3. Kapitel

 

Alles nahm seinen Anfang mit einem Mann namens Benton MacKaye, einem sanftmütigen, freundlichen, unendlich wohlmeinenden Visionär, der im Sommer 1921 seinem Freund Charles Harris Whitaker, Herausgeber einer führenden Architektur-Zeitschrift, den ehrgeizigen Plan für einen Fernwanderweg unterbreitete. Die Behauptung MacKayes Leben sei zu diesem Zeitpunkt nicht zufriedenstellend verlaufen, wäre eine harmlose Untertreibung. In dem Jahrzehnt davor war er von diversen Posten in Harvard und dem National Forest Service entlassen und, mangels einer besseren Stelle, auf die man ihn hätte abschieben können, mit dem unklar umrissenen Auftrag, Ideen zur Steigerung der Effizienz und der Moral zu entwickeln, in ein Büro des amerikanischen Ministeriums für Arbeit gesteckt worden. Pflichtbewußt, wie er war, arbeitete er ehrgeizige und unrealistische Entwürfe aus, die mit Erheiterung zur Kenntnis genommen wurden und anschließend gleich im Papierkorb landeten. Im April 1921 stürzte sich seine Frau, die berühmte Pazifistin und Suffragette Jessie Hardy Stubbs, von einer Brücke in New York in den East River und ertrank.

Soweit die Vorgeschichte. Gerade einmal zehn Wochen nach dem tragischen Ereignis eröffnete MacKaye seinem Freund Whitaker die Idee für einen Wanderweg durch die Appalachen, und im Oktober wurde der Vorschlag in einem dafür eigentlich ungeeigneten Forum, der Zeitschrift von Whitaker, dem Journal of the American Institute of Architects, veröffentlicht. Der Appalachian Trail war nur ein Aspekt von MacKayes weitreichender Vision. Er sah den AT als eine Art roten Faden, um »Arbeitslager« auf den Berggipfeln miteinander zu verbinden. In diese sogenannten Workcamps sollten die blassen, erschöpften Arbeiter aus den Städten zu Tausenden strömen und sich im Geiste der Selbstlosigkeit in gesundheitsfördernder Schufterei ergehen und sich an der freien Natur ergötzen. Herbergen, Rasthäuser und Studienzentren sollten errichtet werden, schließlich sogar ganze Walddörfer, die dauerhaft bewohnt sein sollten, Kooperativen »in Selbstverwaltung«, deren Bewohner sich mit »nichtindustrieller Tätigkeit«, basierend auf Handwerk, Forst- und Landwirtschaft, ihren Lebensunterhalt verdienen sollten. Das Ganze sollte nach MacKayes überschwenglicher Beschreibung ein »Rückzug vom Profitdenken« sein – eine Vorstellung, in der andere »die Geißel des Bolschewismus« erkannten, um mit den Worten eines Biographen zu sprechen.

Zu dem Zeitpunkt, als MacKaye seine Idee entwickelte, existierten bereits mehrere Wandervereine im Osten der Vereinigten Staaten – der Green Mountain Club, der Dartmouth Outing Club und der altehrwürdige Appalachian Mountain Club, um nur einige zu nennen. Diese eher elitären Organisationen besaßen und unterhielten Hunderte Kilometer Forst- und Wanderwege, hauptsächlich in New England. 1925 kamen Vertreter der führenden Vereine in Washington zusammen und gründeten die Appalachian Trail Conference, zu dem Zweck, einen fast 2.000 Kilometer langen Pfad anzulegen, der die beiden höchsten Gipfel im Osten, den 2037 Meter hohen Mount Mitchell in North Carolina und den 120 Meter niedrigeren Mount Washington in New Hampshire , miteinander verbinden sollte. Tatsächlich geschah in den nächsten fünf Jahren erst einmal gar nichts, hauptsächlich deswegen, weil MacKaye damit beschäftigt war, seine Pläne weiter auszuarbeiten und zu verfeinern, bis er selbst und seine Vision den Kontakt zur Realität verloren hatten.

Erst als 1930 der junge Seerechtler und begeisterte Wanderer Myron Avery aus Washington die Weiterentwicklung des Projekts in die Hand nahm, konnte die Arbeit richtig beginnen und machte plötzlich rasche Fortschritte. Avery muß offenbar kein sonderlich liebenswerter Mensch gewesen sein. Er hinterließ zwischen Maine und Georgia zwei Spuren, wie sich ein Zeitge-nosse ausdrückte. »Die eine war eine Spur der Verwüstung, verletzter Gefühle und gekränkter Eitelkeiten. Die andere war der Appalachian Trail.« Avery besaß keine Geduld im Umgang mit MacKaye und seinen »quasi mystischen Sprüchen«; jedenfalls kamen die beiden nicht miteinander klar. 1935 hatten sie einen erbitterten Streit über die Erschließung des Shenandoah National Parks – Avery war bereit, den Bau einer landschaftlich schönen Schnellstraße durch die Berge zuzulassen, MacKaye empfand das als Verrat grundlegender Prinzipien –, danach wechselten die beiden kein Wort mehr miteinander.

Es ist MacKaye, dem das Verdienst angerechnet wird, den Trail initiiert zu haben, aber eigentlich liegt das nur daran, daß er das biblische Alter von 96 Jahren erreichte und schlohweißes Haar auf seinem Kopf hatte. Außerdem konnte man sich immer auf ihn verlassen, wenn aus Anlaß irgendwelcher Feierlichkeiten ein paar Worte gesagt werden mußten. Avery dagegen starb 1952, ein Vierteljahrhundert vor MacKaye, als der Weg noch kaum bekannt war. Aber eigentlich war er Averys Werk. Er hatte Karten erstellt, er hatte die Vereine bedrängt, Gruppen freiwilliger Helfer zur Verfügung zu stellen, und er hatte persönlich den Bau von Hunderten Kilometern der Wanderstrecke überwacht. Er sorgte für eine Verlängerung der ursprünglich geplanten Strecke von 2.000 auf weit über 3.000 Kilometer und war vor Beendigung des Baus jeden Kilometer selbst abgewandert. In nicht einmal sieben Jahren gelang es ihm, mit Hilfe ehrenamtlicher Arbeit einen 3.000 Kilometer langen Wanderweg durch die bergige Wildnis anzulegen. Ganze Armeen haben weniger zustande gebracht.

