte und auf denen ein Amerika zu sehen war, das geschäftig und immer in Bewegung war, aber wiederum nicht allzu hektisch, um nicht seinen Reiz zu verlieren.

Wir wanderten eine Woche lang und begegneten kaum Menschen. An einem Nachmittag lernte ich einen Mann kennen, der den Trail seit 25 Jahren abschnittsweise mit Auto und Fahrrad absolvierte. Jeden Morgen brachte er das Fahrrad mit dem Auto zehn, 15 Kilometer weit ans Ziel der anstehenden Tagesetappe, begab sich mit dem Wagen an den Ausgangspunkt, das Ziel des Vortages, wanderte die Strecke zwischen beiden ab und fuhr mit dem Fahrrad wieder zurück zum Parkplatz. Das machte er jedes Jahr im April zwei Wochen lang und hatte sich ausgerechnet, daß er noch ungefähr 20 weitere Jahre brauchen würde. An einem anderen Tag folgte ich einem älteren Mann, der bestimmt weit über Siebzig war. Er trug einen kleinen, altmodischen Tagesrucksack aus sandfarbenem Segeltuch und war mit einem unglaublichen Tempo unterwegs. Zwei- bis dreimal in der Stunde sah ich ihn 40, 50 Meter vor mir zwischen den Bäumen auftauchen und wieder verschwinden. Obwohl er sehr viel schneller ging als ich und anscheinend nie eine Pause einlegte, war er stets da. Immer wenn man 40 bis 50 Meter weit blicken konnte, sah man ihn bzw. nur seinen Rücken, der gleich wieder wegtauchte. Als würde man einem Geist folgen. Ich versuchte ihn einzuholen, aber es gelang mir nicht. Er sah mich kein einziges Mal an, aber ich bin mir sicher, daß er mich bemerkt hatte. Man entwickelt ein Gespür für die Anwesenheit von anderen Menschen im Wald, und wenn man merkt, daß Leute in der Nähe sind, wartet man meist, bis sie einen eingeholt haben, nur um guten Tag zu sagen, ein paar Worte zu wechseln oder zu fragen, ob jemand den Wetterbericht gehört hat. Der Mann vor mir blieb nie stehen oder wartete, veränderte nie sein Schrittempo, schaute sich nie um. Am späten Nachmittag verschwand er aus meinem Blickfeld, und ich sah ihn nie wieder.

Am Abend erzählte ich Katz von meinem Erlebnis.

»Meine Güte«, murmelte er, »jetzt fängst du schon an zu halluzinieren.« Am nächsten Tag sah Katz den Mann. Diesmal blieb der Fremde hinter ihm, immer in der Nähe, ohne zu überholen. Es war höchst seltsam. Danach sahen wir ihn beide nicht wieder. Wir sahen überhaupt niemanden mehr.

Das hatte zur Folge, daß wir jeden Abend die Schutzhütten ganz für uns allein hatten, was ein echter Luxus war. Man muß schon ziemlich tief gesunken sein, wenn man sich für ein überdachtes Holzpodest begeistern kann, das man für eine Nacht sein eigen nennen darf – aber so war es, wir waren begeistert. Die meisten Schutzhütten auf diesem Abschnitt des Trails sind neu und blitzsauber. Manche waren mit einem Besen ausgestattet, eine gemütliche, häusliche Note. Die Besen wurden sogar benutzt - wir benutzten sie jedenfalls und pfiffen ein Liedchen dabei –, ein Beweis dafür, daß der AT-Wanderer dankbar für alles ist, was ihm Bequemlichkeit verschafft, und verantwortungsbewußt damit umgeht. Jede Hütte hat ein Plumpsklo in der Nähe, außerdem eine gute Wasserquelle und einen Picknicktisch, so daß wir unsere Mahlzeiten in mehr oder weniger normaler Körperhaltung zubereiten konnten und dabei nicht auf einem feuchten Baumstamm hocken mußten. Das alles ist echter Luxus für die Wanderer auf dem Appalachian Trail. Am Abend des vierten Tages, als ich mich

mit der trüben Aussicht konfrontiert sah, bald mein einziges Buch ausgelesen zu haben, und damit, daß mir für die Nächte danach nichts anderes übrigbleiben würde, als im Halbdunkel zu liegen und Katz’ Geschnarche zu lauschen, entdeckte ich plötzlich ein Buch von Graham Green, das ein früherer Gast liegengelassen hatte. Ich war hocherfreut und unendlich dankbar. Wenn es etwas gibt, das man auf dem AT lernt, dann ist es die Freude über kleine Dinge – etwas, das uns allen im Leben ganz gut tun würde.

