16. Kapitel

 

1983 behauptete ein Mann steif und fest, ihm sei beim Wandern in den Berkshire Hills in Massachusetts, ein Stück abseits des Appalachian Trail, ein Berglöwe über den Weg gelaufen. Das klang beunruhigend und gleichzeitig unglaubwürdig, war doch seit 1903, als das letzte Exemplar dieser Gattung im Staat New York erschossen worden war, in den USA kein Berglöwe mehr gesichtet worden.

Bald kamen aus allen Teilen New Englands ähnlich lautende Berichte. Ein Mann hatte auf einer Nebenstraße in Vermont zwei junge Tiere auf einer Böschung spielen sehen, vor zwei anderen Wanderern war ein Muttertier mit zwei Jungen über eine Wiese in New Hampshire spaziert. Jedes Jahr gab es ein halbes Dutzend oder noch mehr ähnlich lautende Berichte, und alle stammten von glaubwürdigen Zeugen. Im Winter 1994 ging ein Farmer in Vermont über seinen Hof, um Futter in eine Vogelkrippe zu streuen, als er in etwa 20 Meter Entfernung drei Berglöwen entdeckte. Er sah die Tiere minutenlang wie versteinert an – Berglöwen sind geschickte und gefährliche Raubtiere, und hier standen gleich drei, die ihn mit ruhigem Blick musterten –, dann raste er zum nächsten Telefon und meldete seine Beobachtung einem Biologen der staatlichen Tierschutzbehörde. Die Tiere waren bei der Ankunft des Mannes natürlich längst verschwunden, aber der Biologe fand frischen Kot, den er pflichtbewußt eintütete und an das U.S. Fish and Wildlife Laboratory schickte. Der Laborbefund bestätigte, daß es sich tatsächlich um die Hinterlassenschaft eines Felis concolor handelte, eines östlichen Berglöwen, der verschiedentlich und ehrerbietig auch als Panther, Silberlöwe, Puma und, vor allem in New England, als Wildkatze be-zeichnet wird.

Diese Meldungen fanden mein lebhaftes Interesse, denn ich wanderte gerade unweit der Stelle, an der so eine Kreatur zum ersten Mal gesehen worden war. Ich war mit neuem Eifer, neuer Entschlossenheit und einem neuen Plan wieder auf den Appalachian Trail zurückgekehrt. Ich hatte mir vorgenommen, durch New England zu wandern oder jedenfalls so viele Kilometer der Strecke zu absolvieren, wie ich schaffen konnte, bis Katz in sieben Wochen wieder dazustoßen und mit mir die Hundred Mile Wilderness in Maine abgehen würde. In New England führt der Trail fast 1.120 Kilometer weit über wunderschöne bergige Wanderwege; das ist knapp ein Drittel der Gesamtlänge des AT, und es reichte, um mich bis August zu beschäftigen. Zu diesem Zweck brachte mich meine hilfsbereite Frau mit dem Auto in den Südwesten von Massachusetts und setzte mich für meine dreitägige Tour durch die Berkshires an einer Stelle des Trails unweit von Stockbridge ab. Genau da also befand ich mich an einem heißen Junimorgen, stapfte schwitzend eine steile, aber an sich bescheidene Erhebung, Becket Mountain, hinauf. Während ein Schwarm abwehrmittelresistenter Mücken mich umschwirrte, faßte ich in meine Tasche, um zu überprüfen, ob mein Messer noch da war.

Ich rechnete eigentlich nicht damit, einem Berglöwen zu begegnen, aber erst am Tag zuvor hatte ich in einem Artikel im Boston Globe gelesen, daß sich Berglöwen im Westen – wo sie definitiv noch nicht ausgerottet sind – in letzter Zeit in den Wäldern von Kalifornien vermehrt an Wanderer und Jogger heranpirschten und sie töteten. Es traf sogar den unvermeidlichen armen Kerl, der mit Schürze und lustigem Hütchen an seinem Grill im Garten stand. Das kam mir wie ein böses Omen vor.