Mit der Rodung eines vier Kilometer langen Waldstreifens in einem entlegenen Teil von Maine am 14. August 1937 wurde der Appalachian Trail fertiggestellt. Erstaunlicherweise erregte der Bau des längsten Fußweges der Welt keine große Aufmerksamkeit. Avery war kein Mensch, der die Öffentlichkeit liebte, und MacKaye hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits zurückgezogen. Keine Zeitung meldete das Ende der Bauarbeiten, und es gab keine offizielle Einweihungsfeier aus diesem Anlaß.

Der Weg besitzt keine historischen Wurzeln, er folgt keinem Indianerpfad oder einer Postroute aus der Kolonialzeit. Er bietet auch nicht die schönsten Ausblicke, die höchsten Gipfel oder die auffälligsten landschaftlichen Wahrzeichen. Schließlich bringt er den Wanderer nicht einmal in die Nähe von Mount Mitchell, schließt dafür aber Mount Washington mit ein und führt sogar noch 560 Kilometer weiter bis zum Mount Katahdin in Maine. (Es war vor allem Avery, der darauf bestand. Er war in Maine aufgewachsen und hatte dort seine prägenden »Wanderjahre« verbracht.) Im wesentlichen verläuft der Trail dort, wo sich am leichtesten Zugang schaffen ließ, hauptsächlich in den Höhenlagen, über einsame Pässe und durch verlassene Schluchten, die kein Mensch je vorher benutzt oder sich für sie begeistert hatte, die häufig nicht mal einen Namen besaßen. Er verfehlt das geographische südliche Ende der Bergkette der Appalachen um 240, das nördliche um fast 1.125 Kilometer. Die Workcamps und Blockhütten, die Schulen und Studienzentren wurden nie gebaut.

Dennoch ist sehr viel von dem ursprünglichen Reiz, der von MacKayes Vision ausging, erhalten geblieben. Die gesamte Wegstrecke von 3.380 Kilometer, einschließlich der Seitenpfade, Fußgängerbrücken, Hinweisschilder, Markierungen und Schutzhütten, werden von ehrenamtlichen Helfern gewartet – es heißt sogar, der AT sei die größte ehrenamtliche Einrichtung der Welt. Und bislang hat er sich glücklicherweise jeder Kommerzialisierung widersetzt. Die Appalachian Trail Conference stellte erst 1968 ihren ersten bezahlten Mitarbeiter ein, aber sie hat sich ihren freundlichen, umgänglichen, engagierten Charakter bewahrt. Der AT ist nicht mehr der längste Wanderweg. Der Pacific Crest und der Continental Divide, die beide im Westen der Vereinigten Staaten liegen, sind etwas länger, aber der AT wird immer der erste und schönste dieser Art bleiben. Er hat viele Freunde gefunden, und er hat sie verdient.

Seit dem Tag der Fertigstellung mußte die Wegstrecke immer wieder hier und da umgeleitet werden. Als erstes wurde ein Abschnitt von 189 Kilometern in Virginia verlegt, um dem Bau des Skyline Drive durch den Shenandoah National Park zu ermöglichen. 1985 machte die intensive bauliche Erschließung des Gebietes um den Mount Oglethorpe in Georgia es erforderlich, 32 Kilometer des südlichen Wegabschnittes zu kappen und den Ausgangspunkt an den Springer Mountain, mitten in die geschützte Wildnis des Chattahochee National Forest zu verlegen. Zehn Jahre später wies der Maine Appalachian Trail Club einen Abschnitt von 423 Kilometer neu aus – die Hälfte der gesamten Wegstrecke durch diesen Bundesstaat – und führte den Pfad abseits von Forststraßen, wieder durch freies Gelände. Noch heute ändert sich die Wegführung Jahr für Jahr.

Die vielleicht größte Schwierigkeit für den Wanderer besteht darin, überhaupt auf den Appalachian Trail zu kommen, besonders die Endpunkte sind schwer zu erreichen. Springer Mountain, der Einstieg im Süden, ist elf Kilometer vom nächsten Highway entfernt und befindet sich im Amicalola Falls State Park, der wiederum am Ende der Welt liegt. In Atlanta, dem nächsten Anschluß an die Außenwelt, können Sie sich entscheiden zwischen täglich einem Zug oder zwei Bussen nach Gainesville, von wo aus es immer noch 64 Kilometer bis zu dem Ort sind, der die besagten elf Kilometer vom eigentlichen Trail entfernt hegt. Und an den Katahdin Mountain in Maine zu gelangen ist sogar noch umständlicher.

Zum Glück gibt es Leute, die einen gegen Bezahlung in Atlanta abholen und nach Amicalola bringen. So geschah es, daß Katz und ich uns in die Obhut eines großen, freundlichen Herrn mit Baseballmütze und dem Namen Wes Wissen begaben, der sich bereit erklärt hatte, uns für 60 Dollar vom Flughafen in Atlanta zur Amicalola Falls Lodge, unserem Ausgangspunkt am Springer Mountain, zu bringen.

Jedes Jahr machen sich zwischen Anfang März und Ende April 2.000 Wanderer am Springer Mountain auf den Weg, die meisten in der festen Absicht, die gesamte Strecke bis zum Katahdin Mountain zu laufen. Nicht einmal zehn Prozent schaffen es. 50 Prozent kommen nicht über Virginia hinaus, das entspricht knapp einem Drittel des Weges. 25 Prozent kommen bis North Carolina, in den Nachbarstaat. Bis zu 20 Prozent geben innerhalb der ersten sieben Tage auf. Wisson kennt sich mit alldem aus.

