9. Kapitel

 

Earl V. Shaffer, ein junger Mann, der gerade seinen Abschied von der Armee genommen hatte, war der erste Mensch, der den Appalachian Trail an einem Stück vom Anfang bis zum Ende abgewandert ist. Er war 123 Tage unterwegs, von April bis August 1948, ohne Zelt und häufig nur mit Straßenkarten zur Orientierung, und legte durchschnittlich 27 Kilometer am Tag zurück. Zufälligerweise erschien während dieser Zeit in den Appalachian Trail News, der Zeitschrift der Appalachian Trail Conference, ein langer Artikel von Myron Avery und dem Herausgeber Jean Stephenson, in dem ausführlich dargestellt wurde, warum die Wanderung an einem Stück wahrscheinlich nicht zu bewerkstelligen sei.

Der Pfad, den Shaffer vorfand, war mit dem ordentlich gepflegten Wanderweg von heute nicht zu vergleichen. Obwohl die Fertigstellung des Wegs erst elf Jahre zurücklag, war er 1948 bereits wieder in Vergessenheit geraten. Shaffer mußte feststellen, daß weite Abschnitte überwuchert oder durch Rodungen im großen Stil vernichtet worden waren. Es gab nur wenige Schutzhütten und oftmals keine Markierungen. Viel Zeit ging ihm damit verloren, daß er den Pfad über mit Gestrüpp bewachsene Berghänge erst mit einem Buschmesser freischlagen mußte oder daß er weite Umwege lief, wenn er an einer Gabelung erstmal in die falsche Richtung gegangen war. Gelegentlich stieß er auf eine Straße, und es zeigte sich, daß er kilometerweit vom Weg abgekommen war. Die Bewohner der Orte, durch die er kam, wußten oft nichts von der Existenz des Trails und wenn doch, waren sie jedesmal erstaunt darüber, daß er tatsächlich von Georgia bis Maine führte. Häufig begegneten ihm die Menschen mit Mißtrauen.

Andererseits gab es zu der Zeit auch noch in den entlegensten Nestern fast immer ein Geschäft oder ein Cafe, und in der Regel konnte Shaffer, wenn er den Trail verließ, damit rechnen, irgendwann auf einen Linienbus zu treffen, den er anhalten konnte und der ihn in die nächste Stadt bringen würde. Obwohl er in den vier Monaten keinem Wanderer begegnete, gab es doch genug anderes Leben entlang des Wegs. Er kam oft an kleinen Farmen oder Waldhütten vorbei oder stieß auf Viehzüchter, die ihre Herden auf den grasbewachsenen Bergkuppen hüteten. Diese Lebensformen sind längst untergegangen. Heute ist der Appalachian Trail eine geplante Wildnis, auf Befehl, wenn man so will, denn die meisten Gehöfte, an denen Shaffer vorbeikam, wurden später zwangsenteignet und unauffällig in Waldland zurückverwandelt. Und noch ein paar Unterschiede zu damals: 1948 gab es doppelt so viele Singvögel in den Vereinigten Staaten wie heute, und außer den Kastanien waren die Bäume gesund. Hartriegel, Ulme, Schierling, Balsamtanne und Rotfichte gediehen alle noch. Vor allem aber hatte unser Freund Shaffer die ganzen 3.200 Kilometer Wanderweg ganz für sich allem.

Als Shaffer Anfang August seine Wanderung beendete, auf den Tag genau vier Monate nach dem Start, und diese einmalige Leistung dem Büro der Appalachian Trail Conference zur Kenntnis brachte, gab es dort zunächst niemanden, der ihm Glauben schenkte. Er mußte erst offiziellen Vertretern seine Fotos und Wander-Tagebücher zeigen und eine, wie er sich in seinem später erschienenen Reisebericht Walking with Spring ausdrückte, »freundliche aber eingehende Prüfung« über sich ergehen lassen, bevor man ihm seine Geschichte schließlich abnahm.