Es ist durchaus möglich, daß Berglöwen in New England unentdeckt überlebt haben. Rotluchse, die zugegebenermaßen erheblich kleiner sind als Berglöwen, gibt es wieder in beträchtlicher Zahl, aber die Tiere halten sich versteckt und sind so scheu, daß man ihre Existenz kaum wahrnimmt. Viele Ranger kriegen während ihres gesamten Berufslebens kein einziges Exemplar zu Gesicht, und in den Wäldern im Osten Amerikas finden große Wildkatzen genügend Platz, um ungehindert herumstreunen zu können. Allein in Massachusetts gibt es 100.000 Hektar Wald, davon entfallen 40.000 auf die attraktiven Berkshires. Von meinem augenblicklichen Standort aus hätte ich, festen Willen und einen unerschöpflichen Nudelvorrat vorausgesetzt, bis nach Cape Chidley im nördlichen Quebec durchwandern können, 2.900 Kilometer weit bis zur eiskalten Labrador Sea, und kaum je unter dem schützenden Dach der Bäume hervorzutreten brauchen. Dennoch ist es höchst unwahrscheinlich, daß von einer so großen Wildkatzenart genug Exemplare überlebt haben, um sich nicht nur in einem überschaubaren Gebiet, sondern in ganz New England unbemerkt über neun Jahrzehnte hinweg fortzupflanzen. Dennoch gab es den von einem Biologen untersuchten Kot. Und der stammte zweifelsohne von einem Berglöwen.

Die plausibelste Erklärung für die Existenz der Löwen draußen im Wald war, daß es sich dabei um ausgesetzte Haustiere handelte, die unüberlegt gekauft worden waren und die man später wieder loswerden wollte. Ich hätte also noch Glück, wenn mich ein Tier mit Flohhalsband und Impfpaß anfallen würde. Ich stellte mir vor, ich läge auf dem Rücken, würde gerade genüßlich verspeist und könnte dabei auf der über mir baumelnden Hundemarke lesen: »Ich heiße Mr. Bojangles. Wer mich findet, ruft bitte Tanya und Vinny an, Telefon: 924-4667«

Wie die meisten großen Tiere – und jede Menge kleinerer -wurde der Berglöwe im Osten ausgerottet, weil er als Plage galt. Bis 1940 gab es in vielen Bundesstaaten im Osten groß angekündigte »Kampagnen zur Schädlingsbekämpfung«, die häufig vom Amt für Naturschutz durchgeführt wurden. Das Amt verteilte für jedes erlegte Raubtier, wozu fast alle Tierarten gehörten, zum Beispiel Habichte, Eulen, Eisvögel, Adler und praktisch jedes größere Säugetier, Siegerpunkte an die Jäger. West Virginia vergab sogar jährlich ein Universitätsstipendium an den Studenten, der die meisten Tiere erlegte; andere Bundesstaaten belohnten die Schützen großzügig mit Auszeichnungen und Bargeld. Mit vernünftigem Tierschutz hatte das wenig zu tun. Pennsylvania gab in einem Jahr 90.000 Dollar an Prämien für die Tötung von 130.000 Eulen und Adlern aus, um den Farmern geschätzte Verluste ihres Viehbestandes in der nicht gerade gigantischen Höhe von 1.875 Dollar zu ersparen – es kommt schließlich nicht alle Tage vor, daß eine Eule eine Kuh reißt.

Noch bis 1890 zahlte der Staat New York Prämien für 107 erlegte Berglöwen, und innerhalb von zehn Jahren war das Tier praktisch ausgerottet. Der letzte wildlebende Berglöwe im Osten wurde 1920 in den Smokies erschossen. Der amerikanische Wolf und das Karibu oder nordamerikanische Rentier wurden ebenfalls in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts aus ihrem letzten Refugium in den Appalachen vertrieben, gefolgt vom Schwarzbären. Im Jahre 1900 war der Bestand an Bären in New Hampshire, der heute wieder auf über 3.000 angewachsen ist, auf gerade mal 50 gesunken.