»Letztes Jahr habe ich einen Mann am Startpunkt des Trail rausgelassen«, erzählte er uns, während wir durch die dichten Kiefernwälder Richtung Norden kutschierten, auf die zerklüftete Hügellandschaft von Georgia zu. »Drei Tage später ruft er mich von einer öffentlichen Telefonzelle in Woody Gap aus an, dem ersten öffentlichen Telefon auf der Strecke. Meint, er will nach Hause, der Weg sei nicht das, was er erwartet hätte. Ich bringe ihn also zurück zum Flughafen, und zwei Tage danach steht er wieder in Atlanta. Meint, seine Frau hätte ihn zurückgeschickt, weil er so viel Geld für die Ausrüstung bezahlt hätte, und so leicht würde er ihr nicht davonkommen. Ich setze ihn also am Einstieg zum Weg ab. Drei Tage später wieder ein Anruf aus Woody Gap. Er will zum Flughafen gebracht werden. Ich frage ihn: >Und was ist mit Ihrer Frau?< Und er: >Diesmal fahre ich nicht nach Hause.<«

»Wie weit ist es bis Woody Gap?« frage ich.

»33 Kilometer vom Springer Mountain. Nicht gerade sehr weit, oder? Immerhin ist er den ganzen Weg von Ohio hierhergekommen.«

»Warum hat er dann so schnell aufgegeben?«

»Er sagte, es sei nicht das, was er erwartet hätte. Das sagen alle. Gerade letzte Woche wieder. Ich hatte drei Frauen aus Kalifornien im Wagen – mittelalt, wirklich nette Mädchen, ein bißchen viel gekichert haben sie, aber ansonsten, wirklich nett – und als ich sie absetzte, waren sie in richtiger Wanderlaune. Vier Stunden später riefen sie an und sagten, sie wollten nach Hause. Sie müssen sich vorstellen, die waren von Kalifornien hergekommen, hatten ein Heidengeld für das Flugticket und die Ausrüstung bezahlt – die hatten das beste Zeug, was ich je gesehen habe, alles neu, mit allen Schikanen – und waren gerade mal ein, zwei Kilometer gelaufen, und schon geben sie auf. Sie sagten, es wäre nicht das, was sie erwartet hätten.«

»Was haben sie denn erwartet?«

»Was weiß ich? Vielleicht Rolltreppen. Aber außer Bergen und Felsen und Wald und dem Weg gibt’s da nichts. Das weiß doch selbst der Dümmste. Aber Sie wären erstaunt, wieviel Leute aufgeben. Andererseits – neulich hatte ich hier einen Jungen, es ist vielleicht sechs Wochen her, der hätte besser aufgegeben. Er hatte gerade den Trail absolviert, war den ganzen Weg von Maine bis hierher allein gelaufen. Er hatte acht Monate dazu gebraucht, länger als die meisten, und ich glaube, in den letzten Wochen war er keiner Menschenseele mehr begegnet. Am Ende war er ein einziges Wrack, zitterte am ganzen Leib. Ich hatte seine Frau dabei. Sie war mitgekommen, um ihn abzuholen, und er sank bloß in ihre Arme und fing an zu heulen. Er bekam kein Wort heraus. Und so ging’s die ganze Fahrt zum Flughafen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so erleichtert war, es hinter sich gebracht zu haben. Es hat Sie niemand gezwungen, den Appalachian Trail zu gehen, Sir, habe ich mir nur gedacht. Aber ich habe natürlich meinen Mund gehalten.«

»Können Sie, wenn Sie die Leute absetzen, erkennen, ob sie es schaffen werden oder nicht?«

»Im allgemeinen, ja.«

»Glauben Sie, daß wir es schaffen werden?« sagte Katz.

Er musterte uns nacheinander. »Ach, Sie werden es schon schaffen«, antwortete er, aber in seinem Gesicht stand etwas anderes zu lesen.

Die Amicalola Falls Lodge, die man über eine lange Serpentinenstraße durch den Wald erreicht, liegt in luftiger Höhe an einem Berghang. Der Mann am Flughafenschalter in Manchester hatte auf jeden Fall den richtigen Wetterbericht gehört. Es herrschte eine grimmige Kälte, als wir aus dem Auto stiegen. Aus allen Richtungen fegte ein heimtückischer, eisiger Wind und schob einem Ärmel und Hosenbeine hoch.

»Meine Fresse!« rief Katz höchst erstaunt, als hätte soeben jemand einen Eimer mit Eiswürfeln über ihn ausgeschüttet, und rannte in die Hütte. Ich zahlte und folgte ihm.

Die Hütte war modern eingerichtet und gut geheizt. Sie hatte einen offenen Empfangsraum, der von einem gemauerten Kamin beherrscht wurde, und nichtssagende, bequeme Zimmer, wie man sie in jedem Holiday Inn vorfindet. Wir sagten uns gute Nacht und verabredeten uns für morgen früh, sieben Uhr. Ich zog mir eine Cola aus dem Automaten im Flur, stellte mich unter die heiße Dusche, machte verschwenderischen Gebrauch von den Handtüchern, und bettete mich zwischen gestärkte Laken – wie lange würde ich auf diesen Luxus wohl verzichten müssen –, sah mir von glücklichen, unbekümmerten Moderatoren vorgebrachte, entmutigende Berichte auf dem Wetterkanal an und schlief kaum.

Ich war vor Tagesanbruch auf und setzte mich ans Fenster, als die blasse Dämmerung widerwillig die Landschaft freigab – ein kahles, scheinbar grenzenloses Gelände aus mächtigen, geschwungenen Hügeln, mit Reihen nackter Bäume, alles von einer hauchdünnen Schicht Pulverschnee bedeckt. Es sah nicht gerade abschreckend aus – wir befanden uns hier nicht im Himalajagebirge –, aber auch nicht so einladend, daß man unbedingt rausgehen wollte.

