TEIL 2
13. Kapitel
Damit ging der erste Teil unseres großen Abenteuers zu Ende. Wir marschierten die 29 Kilometer bis nach Front Royal, wo meine Frau uns in zwei Tagen abholen sollte, vorausgesetzt, sie fand den weiten Weg von New Hampshire mit dem Auto durch unbekanntes Terrain hierher.
Ich mußte vier Wochen aussetzen und mich anderen Dingen widmen – hauptsächlich Leute dazu überreden, mein neues Buch zu kaufen, obwohl es nichts mit streßfreiem Abnehmen, Tänzen mit irgendwelchen Wölfen, Erfolg im Zeitalter der Angst oder dem Prozeß gegen O.J. Simpson zu tun hatte. (Trotzdem verkaufte es sich über sechzigmal.) Katz wollte zurück nach Des Moines, wo er für den Sommer einen Job auf dem Bau in Aussicht hatte, aber er versprach, im August wiederzukommen, um den berühmten und gefährlichen Abschnitt des Trails in Maine, der sich Hundred Mile Wilderness nennt, mit mir zu gehen.
Ganz am Anfang unserer Wanderung hatte er ernsthaft in Erwägung gezogen, den gesamten Trail zu gehen, sich allein auf den Weg zu machen, bis ich dann im Juni wieder dazustoßen würde, aber als ich ihn jetzt danach fragte, lachte er nur und sagte, ich sollte gefälligst auf dem Teppich bleiben.
»Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich erstaunt, daß wir überhaupt so weit gekommen sind«, sagte er, und ich stimmte ihm zu. Wir waren 800 Kilometer weit gelaufen, hatten eineinviertel Millionen Schritte getan, seit wir in Amicalola aufgebrochen waren. Wir hatten allen Grund, stolz zu sein. Wir waren jetzt richtige Wanderer. Wir hatten in den Wäldern geschissen, und wir hatten mit Bären gefrühstückt. Wir waren Männer der Berge und würden es immer bleiben.
29 Kilometer an einem Stück zu laufen war eine Heldentat für unsere Verhältnisse, aber wir waren dreckig, hatten den Trail satt und freuten uns auf eine Stadt, und deshalb trotteten wir weiter. Gegen sieben Uhr kamen wir todmüde in Front Royal an und stiegen gleich im erstbesten Motel ab, an dem wir vorbeikamen. Es war unsäglich schäbig, aber billig. Die Matratze hing durch, das Bild auf dem Fernsehschirm wackelte, als würde es gnadenlos von irgendeinem elektronischen Bauteil traktiert, und meine Zimmertür schloß nicht richtig. Sie tat nur so, aber wenn man sie j von außen antippte, sprang sie auf. Es beunruhigte mich zuerst, ) aber dann machte ich mir klar, daß wohl kaum ein Einbrecher scharf auf irgendeine meiner Habseligkeiten sein würde, also zog ich die Tür einfach zu und ging mit Katz Abend essen. Wir fanden ein Steakhouse, ein Stück die Straße hinunter, und lagen anschließend zufrieden in unseren Betten vor dem Fernseher.
Am nächsten Morgen trabte ich früh zum nächsten Kmart und kaufte zwei komplette Herrenausstattungen – Strümpfe, Unterwäsche, Jeans, Turnschuhe, Taschentücher und die beiden schrillsten Hemden, die ich auftreiben konnte, eines mit Booten und Ankern drauf, das andere mit den berühmtesten Sehenswürdigkeiten Europas. Ich kehrte zum Motel zurück, überreichte eines der Pakete mit Klamotten Katz, der total begeistert war, ging auf mein Zimmer und zog mir die neuen Sachen an. Zehn Minuten später trafen wir uns auf dem Parkplatz wieder, frisch rasiert, schick angezogen, und machten uns gegenseitig Komplimente. Wir hatten einen ganzen freien Tag vor uns und gingen erst mal frühstücken. Danach bummelten wir zufrieden durch die bescheidenen Einkaufsstraßen, stöberten aus Langeweile in Se-condhandläden, stießen auf ein Geschäft für Campingausrüstung, wo ich einen Ersatz für meinen Wanderstab erstand, der genauso aussah wie der, den ich verloren hatte. Anschließend aßen wir zu Mittag und beschlossen, am Nachmittag spazierenzugehen. Deswegen waren wir ja hier.