Als sich die Nachricht von Shaffers Wanderung verbreitete, erregte sie ungeheuer viel Aufsehen. Zeitungsjournalisten reisten für Interviews an, National Geographie veröffentlichte einen langen Artikel über ihn, und der Appalachian Trail erlebte ein bescheidenes Revival. Wandern ist allerdings schon immer ein seltener, geradezu exotischer Zeitvertreib in Amerika gewesen, und nach wenigen Jahren war der AT außer bei einigen Unnachgiebigen und Exzentrikern schon wieder weitgehend vergessen. Anfang der 60er Jahre tauchte der Plan auf, den Blue Ridge Parkway, eine malerische Straße südlich der Smokies, zu verlängern und dafür den entsprechenden Abschnitt des AT einfach zu überbauen. Der Plan scheiterte – aus Kostengründen, nicht etwa, weil es einen Aufschrei der Empörung gegeben hätte –, aber dafür wurde der AT an anderer Stelle beschnitten oder verkam zu einem matschigen Trampelpfad durch Gewerbegebiet. 1958 wurden, wie bereits erwähnt, von der Südhälfte, dem Abschnitt zwischen Mount Oglethorpe und Springer Mountain, 32 Kilometer gekappt. Mitte der 60er Jahre sah es für jeden sensiblen Beobachter so aus, als würde der AT nur als ein Sammelsurium unzusammenhängender, hier und da verstreut liegender, einzelner Wegstrecken überleben – in den Smokies und dem Shenandoah National Park, quer durch Vermont bis nach Maine –, einsame, übriggebliebene Abschnitte in dem obligatorischen State Park, aber ansonsten begraben unter Shopping Mails und Erschließungsprojekten. Weite Strecken des Trails führten über Privatgrundstücke, und neue Besitzer widerriefen oft das einstmals inoffiziell erteilte Wegerecht und erzwangen damit eine meist voreilige und verworrene neue Wegführung entlang befahrener Highways oder anderer öffentlicher Straßen – was kaum das Erlebnis der Wildnis bot, das Benton MacKaye im Auge gehabt hatte. Wieder einmal war der AT bedroht.

Dann wollte es der Zufall, daß Amerika einen Innenminister bekam, der selbst begeisterter Wanderer war, Stewart Udall. In seiner Amtszeit wurde 1968 der National Trails System Act verabschiedet, ein ehrgeiziges und weitreichendes Gesetzesvorhaben, das größtenteils nie verwirklicht worden ist. Es sah neue Wanderwege in einer Gesamtlänge von 40.000 Kilometer kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten vor, von denen die meisten allerdings nie gebaut wurden. Das Gesetz brachte aber immerhin den Pacific Crest Trail hervor und sicherte die Zukunft des AT, indem er ihn zum de facto National Park erklärte. Außerdem gewährte es Finanzmittel, 170 Millionen Dollar seit 1978, für den Erwerb von Land, um wenigstens eine Art Wildnis-Pufferzone links und rechts des Wegesrands zu gewährleisten. Heute verläuft fast der gesamte Weg durch geschützte Wildnis, nur 33 Kilometer, knapp ein Prozent der Strecke, führen über öffentliche Straßen, meistens über Brücken, da, wo der Weg Ortschaften durchquert.