Als ich zum Frühstück runterging, kam die Sonne heraus und erfüllte die Welt hoffnungsfroh mit ihrem Licht, und ich trat nach draußen, um die Luft zu schnuppern. Die Kälte war fürchterlich, wie ein Schlag ins Gesicht, und es wehte noch immer ein scharfer Wind. Kleine trockene Flocken wirbelten wie Styroporkügelchen durch die Luft. Ein großes Thermometer am Hütteneingang zeigte -12 Grad Celsius an.

»Die schlimmste Kälte, die wir je um diese Zeit in Georgia hatten«, sagte eine Hotelangestellte mit einem breiten, zufriedenen Lächeln zu mir, als sie eilig vom Parkplatz heraufkam. Dann blieb sie stehen und fragte: »Wollen Sie wandern?«

»Ja.«

»Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen. Trotzdem viel Glück. Brrrrr!« sagte sie und schlüpfte hinein.

Zu meiner Überraschung verspürte ich plötzlich einen heftigen Bewegungsdrang. Ich wollte endlich loswandern. Immerhin hatte ich seit Monaten auf diesen Tag gewartet, wenn auch meist mit gemischten Gefühlen. Ich wollte sehen, wie es da draußen zuging. Abertausende Menschen in ganz Amerika würden sich heute zur Arbeit quälen, im Stau stecken und Abgase einatmen. Ich dagegen durfte im Wald Spazierengehen. Ich wollte los, endlich los.

Ich suchte Katz und fand ihn im Speiseraum, er wirkte sogar recht munter. Das kam, weil er eine Bekanntschaft geschlossen hatte – eine Kellnerin mit dem hübschen Namen Rayette, die sich auf höchst kokette Weise um seine Bedürfnisse kümmerte. Rayette war über einen Meter achtzig groß und hatte ein Gesicht, vor dem sich jedes Kind gegruselt hätte, aber sie war gutmütig und schenkte großzügig Kaffee aus. Sie hätte Katz ihre Bereitschaft zur Hingabe nicht deutlicher zeigen können, wenn sie die Röcke gerafft und sich auf seine »Frühstücksplatte für den Wolfshunger« gelegt hätte. Katz hatte einen regelrechten Hormonschub.

»Oh, ich mag Männer, die gerne saftige Pfannkuchen essen«, flötete sie.

»Und der hier ist besonders saftig, meine Liebe«, erwiderte Katz mit vor Sirup und frühmorgendlicher Glückseligkeit glänzendem Gesicht. Nicht gerade Hepburn und Tracy, die beiden, aber es war trotzdem irgendwie rührend.

Rayette ging und kümmerte sich um einen anderen Gast, und Katz schaute ihr mit geradezu väterlichem Stolz hinterher. »Sie ist ziemlich häßlich, findest du nicht?« sagte er mit einem frohen, widersinnigen Strahlen.

Ich bemühte mich um Takt. »Verglichen mit anderen Frauen schon.«

Katz nickte nachdenklich und richtete dann einen plötzlich ehrfürchtigen Blick auf mich. »Weißt du, worauf es mir in letzter Zeit bei einer Frau immer mehr ankommt? Daß das Herz am rechten Fleck ist und daß sie noch alle Gliedmaßen hat.«

»Kann ich nachvollziehen.«

»Und das ist bei mir schon die oberste Kategorie. Bei den Gliedmaßen bin ich zu Kompromissen bereit. Glaubst du, daß sie zu haben ist?«

»Ich vermute, da sind noch andere vor dir dran.«

Er nickte ernüchtert. »Es ist besser, wir essen auf und machen, daß wir rauskommen.«

Das hörte ich gern. Ich trank meinen Kaffee aus, und wir gingen unsere Sachen holen. Als wir uns zehn Minuten später in voller Montur und abmarschbereit wiedertrafen, sah Katz elend aus. »Sollen wir nicht doch noch einen Tag hierbleiben?« sagte er.

»Was? Machst du Witze?« Ich war sprachlos. »Warum?«

»Weil es warm ist da drinnen, und hier draußen ist es kalt.«

»Wir müssen los.«

Er sah hinüber zum Wald. »Wir werden uns zu Tode frieren.«

Ich sah ebenfalls hinüber. »Ja, wahrscheinlich. Wir müssen trotzdem los.«

Ich setzte meinen Rucksack auf und taumelte unter dem Gewicht nach hinten – es dauerte Tage, bis ich dieses Manöver auch nur annähernd aufrecht stehend schaffte –, zog den Hüftgurt stramm und trottete los. Am Waldrand sah ich mich um, ob Katz auch hinter mir herkam. Vor mir erstreckte sich eine öde Welt aus winterkahlen Bäumen. Ich betrat mit gebührender Würde den Pfad, ein Abschnitt des ursprünglichen Appalachian Trail aus der Zeit, als hier die Route zwischen Mount Oglethorpe und Springer Mountain vorbeiführte.

Wir schrieben den 9. März 1996. Wir waren unterwegs.

Es ging zunächst hinunter in ein bewaldetes Tal mit einem plätschernden, von brüchigem Eis gesäumten Bachlauf, dem der Weg auf einer Strecke von etwa 700 Metern folgte, bevor er uns bergauf in dichtes Waldgebiet brachte. Es war, das wurde schnell deutlich, der Fuß unseres ersten großen Berges, Frosty Mountain, und er stellte uns umgehend auf eine harte Probe. Die Sonne schien, der Himmel war stahlblau, aber alles in Bodennähe war  braun – braune Bäume, braune Erde, steifgefrorene, braune Blätter – und die Kälte war unnachgiebig. Ich trottete ungefähr 30 Meter weiter bergauf, dann blieb ich stehen, meine Augen quollen hervor, meine Atmung ging schwer, mein Herz raste besorgniserregend. Katz war bereits weit zurückgefallen und keuchte schlimm. Ich drängte vorwärts.