Wir stießen auf eine Bahnlinie, die dem Verlauf des Shenandoah River folgte. Es gibt nichts Schöneres, nichts, was ich stärker mit Sommer verbinde, als in einem neuen Hemd Bahngleise entlangzuschlendern. Wir gingen ohne Eile, ohne bestimmten Zweck, wie Bergmenschen auf Urlaub, plauderten unentwegt über Gott und die Welt, traten gelegentlich zur Seite, um einen Güterzug vorbeirattern zu lassen, und freuten uns ungemein an der kräftigen Sonne, den verlockend schimmernden, unendlichen Gleisen und dem schlichten Vergnügen, sich auf Beinen fortzubewegen, die nicht müde waren. So spazierten wir fast bis Sonnenuntergang. Schöner hätten wir den letzten Tag nicht verbringen können.
Am nächsten Morgen gingen wir wieder frühstücken, und dann folgten drei Stunden elender Warterei neben der Einfahrt des Motel-Parkplatzes: den Verkehr beobachten, Ausschau halten nach einem bestimmten Auto voller strahlender, aufgeregter, lang ersehnter Gesichter. Wochenlang hatte ich versucht, diesen verborgenen Ort des Schmerzes, wo die Gedanken an meine Familie hausten, nicht zu betreten, aber jetzt, wo sie bald da sein würde – jetzt, wo ich meinen Gedanken freien Lauf lassen konnte –, war die Vorfreude unerträglich.
Sie können sich die Wiedersehensfreude vorstellen, als meine Familie endlich kam, die überschwenglichen Umarmungen, das vielstimmige Geschnatter, das Durcheinander unwichtiger, aber wunderbar detaillierter Informationen über die Schwierigkeit, die richtige Interstate-Ausfahrt und das Motel zu finden, das Lob für Dads trainierten Körper, das Mißfallen über sein neues Hemd. Plötzlich fiel mir Katz wieder ein, verschämt stand er abseits und grinste. Ich versuchte, ihn in die Begrüßung mit einzubeziehen, in das Wuscheln in den Haaren und was sonst so zu dem ganzen, überirdisch glücklichen Theater, endlich wieder vereint zu sein, dazugehört.
Wir brachten Katz zum National Airport in Washington, von wo aus er für den späten Nachmittag einen Flug nach Des Moines gebucht hatte. In der Wartehalle merkte ich, daß wir bereits wieder in zwei verschiedenen Welten waren – er war abgelenkt von der Suche nach dem richtigen Flugsteig, ich war abgelenkt von dem Gedanken an meine Familie, die auf mich wartete. Mich beschäftigte, daß wir im Parkverbot standen, daß gleich die Rushhour in Washington einsetzen würde – und so trennten wir beide uns etwas verlegen, abwesend, mit hastig hingeworfenen: Wünschen für einen angenehmen Heimflug und dem Versprechen, uns im August zur Vollendung unserer großen Wanderung wiederzutreffen. Als er weg war, fühlte ich mich elend, aber dann ging ich zurück zum Auto, sah meine Familie und dachte wochenlang nicht mehr an Katz.
Erst Ende Mai, Anfang Juni kehrte ich zum Appalachian Trail zurück. Ich machte eine Tageswanderung in dem Wald hinter unserem Haus, mit kleinem Gepäck, einer Wasserflasche, zwei Sandwiches und – pro forma – einer Karte, sonst nichts. Es war Sommer, der Wald ein neuer, ganz anderer Ort, voller Leben, voller Grün, Vogelgezwitscher, Schwärmen von Moskitos und Kriebelmücken. Ich ging acht Kilometer weit durch hügeliges Gelände bis nach Etna, eine Kleinstadt, wo ich mich neben einen alten Friedhof setzte und meine Sandwiches verzehrte, dann alles wieder zusammenpackte und zurückging. Ich war vor Mittag wieder zu Hause. Das war nicht das Richtige für mich.
Am nächsten Tag fuhr ich zum Mount Moosilauke, 80 Kilometer von zu Hause entfernt, am südlichen Rand der White Mountains. Moosilauke ist ein herrlicher Berg von beeindruckender Erhabenheit. Er liegt da wie ein Löwe, mitten in der Pampa, so daß er wenig Beachtung erfährt. Er gehört zum Dartmouth College, Hanover, dessen berühmter Outing Club sich seit Anfang des Jahrhunderts gewissenhaft und auf löblich unspektakuläre Weise um das Gebiet kümmert. Dartmouth hat am Moosilauke den Abfahrtsskilauf in Amerika eingeführt, und 1933 wurde dort die erste Nationalmeisterschaft ausgetragen. Für so etwas ist der Berg jedoch zu abgelegen, und die Fans des neuen Sports zogen rasch weiter zu anderen Bergen New Englands, die in der Nähe von Hauptverkehrsstraßen liegen, und Moosilauke versank wieder in grandioser Einsamkeit. Heute würde man nie darauf kommen, daß er einst berühmt gewesen ist.