Es gibt immer noch jede Menge Leben draußen in den Wäldern, aber es sind vorwiegend kleine Tiere. Einer repräsentativen Schätzung des Ökologen V E. Shelford von der Umversity of Illinois zufolge leben in den Wäldern im Osten Amerikas auf einer Fläche von 25 Quadratkilometern durchschnittlich 300.000 Säugetiere – 220.000 Mäuse und andere kleine Nager, 63.500 Eichhörnchen, gestreifte und ungestreifte, 470 Hirsche und Rehe, 30 Füchse und fünf Schwarzbären.

Die großen Verlierer in dieser Region sind die Singvögel. Der schmerzlichste Verlust war sicher der des Carolina-Sittichs, eines herrlichen, harmlosen Vogels, der als wildlebendes Tier zahlenmäßig ursprünglich nur noch von der in unvorstellbaren Mengen vorhandenen Wandertaube übertroffen wurde. (Als die ersten Siedler nach Amerika kamen, gab es schätzungsweise neun Milliarden Wandertauben – mehr als doppelt so viel wie alle Vögel zusammengenommen, die heute in Amerika zu finden sind.) Beide Arten wurden durch exzessives Jagen ausgerottet – die Wandertaube aus purer Lust der Jäger, gleich Dutzende von Vögeln beim ziellosen Herumballern vom Himmel zu holen.

Außerdem dienten die Tiere als Schweinefutter. Der Carolina-Sittich hatte keine Chance, weil er das Obst der Farmer fraß und auffallende Federn besaß, die als Hutschmuck bei den Damen Gefallen fanden. 1914 verendeten in einem Abstand von nur wenigen Wochen die letzten beiden Vertreter dieser Gattung in Gefangenschaft.

Ein ähnliches Schicksal ereilte die entzückende Bachman-Grasmücke. Der ohnehin seltene Vogel soll einen der lieblichsten Gesänge gehabt haben. Jahrelang war das Tier nicht aufzuspüren, dann entdeckten 1914 zufällig zwei Vogelfänger unabhängig voneinander innerhalb von zwei Tagen je ein Exemplar. Beide erschossen ihre Beute – saubere Arbeit, Jungs! –, und damit war es um die Bachman-Grasmücke geschehen. Es ist anzunehmen, daß noch andere Vögel von der Bildfläche verschwanden, ohne daß es überhaupt jemand bemerkt hat. John James Audubon hat zum Beispiel drei Vogelarten gemalt – den kleinköpfigen Fliegenschnäpper, die Mönchsgrasmücke und die Blue-Mountain-Grasmücke –, die seitdem nicht wieder gesichtet wurden. Das gleiche gilt für die Townsend-Ammer, von der es nur ein ausgestopftes Exemplar im Smithsonian Institute in Washington gibt.

Zwischen 1940 und 1980 ging der Bestand der Zugsingvögel im Osten der Vereinigten Staaten um 50 Prozent zurück (was größtenteils auf den Verlust von Brutplätzen und anderen lebenswichtigen Winterquartieren in Lateinamerika zurückzuführen ist); er sinkt manchen Schätzungen zufolge pro Jahr um weitere drei Prozent. 70 Prozent aller Vogelarten haben seit den 60er Jahren Bestandsverluste erlitten.

Heutzutage herrscht ziemliches Schweigen im Wald.

 

Am späten Nachmittag trat ich aus dem dichten Wald auf eine Forststraße, die offenbar nicht mehr in Benutzung war. Mitten auf der Straße stand ein alter Mann mit Rucksack und einem merkwürdigen, verwirrten Ausdruck im Gesicht, als wäre er soeben aus einer Trance erwacht und wüßte nicht, wie er hierher geraten wäre. Ein ganzer Schwärm Mücken umkreiste ihn.