Es war eine Tortur. Das sind die ersten Tage einer Wanderung immer. Ich war einfach nicht in Form, es war hoffnungslos. Der Rucksack war zu schwer, viel zu schwer. Ich hatte mich noch nie einer solchen Anstrengung ausgesetzt, auf die ich zudem schlecht vorbereitet war. Jeder Schritt war eine Qual.

Das Schwierigste war, mit der immer wieder aufs neue entmutigenden Erkenntnis fertig zu werden, daß der Berg sozusagen nicht aufhört. Beim Aufstieg sieht man im Gegensatz zum Abstieg, wenn man den Berg im Rücken hat, nie genau, was noch vor einem liegt. Zwischen den Vorhängen aus Bäumen zu beiden Seiten, den ständig zurückweichenden Umrissen des steilen Hangs vor einem und dem eigenen müden Stapfen verliert sich allmählich das Gefühl dafür, wie weit man schon gelaufen ist. Jedesmal, wenn man sich zum vermeintlichen Bergkamm geschleppt hat, stellt man fest, daß der Berg dahinter nicht etwa aufhört, sondern noch weiter ansteigt, in einem Winkel, der einem vorher verborgen geblieben war, und daß hinter diesem Hang der nächste Hang liegt, und dahinter noch einer und noch einer, und dahinter immer noch welche, bis es einem absolut unmöglich erscheint, daß der Berg sich so endlos lang hinziehen kann. Schließlich erreicht man ein Niveau, von dem aus man die Wipfel der am höchsten gelegenen Bäume erkennen kann, dahinter strahlend blauen Himmel, und das schwankende Gemüt des Wanderers richtet sich auf – endlich da! –, doch dann, welch gnadenlose Enttäuschung. Der Gipfel entzieht sich kontinuierlich immer um genau die Distanz, die man gerade zurückgelegt hat, so daß man jedesmal, wenn sich das Dach aus Bäumen vor einem weit genug öffnet, um einen Blick freizugeben, mit Bestürzung erkennt, daß die am höchsten gelegenen Bäume so fern, so unerreichbar sind wie zuvor. Trotzdem stapft man weiter. Was bleibt einem anderes übrig?

Wenn man dann, nach unendlich langer Zeit, in die wirklich höheren Gefilde kommt, wo die kühle Luft nach Harz duftet, die Vegetation knorrig und zäh und windgebeutelt ist, und man bis zur kahlen Bergspitze vorgedrungen ist, kann einem nichts mehr etwas anhaben. Man legt sich flach auf den Bauch, streckt alle viere von sich, wird von dem Gewicht des Rucksacks auf das abschüssige, gneisige Gestein gepreßt, verharrt einige Minuten in dieser Position und sinniert auf sonderbar distanzierte, außerkörperliche Weise darüber, daß man Flechten noch nie aus solcher Nähe betrachtet hat, überhaupt noch nie etwas Natürliches so nahe gesehen hat, seit man vier Jahre alt war und seine erste Lupe geschenkt bekommen hatte. Schließlich rollt man mit einem matten Schnaufer auf die Seite, schnallt den Rucksack ab,  rappelt sich hoch und erkennt – auch dies wie benommen, als wäre man nicht ganz anwesend –, daß die Aussicht spektakulär ist: bewaldete Berge, so weit das Auge reicht, unberührt von Menschenhand, in alle Richtungen. Es könnte himmlisch sein. Es ist herrlich, keine Frage, aber es kommt einem der Gedanke, vor dem es kein Entrinnen gibt, daß man sich nämlich diesen Ausblick zu Fuß erobern mußte und daß das nur ein Bruchteil dessen ist, was man noch durchwandern muß, um bis ans Ziel zu gelangen.

Man vergleicht die Karte mit der umliegenden Landschaft und stellt fest, daß der Pfad steil in ein Tal hinabgeht – eigentlich eine Schlucht, den Schluchten nicht unähnlich, in die der Kojote in den Roadrunner-Zeichentrickfilmen immer abtaucht, Schluchten, deren Tiefpunkte sich im Nichts verlieren – und einen an den Fuß eines Berges bringt, der noch steiler und gewaltiger ist als der, auf dem man steht, und daß man seit dem Frühstück 2,73 Kilometer zurückgelegt haben wird, wenn dieser unsäglich beschwerliche Gipfel erklommen ist, während der Plan, den man sich zu Hause am Küchentisch so schön zurechtgelegt und nach höchstens drei Sekunden des Nachdenkens aufgeschrieben hatte, bis zum Mittagessen 14,32 Kilometer, bis zum Abendessen glatte 27 Kilometer und für morgen noch größere Entfernungen vorsieht.

Aber vielleicht regnet es ja auch, einen kalten, peitschenden, erbarmungslosen Regen, mit Blitz und Donner, der sich bereits auf den benachbarten Bergen austobt. Vielleicht kommt ein Zug Pfadfinder in einem niederschmetternden Tempo vorbei. Vielleicht friert man und hat Hunger und stinkt so erbärmlich, daß man sich selbst nicht mehr riechen kann. Vielleicht will man sich einfach nur hinlegen und es den Flechten gleichtun, nicht unbedingt tot sein, aber ruhen, lange ausruhen, ganz lange ausruhen.

Aber das lag alles noch vor mir. Heute brauchte ich auf einer gut markierten Strecke von 11,2 Kilometern nur vier mittelmäßig hohe Berge bei klarem, trockenen Wetter zu überqueren. Das war doch wohl nicht zuviel verlangt. Im Gegenteil. Es war zu viel verlangt. Es war die Hölle.