Ich stellte meinen Wagen auf einem kleinen Schotterplatz ab, es war das einzige Auto an diesem Tag dort, und machte mich auf den Weg in den Wald. Diesmal hatte ich Wasser, Sandwiches, eine Karte und Insektenspray mitgenommen. Mount Moosilauke ist 1.463 Meter hoch und sehr steil. Befreit von jeglicher Last auf dem Rücken konnte ich ohne Pause glatt durchmarschieren -eine neue und erfreuliche Erfahrung. Der Ausblick vom Gipfel war phantastisch, ein Panoramablick, aber ohne anständigen Rucksack und ohne Katz war das alles nicht das Wahre. Um vier Uhr war ich wieder zu Hause. Irgend etwas stimmte einfach nicht. Man wandert nicht den Appalachian Trail entlang, und geht dann nach Hause und mäht den Rasen.
Ich war so lange mit der Vorbereitung und der Durchführung des ersten Teils der Wanderung beschäftigt gewesen, daß ich nicht aufhören konnte, mir auszurechnen, wo ich zu diesem Zeitpunkt mittlerweile gewesen wäre. In Wirklichkeit stand ich jetzt allein da, ohne meinen Wandergefährten, weit entfernt von der Stelle, wo wir den Trail verlassen hatten, und hinkte dem rührend optimistischen Zeitplan, den ich vor nunmehr fast einem Jahr aufgestellt hatte, hoffnungslos hinterher. Danach wäre ich jetzt irgendwo in New Jersey gewesen, munter Kilometer fressend, bis zu 50 am Tag.
Ich mußte den Plan meinen Verhältnissen anpassen, soviel stand fest. Aber ich konnte noch so komplizierte Zahlenspielereien anstellen, selbst wenn ich das riesige Teilstück, das Katz und ich ausgelassen hatten, indem wir einfach von Gatlinburg nach Roanoke vorgesprungen waren, unberücksichtigt ließ: Es war völlig klar, daß ich die ganze Strecke niemals in einer Saison schaffen würde. Angenommen, ich würde in Front Royal, wo wir den Trail verlassen hatten, meine Wanderung nach Norden wieder aufnehmen, dann könnte ich froh sein, wenn ich im Winter Vermont erreichte, 800 Kilometer vom Mount Katahdin, dem Endpunkt des Trails, entfernt.
Diesmal wäre auch der kindlich unschuldige Reiz des Neuen nicht mehr dabei, jener erwartungsfrohe, gespannte Schauder, der sich einstellt, wenn man mit einer nagelneuen Ausrüstung loszieht. Diesmal wußte ich genau, was mich erwartete – viele, viele Kilometer einer schwierigen Strecke, steile, felsige Berge, harte Böden in den Schutzhütten, heiße Tage ohne die Möglichkeit, sich zu waschen, unbefriedigende, auf einem launischen Kocher zubereitete Mahlzeiten. Hinzu kamen die durch warme Witterung bedingten Gefahren: schlimme Gewitter mit heftigen Blitzen, bißfreudige Klapperschlangen, fieberauslösende Zecken, hungrige Bären und schließlich, nicht zu vergessen, herumstreunende Mörder, die unversehens und grundlos zustechen, wie die Berichte über den Tod der beiden im Shenandoah National Park umgebrachten Frauen zeigten.