»Können Sie mir sagen, wo der Trail weitergeht?« fragte er mich. Eine seltsame Frage, denn es war klar und deutlich zu erkennen, daß er einfach auf der anderen Seite weiterging. Direkt vor uns tat sich ein etwa ein Meter breiter Durchgang zwischen den Bäumen auf, und sollten noch Zweifel bestehen, leuchtete auf einer kräftigen Eiche die weiße Markierung des AT.

Ich wedelte zum tausendsten Mal an diesem Tag mit der Hand vor meinem Gesicht herum, um die Mücken zu verscheuchen, und deutete mit einem Kopfnicken auf den Durchgang. »Ich würde sagen, da.«

»Ach so, ja«, erwiderte er. »Natürlich.«

Wir traten gemeinsam den Weg durch den Wald an und unterhielten uns darüber, wo wir heute morgen aufgebrochen waren, was unser Ziel war und so weiter. Er war ein Weitwanderer, der erste, den ich so weit im Norden traf, und wollte, wie ich, heute noch bis nach Dalton. Er trug die ganze Zeit über eine unschlüssige, erstaunte Miene zur Schau und musterte die Bäume auf eigentümliche Weise, betrachtete sie immer wieder von oben bis unten, als hätte er so etwas noch nie in seinem Leben gesehen.

»Wie heißen Sie?« fragte ich ihn.

»Die Leute sagen Chicken John zu mir.«

»Chicken John!« Chicken John war eine Berühmtheit. Ich war ziemlich aufgeregt. Manche Leute auf dem Trail erlangen wegen irgendeiner besonderen Eigenart einen geradezu mythischen Status. Am Anfang unserer Wanderung hörten Katz und ich zum Beispiel dauernd von einem jungen Mann, der eine absolute Hightech-Ausrüstung besaß, wie man sie bislang noch nie gesehen hatte, unter anderem ein Zelt, das sich von allein aufstellte. Offenbar brauchte man nur einen Beutel zu öffnen, und es flog heraus, wie ein Schachtelteufelchen aus seinem Karton. Außerdem hatte er noch ein Satellitennavigationsgerät und verschiedenen anderen Hokuspokus. Das einzige Problem war, daß sein Kucksack am Ende über 40 Kilo wog. Er mußte aufgeben, bevor er Virginia erreicht hatte, deswegen haben wir ihn nie gesehen. Im Jahr zuvor hatte sich Woodrow Murphy, der dicke Wanderer, ähnlichen Ruhm erworben. Mary Ellen wäre diese Ehre sicher auch zuteil geworden, wenn sie nicht schon längst aufgegeben hätte. Dieses Jahr war also Chicken John dran – aber ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr an den Grund dafür erinnern. Es war Monate her, daß ich in Georgia das erste Mal von ihm gehört hatte.

»Woher kommt der Name Chicken John?« fragte ich ihn.

»Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht«, sagte er, als hätte er sich die Frage auch schon oft gestellt.

»Wann sind Sie losgegangen?«

»Am 27 Januar.«

»Am 27 Januar?« sagte ich leise erstaunt und rechnete rasch im Kopf nach. »Das sind ja fast fünf Monate.«

»Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen«, sagte er mit gespieltem Gram.

Er war seit fast einem halben Jahr unterwegs und hatte gerade erst Dreiviertel der Strecke nach Katahdin zurückgelegt.

»Wieviel -«, ich wußte nicht recht, wie ich mich ausdrücken sollte – »wie viele Kilometer laufen Sie am Tag, John?«

»Ach, 22 bis 23, wenn alles klappt. Allerdings« – er sah mich scheel an – »verlaufe ich mich oft.«

Genau. Das war’s. Chicken John verlief sich andauernd und kam an den unmöglichsten Stellen heraus. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man sich auf dem Appalachian Trau verirren kann. Er ist der am deutlichsten und besten markierte Wanderpfad, den man sich vorstellen kann. Gewöhnlich ist es der Teil des Waldes, wo keine Bäume stehen. Wer zwischen Bäumen und einer langen, offenen Schneise unterscheiden kann, der dürfte keine Schwierigkeiten haben, sich auf dem AT zurechtzufinden. Wo auch nur die geringsten Unsicherheiten auftreten könnten, wenn der AT etwa auf einen Nebenwanderweg stößt oder eine Straße kreuzt, finden sich immer gut sichtbare Markierungen. Trotzdem verirren sich manche Leute: die berühmte Grandma Gatewood zum Beispiel, die unterwegs dauernd irgendwo anklopfte und sich erkundigte, wo sie sich denn gerade befände.