In den 50 Jahren nach Shaffers Wanderung haben etwa 4.000 Menschen diesen Kraftakt unternommen. Unter den Wanderern, die den Trail von Anfang bis Ende gehen, gibt es zwei Typen, einmal diejenigen, die ihn in einer einzigen Saison hinter sich bringen, die sogenannten »Weitwanderer«, und diejenigen, die den Weg portionsweise gehen, die »Etappenwanderer«. Der Rekord für die längste Etappenwanderung liegt bei 46 Jahren. Die Appalachian Trail Conference erkennt Geschwindigkeitsrekorde nicht an, mit der Begründung, dies widerspräche der Grundidee. Das hält die Leute jedoch nicht davon ab, es trotzdem zu versuchen. In den 80er Jahren ging ein gewisser Ward Leonard mit voll bepacktem Rucksack und ohne Helfermannschaften den Weg in 60 Tagen ab – eine unglaubliche Leistung, wenn man bedenkt, daß man für die gleiche Entfernung mit dem Auto etwa fünf Tage braucht. Im Mai 1991 traten der »Extremläufer« David Horton und der »Extremwanderer« Scott Grierson gegeneinander an und gingen im Abstand von zwei Tagen los. Horton hatte auf der gesamten Strecke ein Netz von Helfermannschaften gespannt, die an Straßenkreuzungen und anderen strategischen Punkten auf ihn warteten, so daß er beim Wandern nur eine Flasche Wasser mitzuführen brauchte. Jeden Abend wurde er mit einem Auto in ein Motel gefahren oder privat untergebracht. Er legte pro Tag durchschnittlich 61,6 Kilometer zurück, das sind zehn bis elf Stunden Dauerlauf. Grierson dagegen ging ausschließlich zu Fuß, am Tag bis zu 18 Stunden. Am 39. Tag wurde er von Horton in New Hampshire überholt, der sein Ziel in 52 Tagen und neun Stunden erreichte. Grierson kam zwei Tage später an.

Alle möglichen Leute haben die Wanderung an einem Stück geschafft. Ein Mann war bereits über Achtzig, ein anderer ging an Krücken, und ein Blinder namens Bill Irwin ist den Weg zusammen mit seinem Blindenhund gewandert und unterwegs schätzungsweise 6.OOOmal hingefallen. Die berühmteste Person unter den Weitwanderern oder zumindest diejenige, über die am meisten geschrieben wurde, ist Emma »Grandma« Gatewood, die den Trail mit über sechzig Jahren bereits zweimal erfolgreich absolviert hat, obwohl sie eine sehr exzentrische Person ist, schlecht ausgerüstet war und sich sozusagen selbst im Weg stand – sie verirrte sich dauernd. Mein Lieblingskandidat ist jedoch Woodrow Murphy aus Pepperell, Massachusetts, der 1995 die Wanderung an einem Stück unternahm. Er hätte auch so meine Sympathie gehabt, schon weil er Woodrow heißt, aber ich bewunderte ihn um so mehr, als ich las, daß er 160 Kilo wog und sich auf den Weg machte, um Gewicht zu verlieren. In der ersten Woche schaffte er ein Tagespensum von acht Kilometern, aber er hielt durch, und im August, als er wieder zu Hause ankam, hatte er seine Tagesleistung auf 19 Kilometer gesteigert. Er hatte 24 Kilo abgenommen – nicht gerade viel bei dem Gesamtgewicht -und wollte im Jahr darauf die Wanderung wiederholen.

Erstaunlich viele Weitwanderer kommen in Katahdin an, machen auf der Stelle kehrt und gehen den ganzen Weg nach Georgia noch mal zurück. Sie können einfach nicht aufhören mit dem Wandern, was einen dann doch stutzig macht. Es ist sogar so, daß man gar nicht mehr aus dem Staunen herauskommt, wenn man mehr über diese Weitwanderer liest. Nehmen wir zum Beispiel Bill Irwin, den Blinden. Nach seinem Abenteuer meinte er: »Das Wandern an sich hat mir keinen Spaß gemacht. Ich fühlte mich eher dazu gezwungen. Ich mußte es tun. Ich hatte keine andere Wahl.« Oder David Horton, der Extremläufer, der 1991 den Geschwindigkeitsrekord aufstellte: Nach eigener Darstellung war er am Ende »ein geistiges und körperliches Wrack«, und während der Durchquerung von Maine hat er die meiste Zeit über furchtbar geweint. Da fragt man sich doch: Warum tun sich die Leute das an? Selbst Earl Shaffer fristete später sein Leben als Einsied- ler in den abgelegenen Wäldern von Pennsylvania. Ich will damit nicht sagen, daß der Appalachian Trail einen verrückt macht, nur, daß man für diese Wanderung irgendwie veranlagt sein muß.