Es war mehr als entmutigend. Das Beste, was ich tun konnte, war – das Beste daraus zu machen. Jedenfalls mußte ich es versuchen. Jeder zu Hause, der mich kannte (zugegeben sind das nicht so viele, aber immerhin genügend, als daß ich ständig in Hauseingänge hätte huschen müssen, wenn mir jemand auf der Hauptstraße begegnet wäre), wußte, daß ich mir vorgenommen hatte, den AT zu machen – was ja schlecht stimmen konnte, wenn ich dabei erwischt wurde, wie ich mich in der Stadt herumdrückte. (»Heute habe ich Bryson gesehen, wie er gerade mit einer Zeitung vorm Gesicht in Eastmans Pharmacy gehüpft ist. Ich dachte, der wollte den AT abgehen. Es stimmt, du hast recht. Er ist ein komischer Kauz.«)
Ich mußte zurück auf den Trail. Ich meine, so richtig weit weg von zu Hause, irgendwo ins nördliche Virginia, jedenfalls weit genug, um mit Anstand behaupten zu können, ich sei den AT, wenn schon nicht ganz, dann wenigstens fast ganz entlanggewandert. Die Schwierigkeit war bloß die, daß man auf der gesamten Strecke ohne fremde Hilfe weder auf den Weg rauf- noch von ihm runterkommt. Ich konnte nach Washington fliegen, nach Newark oder Scranton oder jeden beliebigen anderen Ort in der Nähe des Trails, aber jedesmal wäre ich noch kilometerweit vom eigentlichen Wanderweg entfernt gewesen. Ich wollte auch nicht die Geduld meiner lieben Frau strapazieren und sie bitten,sich zwei Tage freizunehmen, um mich nach Virginia oder Pennsylvania zu bringen, also beschloß ich, selbst zu fahren. Ich würde, so stellte ich mir vor, den Wagen an einer günstigen Stelle parken, in die Berge wandern, dann zurück zum Wagen, ein Stück weiterfahren und das Ganze wiederholen. Ich rechnete schon damit, daß das im Grunde ziemlich unbefriedigend werden würde, eigentlich war es sogar schwachsinnig – und ich sollte in beiden Punkten recht behalten –, aber mir fiel keine bessere Alternative ein.
Und so stand ich in der ersten Juniwoche wieder an den Ufern des Shenandoah, in Harpers Ferry, West Virginia, blinzelte in den grauen Himmel und versuchte mir krampfhaft einzureden, daß ich mir nichts anderes gewünscht hatte.
Harpers Ferry ist aus verschiedenen Gründen ein interessanter Ort. Zunächst einmal ist er sehr hübsch. Das liegt daran, daß es sich hier um einen National Historical Park handelt und es deswegen keine Pizza Huts, McDonalds, Burger Kings, nicht einmal Einwohner im eigentlichen Sinn gibt, jedenfalls nicht in dem tiefer gelegenen, älteren Stadtteil. Statt dessen findet man lauter restaurierte oder im historischen Stil wiederaufgebaute Häuser mit Plaketten und Hinweistafeln, so daß es eigentlich kaum städtisches Leben gibt, eigentlich gar kein Leben. Trotzdem hat diese geputzte Niedlichkeit etwas Betörendes. Es wäre sogar ein ganz netter Ort zum Leben, wenn man den Einwohnern nur trauen könnte, nicht dem Drang nachzugeben, unbedingt Pizza Huts und Taco Beils in ihren Mauern haben zu wollen (ich persönlich glaube, man könnte ihnen trauen – aber höchstens anderthalb Jahre lang). Es ist ein Ort, der nur so tut als ob, eine Art Fälschung, hübsch versteckt gelegen zwischen steilen Bergen, dort, wo Shenandoah und Potomac River zusammenfließen.
Es ist deswegen ein National Historical Park, weil der Ort tatsächlich eine geschichtliche Bedeutung hat. In Harpers Ferry beschloß der Abolitionist John Brown, die amerikanischen Sklaven zu befreien und einen eigenen neuen Staat im Nordwesten Virginias zu gründen – ein ziemlich kühnes Unterfangen, wenn man bedenkt, daß er über eine Armee von gerade mal 21 Mann verfügte. Zu diesem Zweck schlich er sich im Schutz der Dunkelheit mit seinen Getreuen am 16. Oktober 1859 in die Stadt. Sie nahmen die Waffenkammer der Union ein, wobei sie auf keinen nennenswerten Widerstand trafen, denn das Lager wurde nur von einem einzigen Nachtwächter beschützt, aber sie töteten bei der Aktion dennoch einen unschuldigen Passanten – Ironie des Schicksals, daß es sich dabei ausgerechnet um einen befreiten schwarzen Sklaven handelte. Als sich die Nachricht verbreitete, ein Waffendepot der Union mit 100.000 Gewehren und Unmengen Munition sei in die Hände einer kleinen Bande Verrückter gefallen, schickte der Präsident James Buchanan den Lieutenant Colonel Robert E. Lee, zu dem Zeitpunkt natürlich noch ein treuer Soldat der Union, in den Ort, damit dieser sich der Sache annähme. Lee und seine Männer brauchten keine drei Minuten, um den glücklosen Aufstand niederzuschlagen. Brown wurde gefangengenommen, und man machte ihm umgehend den Prozeß. Einen Monat später wurde er zum Tod durch den Strang verurteilt.