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich Katz aus den Augen verlor, aber es war schon nach wenigen Stunden. Zuerst hatte ich immer noch gewartet, bis er aufgeholt hatte. Er fluchte bei jedem Auftreten, blieb nach drei, vier schlurfenden Schritten stehen, wischte sich die Stirn und sah verdrießlich auf die nächsten paar Meter, die unmittelbar vor ihm lagen. Es war schwer auszuhalten, in jeder Beziehung. Schließlich wartete ich nur noch ab, bis er ins Blickfeld rückte, um sicherzugehen, daß er auch nachkam, nicht irgendwo zitternd am Wegesrand lag oder seinen Rucksack angewidert weggeworfen und sich auf die Suche nach Wes Wisson gemacht hatte. Ich wartete und wartete, bis endlich seine Gestalt zwischen den Bäumen auftauchte. Er japste, bewegte sich mit unendlicher Langsamkeit fort und schimpfte laut mit sich selbst. Auf halbem Weg zu unserem dritten Berg, dem l .036 Meter hohen Black Mountain, blieb ich nochmals stehen, wartete wieder sehr lange und überlegte, ob ich zurückgehen sollte, aber dann ließ ich es bleiben und kämpfte mich weiter vorwärts.

11,2 Kilometer hört sich wenig an, aber das ist es keineswegs, glauben Sie mir. Die Entfernung mit Rucksack zu gehen ist selbst für trainierte Menschen nicht ganz einfach. Kennen Sie das: Sie sind im Zoo oder in irgendeinem Vergnügungspark, mit einem kleinen Kind, das keinen Fuß mehr vor den anderen setzen will?

Man nimmt es mit Schwung auf die Schultern und eine Zeitlang, ein paar Minuten vielleicht, macht es sogar Spaß, den kleinen Kerl da oben sitzen zu haben, zu spielen, man würde ihn fallenlassen, oder einen niedrigen Durchgang mit ihm anzusteuern, wo er sich unweigerlich den Kopf stoßen würde, um im allerletzten Moment auszuweichen. Doch dann wird es allmählich ungemütlich. Man spürt ein Stechen im Nacken, eine Verspannung zwischen den Schulterblättern, und der zuerst noch leichte Schmerz sickert tiefer, breitet sich aus, bis es richtig unangenehm wird, und Sie verkünden dem kleinen Jimmy, daß Sie ihn mal absetzen müssen, Jimmy ist bockig und will keinen Schritt weitergehen, und Ihre Frau sieht Sie mit einem geringschätzigen Blick an. »Hätte ich doch bloß einen Footballspieler geheiratet«, scheint sie zu sagen, denn Sie sind keine 400 Meter weit gegangen. »Kannst du das nicht verstehen? Es tut weh. Sehr sogar.« – »Ja ja, ist gut. Ich verstehe schon.«

Und nun stellen Sie sich zwei kleine Jimmies in einem Sack auf Ihrem Rücken vor, oder noch besser, etwas Träges und Schweres, etwas, das nicht hochgehoben werden will, das einem, sobald man es berührt, unmißverständlich zu verstehen gibt, daß es lieber auf dem Boden hocken bleiben will, sagen wir, ein Zementsack oder eine Kiste mit medizinischer Fachliteratur, jedenfalls eine 20 Kilo schwere Last. Stellen Sie sich vor, wie der Sack an Ihnen zerrt, ähnlich der Zugkraft eines abwärts fahrenden Aufzugs. Stellen Sie sich vor, Sie gingen mit diesem Gewicht auf dem Rücken stundenlang, tagelang zu Fuß, und Sie gingen nicht auf einer asphaltierten Straße mit Bänken und Imbißbuden, die in rücksichtsvoll angemessenen Abständen aufgestellt sind, sondern auf einem rauhen Weg, gespickt mit scharfkantigen Steinen und starren Wurzeln und schwindelerregenden Anstiegen, die allesamt Ihren zarten, zittrigen Schenkeln ungeheure Strapazen  abverlangen. Beugen Sie nun den Kopf nach hinten, bis sich Ihr Nacken verspannt, und visieren Sie einen Punkt in drei Kilometern Entfernung an. Das ist Ihr erster Aufstieg. Bis zum Gipfel sind es steile 1.427 Meter, und von dem Kaliber kommen noch einige Gipfel. Jetzt erzählen Sie mir nicht, 11,2 Kilometer seien nicht viel. Und noch etwas. Sie müssen ja nicht. Ich meine, wir sind hier nicht bei der Armee. Sie können sofort umkehren. Nach Hause gehen. Zu Ihrer Familie. Im eigenen Bett schlafen.

Oder aber – Sie können es sich aussuchen, Sie bedauernswerter, armer kleiner Kerl – Sie laufen 3.500 Kilometer durch die Wildnis und über Berge bis nach Maine. Und so trottete ich weiter, Stunde um Stunde, unter viel Weh und Ach, imposante Berge rauf und runter, an endlosen Reihen hoch aufragender Bäume vorbei, die unbeweglich, wie Gäste auf einer Cocktailparty, dastanden, und die ganze Zeit dachte ich: Langsam müßte ich die elf Kilometer geschafft haben. Aber nie hörte der Wanderpfad auf.