Welche Schamgefühle mich plagten, als ich meinen Ehrgeiz aufgab, die ganze Strecke zu gehen – wenn doch eine Oma in Turnschuhen, ein wandelnder Wasserball namens Woodrow und über 3.990 andere es bis Katahdin geschafft hatten? Keine. Ich würde ja immer noch den Appalachian Trail entlangwandern, nur nicht mehr jeden Meter. Kaum zu glauben, aber Katz und ich hatten bereits eine halbe Million Schritte getan. Es schien nicht unbedingt notwendig, auch noch die restlichen viereinhalb Millionen zu tun, um einen Eindruck von der Sache zu kriegen.

Wir ließen uns also von dem witzigen Taxifahrer nach Knoxville bringen, mieteten uns am Flughafen einen Wagen und befanden uns schon am frühen Nachmittag auf dem Weg Richtung Norden, auf einer Ausfallstraße, die uns durch eine Welt führte, die wir beinahe vergessen hatten: befahrene Straßen, Ampelanlagen, riesige Kreuzungen, überdimensionale Verkehrsschilder, landverschlingende Einkaufszentren, Tankstellen, Billigkaufhäuser, Auspuffwerkstätten, Parkplätze und was sonst noch alles dazu gehört. Selbst nach einem Tag in Gatlinburg war der Kulturschock überwältigend. Ich habe irgendwo gelesen, daß einmal zwei Indianer aus dem brasilianischen Regenwald, die keine Kenntnisse von der Welt jenseits des Dschungels besaßen und auch keine Erwartungen damit verknüpften, nach Sao Paulo oder Rio gebracht wurden, und als sie sahen, woraus diese Welt bestand – aus Häusern, Straßen, Flugzeugen am Himmel – und wie grundlegend sie sich von ihrem eigenen einfachen Leben unterschied, machten sie sich beide ausgiebig in die Hose. Ich kann gut nachvollziehen, wie sich die beiden vorgekommen sind.

Es ist so ein extremer Kontrast. Draußen auf dem Trail ist der Wald dein Universum, ganz und gar. Man erlebt nichts anderes, sieht nichts anderes, Tag für Tag. Schließlich kann man sich gar nichts anderes mehr vorstellen. Man weiß natürlich, daß es irgendwo jenseits des Horizonts große Städte, rauchende Fabrikschlote und verstopfte Highways gibt, aber diesseits, da, wo der Wald die Landschaft bedeckt, so weit das Auge reicht, herrscht die Natur. Auch die kleinen Städte, Franklin oder Hiawassee, selbst Gatlinburg, sind nur Wegstationen, die verstreut im großen Kosmos des Waldes hegen.

Aber man braucht nur den Trail zu verlassen und irgendwo hinzufahren, so wie wir jetzt, und es wird einem klar, wie herrlich man getäuscht worden ist. Hier waren die Berge lediglich Kulisse – bekannt, vertraut, in der Nähe, aber nicht auffälliger oder folgenschwerer als die Wolken, die über die Gipfel dahinjagten. Hier tobte das Leben, rückte einem förmlich auf den Leib: Tankstellen, Wal-Marts, Kmarts, Dunkin Donuts, Blockbuster Videotheken, ein unaufhörlicher Aufmarsch kommerzieller Abscheulichkeiten.

Sogar Katz war angewidert. »Meine Güte, ist das häßlich«, sagte er erstaunt, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Ich schaute an ihm vorbei auf eine gigantische Shopping Mall mit einem gigantischen Parkplatz davor, und pflichtete ihm bei. Es war schrecklich. Und dann machten wir uns gemeinsam ausgiebig in die Hose.