Unter den zur Aufsicht über die Exekution abkommandierten Soldaten befand sich auch Thomas J. Jackson – der bald als Stonewall Jackson Berühmtheit erlangen sollte – und unter den begeisterten Zuschauern der spätere Lincoln-Mörder John Wilkes Booth. Insofern war der Überfall auf die Waffenkammer in Harpers Ferry eine Art Vorspiel der folgenden Ereignisse. Nach Browns kleinem Abenteuerfeldzug brach nämlich die Hölle los. Einige Abolitionisten aus dem Norden, Ralph Waldo Emerson zum Beispiel, stilisierten Brown zu einem Märtyrer, und die Loyalisten des Südens gingen im ‘wahrsten Sinne des Wortes auf die Barrikaden bei dem Gedanken, daß sich hier möglicherweise eine Bewegung entwickelte. Bevor man sich’s versah, befand sich die junge Nation im Krieg.
Harpers Ferry stand während des gesamten überaus blutigen Konflikts, der nun folgte, im Mittelpunkt des Interesses. Gettysburg lag knapp 50 Kilometer weiter nördlich, Manassas in gleicher Entfernung Richtung Süden. Antietam – eigentlich ein Fluß, aber auch der Name der Schlacht von Sharpsburg, Maryland, 1862, in der an einem einzigen Tag doppelt so viele Männer starben wie im Krieg von 1812, dem Mexikanischen Krieg und dem Spanisch-Amerikanischen Krieg zusammengenommen – war nur 16 Kilometer entfernt. Harpers Ferry selbst wurde während des Krieges achtmal eingenommen. Den Rekord in dieser Beziehung hält allerdings Winchester in Virginia, ein paar Kilometer weiter südlich, das insgesamt 75mal erobert und zurückerobert wurde.
Heutzutage begnügt man sich in Harpers Ferry damit, Touristen unterzubringen und nach Überschwemmungen aufzuräumen. Bei zwei so lebhaften Flüssen und einem natürlichen Trichter aus Steilufern davor und dahinter ist es kein Wunder, daß der Ort ständig überflutet wird. Gerade ein halbes Jahr vor meinem Besuch hatte es eine schlimme Flut in der Stadt gegeben, und die Angestellten des Nationalparks waren noch damit beschäftigt aufzuräumen, zu streichen und Möbel, Geräte und Ausstellungsstücke von den oberen Lagerräumen nach unten ins Erdgeschoß zu tragen. (Drei Monate nach meinem Besuch mußten sie alles wieder hochschleppen.) An einem Haus kamen gerade zwei Ranger aus der Tür, gingen ein Stück den Pfad lang und nickten mir beim Vorbeigehen mit einem Lächeln zu. Beide hatten Seitenwaffen umgeschnallt, wie mir auffiel. Weiß der Himmel, wohin das führen soll, wenn auch noch Parkranger Dienstwaffen tragen!
Ich bummelte durch die Stadt, aber an fast jedem Haus hing ein Schild: »Wegen Aufräumungsarbeiten geschlossen.« Danach ging ich zu der Stelle, an der die beiden Flüsse zusammentreffen, dort gab es eine Informationstafel zum Appalachian Trail. Der Mord an den beiden Frauen im Shenandoah National Park war zwar erst zehn Tage her, aber an der Tafel hing bereits ein kleines Plakat mit der Bitte um Aufklärung, dazu Farbfotos von den beiden. Es war deutlich zu erkennen, daß die Frauen die Bilder selbst unterwegs aufgenommen hatten, sie waren beide in Wanderausrüstung, wirkten glücklich und gesund, strahlten geradezu. Es war schwer, den Anblick zu ertragen, wenn man ihr Schicksal kannte. Ich dachte mit einem leichten Schaudern daran, daß sie wahrscheinlich gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, in Harpers Ferry eingetroffen wären, wenn man sie nicht umgebracht hätte, und ich mich mit ihnen unterhalten würde, statt hier zu stehen und mir ihre Fotos anzuschauen – oder, wenn das Schicksal zufällig eine andere Wendung genommen hätte, die beiden jetzt hier an meiner Stelle stehen und ein Bild von Katz und mir betrachten würden, wie wir glücklich und zufrieden in die Kamera strahlten.