Um halb vier erklomm ich einige in Stein gehauene Stufen und befand mich auf einem breiten Aussichtsfelsen: der Gipfel des Springer Mountain. Ich warf meinen Rucksack ab und plumpste gegen einen Baum, überrascht von dem Ausmaß meiner Erschöpfung. Die Aussicht war bezaubernd – die geschwungenen Hügel der Cohutta Mountains, von einem bläulichen Dunstschleier umfangen, wie Zigarettenrauch, der sich am fernen Horizont verliert. Die Sonne stand bereits niedrig am Himmel. Ich ruhte mich ein paar Minuten aus, stand dann auf und sah mich um. An einem Stein war eine Bronzeplatte befestigt, die den Ausgangspunkt des Appalachian Trail anzeigte, und unweit davon war auf einem Pfahl ein Holzkasten montiert, in dem ein an einem Bindfaden befestigter Kugelschreiber lag, dazu ein Notizblock, dessen Seiten sich von der Feuchtigkeit wellten. Der Notizblock war das Gipfelbuch, das Trail Register – eigentlich hatte ich ein ledergebundenes, irgendwie prächtiges Buch erwartet –, und es war vollgekritzelt mit hoffnungsfrohen Einträgen, fast alleinjugendlicher Handschrift. Seit dem ersten Januar gab es etwa 25 Einträge, allein acht am heutigen Tag. Die meisten waren in Eile hingeworfen und klangen munter – »2. März. Da sind wir! Ganz schön kalt hier! Man sieht sich auf dem Katahdin. Jamie und Spud.« Ungefähr ein Drittel war länger und besinnlicher, versehen mit Botschaften wie dieser: »Da bin ich endlich auf dem Springer. Ich weiß nicht, was mir die kommenden Wochen noch bescheren werden, aber mein Glaube an Gott ist stark, und ich weiß die Liebe und Hilfe meiner Familie hinter mir. Mom und Pookie, diese Wanderung mach ich für euch«, und so weiter.

Ich wartete eine Dreiviertelstunde lang auf Katz, dann machte ich mich auf die Suche nach ihm. Das Licht schwand bereits, und in die Luft mischte sich abendliche Kühle. Ich lief und lief den Hang hinunter, durch die endlosen Waldungen, betrat wieder Boden, den ich für immer hinter mich gebracht zu haben glaubte, Ich rief mehrmals seinen Namen und lauschte, nichts. Ich ging weiter, über gestürzte Bäume, über die ich bereits Stunden zuvor geklettert war, Abhänge hinunter, an die ich mich kaum mehr erinnerte. Den Weg hätte meine Oma auch noch geschafft, dachte ich immer bei mir. Schließlich kam ich an eine Biegung, und da war er, torkelte mir entgegen, mit zerzaustem Haar, nur einem Handschuh, und kurz vor einem hysterischen Anfall, wie ich ihn noch nie bei einem erwachsenen Menschen erlebt hatte.

Es war nicht einfach, ihm die Geschichte als zusammenhängendes Ganzes zu entlocken, weil er so zornig war, aber aus dem, was er erzählte, konnte ich entnehmen, daß er in einem Anfall viele Sachen aus seinem Rucksack einen Abhang hinuntergeworfen hatte. Alles, was außen am Sack gebaumelt hatte, war weg.

»Was hast du denn über Bord geworfen?« fragte ich ihn, ohne meine Besorgnis allzu deutlich durchklingen zu lassen.

»Das schwere Zeug. Was sonst. Die Salami, den Reis, den braunen Zucker, das Büchsenfleisch, was weiß ich nicht alles. Eine ganze Menge. Scheißkram.« Katz versteifte sich richtig vor lauter Mißmut. Er führte sich auf, als hätte der Appalachian Trail ihn schmählich verraten. Ich vermute, er entsprach nicht dem, was er erwartet hatte.

Ich entdeckte seinen zweiten Handschuh etwa 30 Meter hinter ihm auf dem Boden und ging hin, um ihn aufzuheben.

»Na dann los«, sagte ich, »es ist sowieso nicht mehr weit.«

»Wie weit?«

»Ungefähr anderthalb Kilometer.«

»Scheiße«, sagte er verbittert.

»Gib mir deinen Rucksack.« Ich schnallte ihn mir auf den Rücken. Er war nicht gerade leer, aber er war entschieden leichter als vorher. Weiß der Himmel, was er alles rausgeworfen hatte.

Wir stapften in der sich ausbreitenden Dämmerung den Berg hinauf bis zum Gipfel. Ein paar hundert Meter unterhalb des Gipfels befanden sich auf einer großen freien Rasenfläche, vor einem finsteren Wald ein Zeltplatz und eine Schutzhütte aus Holz. Es waren viele Leute da, mehr als ich zu Saisonbeginn erwartet hatte. Die Schutzhütte, eher ein Unterstand aus drei Seitenwänden und einem Schrägdach, war schon überfüllt, und auf dem Platz standen verstreut etwa zwölf Zelte. Überall hörte man das Zischen der kleinen Campingkocher, Rauchfäden stiegen auf, es roch nach Essen, und dazwischen bewegten sich junge, gelenkige Menschen.

Ich suchte uns eine Stelle am Rand der Lichtung, etwas abseits, fast unter den Bäumen.

»Ich weiß nicht, wie man ein Zelt aufschlägt«, sagte Katz in gereiztem Tonfall.

»Dann schlage ich es für dich auf.« Du weiches, schwabbliges Riesenbaby Plötzlich war ich nur noch müde.

Katz saß auf einem Baumstamm und sah zu, wie ich sein Zelt aufstellte. Als ich fertig war, schob er seine Iso-Matte und den Schlafsack hinein und kroch dann selbst hinterher. Ich machte mich an mein eigenes Zelt und baute mir umständlich mein kleines Nest. Nach getaner Arbeit richtete ich mich auf und stellte fest, daß sich im Nachbarzelt nichts mehr rührte.

»Bist du schon im Bett?« fragte ich entgeistert.

»Mhm«, brummte er bestätigend.

»Und das war’s? Ziehst dich einfach so zurück? Ohne Abendessen?«

»Mhm.«

Ich blieb minutenlang stehen, sprachlos, verwirrt, zu müde, um mich beleidigt zu fühlen, sogar zu müde, um meinen eigenen Hunger zu spüren. Ich krabbelte in mein Zelt, holte eine Wasserflasche und ein Buch aus dem Rucksack, legte mir zur nächtlichen Verteidigung und Beleuchtung Messer und Taschenlampe bereit und streckte mich schließlich in meinem Schlafsack aus dankbarer denn je, in der Waagerechten zu sein. Ich war nach wenigen Sekunden weggetreten. Ich glaube, ich habe noch nie so gut geschlafen.