Ich fragte Chicken John, wie weit der längste Umweg war, den er mal gelaufen ist.

»60 Kilometer«, sagte er geradezu stolz. »Ich bin auf dem Blood Mountain in Georgia vom Trail abgekommen – ich weiß bis heute nicht, wie ich das geschafft habe – und bin drei Tage lang im Wald herumgeirrt, bis ich an einen Highway kam. Ich dachte schon, jetzt hätte ich mich endgültig ausgetrickst. Ich landete schließlich in Tallulah Falls, mein Foto kam sogar in die Zeitung. Die Polizei hat mich am nächsten Tag zurück an den Trail gebracht und mir die richtige Richtung gezeigt. Die waren wirklich nett.«

»Stimmt es, daß Sie einmal drei Tage hintereinander in die falsche Richtung gelaufen sind?«

Er nickte zufrieden lächelnd. »Zweieinhalb Tage, um genau zu sein. Zum Glück kam ich am dritten Tag in eine Stadt, und ich fragte jemanden: Entschuldigen Sie, junger Mann. Wo bin ich hier?< und er antwortete: >Na, wo schon? In Damascus, Virginia, Sir.< Ich dachte, hm, komisch, ich war doch gerade vor drei Tagen in einem Ort mit genau demselben Namen. Und dann habe ich die Feuerwache wiedererkannt.«

»Wie kann man sich bloß -« Ich beschloß, die Frage anders zu formulieren. »Warum passiert Ihnen das so oft, John?«

»Tja, wenn ich das wüßte, würde ich mich wohl nicht mehr verlaufen«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Ich weiß nur, daß ich ab und zu weit vom Weg abkomme und irgendwo lande, wo ich gar nicht hinwollte. Andererseits macht es das Leben auch interessant. So habe ich viele nette Leute kennengelernt, und ich bin oft zum Essen eingeladen worden. Entschuldigen Sie«, unterbrach er abrupt, »gehen wir auch bestimmt in die richtige Richtung.«

»Ganz bestimmt.«

Er nickte. »Heute würde ich mich nämlich höchst ungern verlaufen, denn in Dalton gibt es ein Restaurant.« Das konnte ich gut verstehen. Wenn man sich schon verirren mußte, dann wenigstens nicht an einem Tag, an dem ein Restaurantbesuch auf dem Programm stand.

Wir gingen die letzten zehn Kilometer gemeinsam, aber wir redeten nicht mehr viel miteinander. Ich wollte heute meine 30 Kilometer schaffen, die längste Etappe, die ich je auf meiner Wanderung laufen sollte, und obwohl die Strecke keine besonderen Schwierigkeiten aufwies und mein Rucksack recht leicht war, war ich am späten Nachmittag rechtschaffen müde. John schien ganz zufrieden zu sein, jemanden zu haben, dem er nachlaufen konnte, und außerdem hatte er ja genug damit zu tun, die Bäume zu betrachten.

Es war bereits nach sechs Uhr, als wir in Dalton ankamen. John hatte die Adresse eines Mannes in der Depot Street, der Wanderer in seinem Garten kampieren ließ, die Dusche sollte man auch benutzen dürfen, und so trabte ich mit John zur nächsten Tankstelle, um nach dem Weg zu fragen. Als wir aus dem Verkaufsraum traten, ging John genau in die entgegengesetzte Richtung los.

»Hier geht’s lang, John«, sagte ich.