In einem der wenigen geöffneten Häuser traf ich auf einen freundlichen, gut informierten und zum Glück unbewaffneten Ranger namens David Fox, der staunte, daß sich überhaupt ein Besucher einfand, und sich darüber freute. Er sprang eilfertig von seinem Hocker auf, als ich eintrat, und war, wie man ihm deutlich ansah, bereit, mir jede Frage zu beantworten. Wir kamen auf Natur- und Landschaftsschutz zu sprechen, und er erwähnte, wie schwierig es für den Park Service sei, mit den bescheidenen Mitteln, die ihm zur Verfügung stünden, gute Arbeit zu leisten. Bei der Gründung des Parks sei genug Geld vorhanden gewesen, um wenigstens die Hälfte des Schoolhouse Ridge Battlefield oberhalb der Stadt zu kaufen (eines der bedeutendsten, wenn auch kaum gewürdigten Schlachtfelder des Bürgerkriegs), und jetzt sei eine Planungsgesellschaft dabei, auf diesem, in seinen Augen geheiligten Boden Häuser und Geschäfte zu errichten. Die Gesellschaft habe bereits Leitungen auf Grundstücken des Nationalparks verlegt, in der zuversichtlichen, wie sich aber herausstellte, irrigen Annahme, der Park Service habe weder den Wunsch noch das Geld, sie davon abzuhalten. Fox riet mir, ich solle mir das unbedingt ansehen. Ich versprach es ihm.
Zuerst aber mußte ich eine -wichtige Pilgerstätte aufsuchen. Harpers Ferry ist das Hauptquartier der Appalachian Trail Conference, Aufsichtsbehörde des prächtigen Wanderwegs, den ich mir für diesen Sommer vorgenommen hatte. Die ATC ist in einem bescheidenen weißen Haus an einem steilen Hang oberhalb der Altstadt untergebracht. Ich erklomm den Hang und betrat das Haus. Das Hauptquartier ist halb Büro, halb Laden; das Büro macht den löblichen Eindruck, als würde dort gearbeitet, und der Laden ist bestückt mit AT-Führern und Andenken. In einer Ecke des öffentlichen Teils stand ein Modell des gesamten Trails in großem Maßstab, das mich sicher von meinem ehrgeizigen Unternehmen abgebracht hätte, wenn ich es vor Beginn der Wanderung gesehen hätte. Es war ungefähr viereinhalb Meter lang und vermittelte auf eindrucksvolle Weise und mit einem Blick, was eine 3.500 Kilometer lange Bergkette bedeutete: Schwerstarbeit. Die übrigen öffentlichen Räume waren mit AT-Souvenirs angefüllt – T-Shirts, Ansichtskarten, Tüchern, verschiedenen Broschüren und Schriften. Ich kaufte ein paar Bücher und Postkarten und wurde von einer freundlichen jungen Frau bedient, Laune Potteiger, deren Namensschildchen sie als »Information Specialist« auswies. Anscheinend hatte man mit ihr genau die Richtige für diesen Job gefunden, denn sie war eine wahre Fundgrube für Informationen.
Sie erzählte mir, im Vorjahr seien 1.500 Wanderer mit der Absicht losgegangen, den ganzen Trail an einem Stück zu gehen, besagte Weitwanderer. 1.200 hätten es bis Neels Gap geschafft (mit anderen Worten, 20 Prozent hatten nach einer Woche aufgegeben!); etwa ein Drittel sei bis Harpers Ferry gekommen, ungefähr bis zur Hälfte der Strecke; und 300 seien bis zum Mount Katahdin gekommen. Das war eine höhere Erfolgsquote als üblich. 60 Leute hätten den Weg von Norden nach Süden erfolgreich absolviert. In den letzten vier Wochen habe das diesjährige Kontingent der Weitwanderer den Ort passiert, aber es sei noch zu früh für eine Einschätzung, auf jeden Fall werde die endgültige Zahl wieder höher liegen. Sie steige sowieso fast jedes Jahr.
Ich erkundigte mich nach den Gefahren, die einem auf dem Trail drohten, und sie sagte mir, in den acht Jahren, die sie nun hier arbeite, habe es nur zwei nachgewiesene Fälle von Schlangenbiß gegeben, beide nicht tödlich; eine Person sei durch Blitzschlag umgekommen.
Dann fragte ich sie nach dem Mord an den beiden Frauen.