 

Als ich aufwachte, war es taghell. Die Innenseite meines Zeltes war mit einem merkwürdigen, flockigen Reif beschichtet, der, wie mir nach einiger Überlegung klar wurde, der Niederschlag meines nächtlichen Schnarchens sein mußte, kondensiert, gefroren und ans Zeltdach geklebt, wie in einem Tage- oder besser Nachtbuch der Atmungserinnerungen. Meine Wasserflasche war ebenfalls gefroren. Das schien mir etwas für echte Machos zu  sein, und ich untersuchte sie interessiert, wie ein seltenes Stück  Erz. Es war erstaunlich gemütlich in meinem Schlafsack, und ich hatte es wahrlich nicht eilig, die Torheit zu begehen, gleich wieder Berge hochzukraxeln, deswegen blieb ich liegen, wie unter dem strengsten Befehl, mich nicht zu rühren. Nach einer Weile nahm ich wahr, daß Katz bereits draußen rumorte, leise stöhnend, wie vor Schmerz, und irgend etwas machte, was sich unwahrscheinlich geschäftig anhörte.

Nach ein, zwei Minuten kam er an und hockte sich neben mein Zelt, seine Gestalt fiel als dunkler Schatten auf die Zeltwand. Ohne mich zu fragen, ob ich wach sei oder nicht, erkundigte er sich mit leiser Stimme: »Sag mal, habe ich mich gestern abend wie  ein Schwein benommen?«

»Das könnte man so sagen.«

Er war einen Moment lang still. »Ich koche Kaffee.« Ich glaube, das war seine Form der Entschuldigung.

»Das ist nett.«

»Ziemlich kalt hier draußen.«

»Hier drin auch.«

»Meine Wasserflasche ist gefroren.«

»Meine auch.«

Ich schlüpfte aus meinem Nylonbauch heraus und kroch mit knackenden Gelenken aus dem Zelt. Es war ein komisches Gefühl und sehr neuartig, mit langen Unterhosen draußen im Freien zu stehen. Katz beugte sich über den Kocher und hatte einen Topf Wasser aufgesetzt.

Anscheinend waren wir die ersten Camper, die wach waren. Es war kalt, aber doch eine Idee wärmer als gestern, und die niedrige Sonne, die zwischen den Bäumen hervorschimmerte, stimmte verhalten optimistisch.

»Wie geht es dir?« sagte er.

Ich beugte probeweise die Knie. »Eigentlich gar nicht so schlecht.«

»Mir auch.«

Er goß Wasser in den Filter. »Ich bin auch ganz lieb heute«, versprach er.

»Gut.« Ich sah ihm über die Schulter. »Gibt es einen Grund«, fragte ich, »warum du den Kaffee durch Klopapier filterst?«

»Ich…. ach…. ich habe die Filtertüten weggeworfen.«

Mir entwich ein mißglücktes Lachen. »Die können doch höchstens ein paar Gramm gewogen haben.«

»Ich weiß, aber man konnte so schön damit werfen. Sie flatterten durch die Luft.« Er goß ein bißchen Wasser nach.

»Mit Klopapier funktioniert es auch ganz gut.«

Wir sahen zu, wie das Wasser durchtröpfelte und waren irgendwie stolz. Unser erstes Selbstgekochtes in der Wildnis. Er reichte mir einen Becher Kaffee. Es schwammen reichlich Pulver und kleine, rosa Papierschnipsel drin herum, dafür war er siedend heiß, das war die Hauptsache.

Er sah mich entschuldigend an. »Den braunen Zucker habe ich auch weggeworfen, wir müssen unsere Haferflocken also ohne Zucker essen.«

Ach so. »Wir müssen unsere Haferflocken sogar ohne Haferflocken essen. Die habe ich nämlich in New Hampshire gelassen.«

»Wirklich?« sagte er und fügte hinzu, als wäre es nur fürs Protokoll: »Dabei esse ich Haferflocken so gerne.«

»Wie war’s mit etwas Käse zum Kaffee?«

Er schüttelte den Kopf. »Weggeworfen.«

»Erdnüsse?«

»Weggeworfen.«

»Büchsenfleisch?«

»Das habe ich erst recht weggeworfen.«

Die Sache nahm allmählich bedrohliche Ausmaße an. »Und die Mortadella?«

»Ach die? Die habe ich in Amicalola gegessen«, sagte er, als wäre das bereits Wochen her, und ergänzte dann in einem Tonfall, als mache er damit ein edelmütiges Zugeständnis: »Mir reichen eine Tasse Kaffee und ein paar Little Debbies.«

Ich verzog leicht das Gesicht. »Die Little Debbies habe ich auch zu Hause gelassen.«

Seine Augen weiteten sich. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

Ich nickte reumütig.

»Alle?«

Ich nickte noch mal.

Er stöhnte schwer. Das war ein harter Schlag, eine ernste Herausforderung seines versprochenen Gleichmuts – wenn nicht« mehr. Wir beschlossen eine Inventur vorzunehmen. Wir räumten eine kleine Fläche auf dem Zeltboden frei und warfen unsere Verpflegung zusammen. Sie war erschreckend dürftig – Nudeln, eine Packung Reis, Rosinen, Kaffee, Salz, diverse Schokoriegel und  Klopapier. Das war alles.

Wir frühstückten ein Snickers, tranken unseren Kaffee aus, bauten unser Lager ab, hievten unsere Rucksäcke auf den Rücken – nicht ohne dabei zur Seite zu stolpern – und machten uns wieder auf den Weg.

»Ich fasse es nicht – da läßt der Kerl die Little Debbies zu Hause!« sagte Katz und war bereits nach wenigen Metern wieder zurückgefallen.