Ich war selig. Wir marschierten 25 Kilometer am Tag, nicht annähernd die 40 Kilometer, die man angeblich schaffen konnte, wie man uns gesagt hatte, aber eine ganz ansehnliche Strecke für unsere Verhältnisse. Ich fühlte mich beschwingt, körperlich fit, und zum ersten Mal seit Jahren sah mein Bauch nicht mehr wie eine Wampe aus. Ich war immer noch müde und steif am Ende eines langen Wandertages – das blieb auch weiterhin so –, aber ich hatte einen Punkt erreicht, an dem die Schmerzen und die Blasen ein so zentrales Merkmal meiner Existenz waren, daß ich sie nicht mehr bemerkte. Wenn man die bequeme, klinische Welt der Städte verläßt und in die Berge zieht, durchläuft man jedesmal Phasen der Transformation – ein sanfter Abstieg in die Verwahrlosung – und immer kommt es einem so vor, als sei es das erste Mal. Am Ende des ersten Tages fühlt man sich etwas schmutzig, trägt es aber mit Fassung; am zweiten Tag verstärkt sich das Gefühl bis zum Ekel; am dritten Tag kümmert es einen nicht mehr; am vierten hat man vergessen, daß es mal anders war. Auch das Hungergefühl folgt einem bestimmten Muster. Am ersten Tag quält einen der Hunger auf die abendlichen Nudeln; am zweiten Abend quält einen der Hunger, aber nicht schon wieder auf Nudeln; am dritten Tag kann man keine Nudeln mehr sehen, aber man weiß, daß man was essen muß; am vierten Tag hat man überhaupt keinen Appetit, aber man ißt trotzdem etwas, weil man das abends eben so tut. Ich weiß auch nicht warum, aber das Ganze ist irgendwie angenehm.

Und dann geschieht etwas, das einem deutlich macht, wie gerne, wie wahnsinnig gern man wieder in die zivilisierte Welt zurückkehren möchte. An unserem sechsten Tag, nach einem langen Marsch durch einen ungewöhnlich dichten Wald, kamen wir gegen Abend an eine kleine grasbewachsene Lichtung auf einer Steilklippe mit einer sensationellen, ungehinderten Aussicht nach Norden und nach Westen. Die Sonne ging hinter dem fernen, blaugrauen Kamm der Allegheny Mountains unter, und das Licht in der Landschaft davor – weites, regelmäßig angeordnetes Ackerland, mit Baumgruppen und Farmhäusern – hatte gerade den Moment erreicht, in dem alle Farbe aus ihm weicht. Aber es war der Anblick einer Stadt, die ungefähr zehn, elf Kilometer Richtung Norden lag, der unsre Herzen höher schlagen ließ; eine richtige Stadt, die erste seit einer Woche. Von unserem Standort aus erkannten wir gerade noch die großen, hell erleuchteten bunten Schilder von Restaurants und Motels an einer Straße. Ich glaube, ich habe nie etwas annähernd so Schönes, annähernd so Verlockendes gesehen. Ich hätte schwören können, daß man den Duft von gebratenen Steaks roch, den uns die Abendbrise heraufwehte. Wir standen unendlich lange da und schauten auf die Stadt, als hätte man immer nur über sie gelesen, aber nie damit gerechnet, sie einmal tatsächlich zu sehen.

»Waynesboro«, sagte ich schließlich zu Katz.

Er nickte feierlich. »Wie weit?«

Ich holte meine Karte hervor und sah nach. »Ungefähr 13 Kilometer.«

Er nickte wieder feierlich. »Gut«, sagte er. Das war, wie mir klar wurde, die längste Unterhaltung, die wir seit zwei, drei Tagen geführt hatten, und mehr brauchte auch nicht gesagt werden. Wir waren seit einer Woche unterwegs und würden morgen runter in die Stadt gehen. Das mußte nicht ausgesprochen werden. Wir würden 13 Kilometer wandern, uns ein Zimmer mieten, duschen, nach Hause telefonieren, unsere Wäsche waschen, zu Abend essen, Lebensmittel einkaufen, fernsehen, in einem Bett schlafen, frühstücken und dann auf den Trail zurückkehren. Das verstand sich von selbst. Alles, was wir machten, verstand sich von selbst. Eigentlich herrlich.

Wir schlugen unsere Zelte auf und kochten mit unserem letzten Wasser Nudeln, setzten uns dann nebeneinander auf einen Baumstamm und aßen schweigend, Waynesboro im Blick. Der Vollmond ging an einem blassen Abendhimmel auf und schien in einem hellen weißen Licht, das einen an die Cremeschicht von Oreo-Plätzchen erinnerte. (Irgendwann erinnert einen unterwegs alles nur noch ans Essen.) Nach langem Schweigen wandte ich mich abrupt an Katz und fragte ihn in einem Tonfall, der eher hoffnungsvoll als anklagend klingen sollte: »Kannst du überhaupt irgendwas anderes kochen als Nudeln?« Ich stellte gerade in Gedanken den Einkaufszettel für morgen zusammen.

Er mußte eine Zeitlang überlegen. »Arme Ritter«, sagte er schließlich und verfiel wieder in Schweigen, drehte dann seinen Kopf zu mir und fragte: »Und du?«

»Nein«, gestand ich. »Nichts.«

Katz dachte darüber nach, welche Folgen das möglicherweise hatte, sah einen Moment lang so aus, als ob er etwas dazu sagen wollte, schüttelte dann aber nur gleichmütig den Kopf und widmete sich wieder dem Essen.