Sie setzte eine mitfühlende Miene auf. »Schrecklich. Das hat uns alle sehr aufgeregt, weil Vertrauen in seine Mitmenschen eine Grundvoraussetzung für jeden ist, der den AT entlanggeht. Ich bin selbst 1987 die ganze Strecke abgewandert. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie sehr man auf die Hilfsbereitschaft von Fremden angewiesen ist. Eigentlich ist der ganze Trail darauf ausgerichtet. Und wenn das Vertrauen erst mal dahin ist…« Dann wurde sie sich ihrer Position bewußt und nahm den offiziellen Standpunkt ein – die altbekannte Leier, man dürfe nicht vergessen, daß der Trail von den allgemeinen Übeln der Gesellschaft nicht ausgenommen sei, aber daß er trotzdem, statistisch gesehen, außerordentlich sicher sei, verglichen mit vielen anderen Orten in Amerika. »Seit 1937 sind neun Morde geschehen, so viele wie in jeder normalen Kleinstadt.« Das war korrekt, aber auch ein bißchen irreführend. In den ersten 36 Jahren war nämlich auf dem AT kein einziger Mord passiert, aber neun Morde in den vergangenen 22 Jahren. Dennoch war ihr erstes Argument unbestreitbar. Die Wahrscheinlichkeit, in seinem eigenen Bett ermordet zu werden, ist höher, als die, auf dem AT gewaltsam ums Leben zu kommen. Wie drückte es doch ein amerikanischer Bekannter so schön aus: »Zieht man eine 3.000 Kilometer lange, gerade Linie durch die USA, egal in welchem Winkel, trifft man dabei insgesamt unweigerlich auf neun Mordopfer.«
»Es gibt ein Buch über einen der Morde, falls Sie das interessiert«, sagte die Verkäuferin und faßte unter die Ladentheke. Sie kramte eine Weile in einem Karton und holte dann ein Taschenbuch mit dem Titel Eight Bullets hervor, das sie mir zur Ansicht reichte. Es ging um zwei Wanderer, die 1988inPennsylvania erschossen worden waren. »Wir haben es nicht ausgestellt, weil es die Leute nur aufregt, besonders jetzt«, sagte sie entschuldigend.
Ich kaufte das Buch, und als sie mir das Wechselgeld herausgab, teilte ich ihr meinen Gedanken von eben mit, daß nämlich die beiden Frauen aus Shenandoah jetzt hier durchgekommen wären, wenn sie überlebt hätten. »Ja«, sagte sie, »daran habe ich auch schon gedacht.«
Es nieselte, als ich nach draußen trat. Ich ging hoch zum Schoolhouse Ridge, um mir das Schlachtfeld anzusehen. Es war ein weiter, parkähnlicher Hügel, durch den sich ein Lehrpfad schlängelte, in Abständen versehen mit Informationstafeln über Sprengladungen, über letzte, verzweifelte Attacken und andere kriegerische Handlungen. Die Schlacht um Harpers Ferry war der schönste Moment im Leben von Stonewall Jackson (der zuletzt in die Stadt gekommen war, um John Brown an den Galgen zu bringen), denn hier gelang es ihm mit einem geschickten Manöver und etwas Glück, 12.500 Soldaten der Unionstruppen gefangenzunehmen, mehr amerikanische Soldaten, als je bei einer einzigen militärischen Operation in gegnerische Hände gerieten – abgesehen vom Frühling 1942, als amerikanische Einheiten in Bataan und Corregidor auf den Philippinen von japanischen Truppen besiegt wurden.
Stonewall Jackson war eine wahrhaft schillernde Gestalt. Es lohnt sich, ihn einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Nur wenigen Menschen ist es bislang gelungen, mit nutzloseren Gehirnaktivitäten in kürzerer Zeit mehr Ruhm zu ernten als General Thomas J. Jackson. Seine Marotten waren legendär. Er war hoffnungslos hypochondrisch veranlagt und dabei sehr erfinderisch. Einer seiner liebenswerteren physiologischen Glaubenssätze besagte, daß ein Arm größer sei als der andere, folglich ging und ritt er immer mit einem erhobenen Arm, so daß das Blut in seinen Körper zurückfließen konnte. Er war ein Viel- und Langschläfer, und mehr als einmal schlief er mit vollem Mund bei Tisch ein. Bei der Battle of White Oak Swamp sahen sich seine Offiziere außerstande, ihn zu wecken, und hievten ihn, der nur halb bei Bewußtsein war, auf sein Pferd, wo er weiterschlummerte, während um ihn herum die Granaten explodierten. Er legte übertriebenen Eifer bei der Inventur von Beute an den Tag und verteidigte sie, koste es, was es wolle. Die Liste des Kriegsmaterials, das er während des Feldzugs in Shenandoah 1862 der Armee der Unionstruppen entriß, umfaßte »sechs Taschentücher, zweidreiviertel Dutzend Halstücher und eine Flasche rote Tinte«. Seine Vorgesetzten und Offizierskollegen trieb er zum Wahnsinn, weil er sich einerseits wiederholt Anweisungen widersetzte, andererseits, weil er die paranoide Angewohnheit besaß, seine Strategie, wenn er denn eine hatte, keinem Menschen zu verraten. Einem Offizier, der unter seinem Kommando stand, befahl er, sich aus der Stadt Gordonsville zurückzuziehen, obwohl dieser dort kurz vor einem entscheidenden Sieg stand, und auf kürzestem Weg nach Staunton zu marschieren. Als er in Staunton ankam, war eben der Befehl eingegangen, sich auf der Stelle nach Mount Crawford zu begeben. Dort wiederum wurde ihm mitgeteilt, nach Gordonsville zurückzukehren.
Jackson handelte sich bei den verwirrten, feindlichen Offizieren hauptsächlich wegen der Angewohnheit, seine Truppen ohne jede Logik und für niemanden nachvollziehbar im Shenandoah Valley hin und her zu schieben, den Ruf eines arglistigen Menschen ein. Sein unsterblicher Ruhm beruht fast einzig und allein auf der Tatsache, daß er einige wenige, beflügelnde Siege errang, als anderswo die Truppen der Südstaaten abgeschlachtet und in Marsch gesetzt wurden, und daß er den besten Spitznamen trägt, dessen sich je ein Soldat erfreut hat. Er war zweifellos ein tapferer Mensch, aber es ist durchaus möglich, daß er den Spitznamen nicht wegen seines Wagemuts und seiner Verwegenheit erhielt, sondern wegen seiner Unbeweglichkeit, seiner Sturheit, wenn flexibles Handeln vonnöten gewesen wäre. General Barnard Bee, der ihm diesen Spitznamen bei der First Battle of Manassas verliehen hatte, wurde getötet, bevor der Tag zu Ende ging, so daß das Rätsel um den Namen für immer ungelöst bleiben wird.
Den Sieg bei Harpers Ferry, der größte Triumph, den die Konföderierte Armee während des Bürgerkriegs verbuchen konnte, errang Jackson nur deswegen, weil er das erste und einzige Mal den Befehlen von Robert E. Lee folgte. Das besiegelte seinen Ruhm. Ein paar Monate später wurde er in der Battle of Chancellorsville versehentlich von seinen eigenen Truppen angeschossen und starb eine Woche später an den Folgen. Der Krieg war noch längst nicht vorbei. Und Jackson war gerade erst 31 Jahre alt.
Jackson verbrachte die meiste Zeit während des Kriegs in der Umgebung der Blue Ridge Mountains, schlug dort sein Lager auf und marschierte durch denselben Wald und über dieselben Höhenzüge, die Katz und ich erst kürzlich durchstreift hatten. Mich interessierte daher die Stätte seines größten Triumphs, aber eigentlich wollte ich herausfinden, ob die Entwicklungsgesellschaft hier oben irgend etwas angestellt hatte, über das man sich empören konnte.
Im Regen und bei dem dämmerigen Licht konnte ich keine Anzeichen von Neubauten erkennen, jedenfalls keine in der Nähe oder gar direkt auf dem »geheiligten Boden«. Ich folgte dem Weg über das wellige Gelände, las mir mit gebührender Aufmerksamkeit die Informationstafeln durch, versuchte den Umstand, daß Captain Poagues Bataillon genau hier gestanden und Colonel Grigsbys Truppen dort drüben Aufstellung genommen hatten, auf mich wirken zu lassen, was allerdings von weitaus bescheidenerem Erfolg gekrönt war, als zu hoffen gewesen wäre, da ich dabei allmählich bis auf die Haut durchnäßt wurde. Ich besaß nicht mehr die nötige Energie, um mir den Lärm, den Rauch und das Gemetzel vorzustellen. Außerdem hatte ich vom Thema Tod genug für heute. Also ging ich zurück zum Auto und fuhr los.