»Natürlich«, stimmte er mir zu. »Übrigens heiße ich Bernard. Ich weiß auch nicht, wo die Leute den Namen Chicken John herhaben.«

Ich nickte und versprach ihm, am nächsten Tag auf ihn aufzupassen, aber ich habe ihn nie wieder gesehen.

 

Ich verbrachte die Nacht in einem Motel und wanderte am nächsten Tag weiter nach Cheshire. Es waren nur 14 Kilometer über leichtes Gelände, aber die Kriebelmücke machte den Weg zu einer einzigen Strapaze. Ich habe noch nirgendwo eine wissenschaftliche Bezeichnung für diese winzigen, bösartigen geflügelten Wesen gefunden, ich weiß daher nur, daß sie massenhaft in der Luft schweben, daß sie einen auf Schritt und Tritt begleiten, in die Ohren eindringen, in den Mund und selbst in die Nasenlöcher. Menschlicher Schweiß versetzt sie in orgiastische Ekstase, und Insektenspray scheint ihre Erregung nur noch zu steigern. Sie sind besonders unbarmherzig, wenn man zwischendurch mal stehenbleibt, um etwas zu trinken – so unbarmherzig, daß man schließlich gar nicht mehr anhält und gleich im Gehen trinkt und danach einen ganzen Mundvoll von diesen Viechern ausspuckt. Es ist die Hölle auf Erden. Mit einiger Erleichterung verließ ich daher am frühen Nachmittag ihre waldreichen Jagdgründe und trottete in das sonnige, träge Örtchen Cheshire.

In Cheshire gab es freie Unterkunft für Wanderer in der Kirche auf der Main Street. Massachusetts tut überhaupt viel für seine Wanderer, jedenfalls bin ich häufig an Häusern vorbeigekommen, an denen draußen ein Schild mit der Aufforderung hing, sich doch bitte bei den Apfelbäumen im Garten zu bedienen, Wasser dürfe man sich auch holen. Ich hatte jedoch keine Lust auf eine Nacht in einem Etagenbett, noch weniger auf endlose Nachmittagsstunden ohne eine Beschäftigung, deswegen ging ich weiter bis nach Adams, 6,5 Kilometer über einen knallheißen Highway, aber wenigstens mit der Aussicht auf ein Bett in einem Motel und eine Auswahl an Restaurants.

In Adams gab es nur ein Motel, eine Absteige am Stadtrand. Ich nahm mir ein Zimmer und verbrachte den restlichen“ Nachmittag damit, in der Stadt herumzustreunen, guckte gelangweilt in die Schaufenster und stöberte in den Bücherkisten eines Trödelladens. Es gab natürlich nichts Interessantes außer den üblichen Readers-Digest-Heften und dann ganz obskure Titel, wie man sie nur in solchen Läden findet: Das große Buch der häuslichen Kanalisation, oder Nick mit dem Kopf, wenn du mich verstehst – Das Leben mit einem Debilen. Danach ging ich ein Stück spazieren, aus der Stadt heraus, um einen Blick auf Mount Greylock zu werfen, mein Ziel für den nächsten Tag. Greylock ist die höchste Erhebung in Massachusetts und für Wanderer, die in Richtung Norden gehen, der erste Berg nach Virginia, der über 900 Meter hoch ist. Es sind nur l .064 Meter bis zum Gipfel, aber da er von vielen niedrigeren Bergen umgeben ist, sieht er sehr viel gewaltiger aus, jedenfalls besitzt er etwas Majestätisches, das einen anzieht. Ich freute mich auf ihn.

Ich brach am nächsten Morgen früh auf, bevor die Mittagshitze Gelegenheit hatte, sich richtig auszubreiten – ein glühendheißer Tag war vorhergesagt worden –, machte noch kurz Station in der Stadt, um mir mein Mittagessen zu kaufen, etwas zu trinken und ein Sandwich, und begab mich dann auf einen Schotterweg zum Gould Trail, einem Nebenwanderweg, der steil bergauf zum AT und weiter zum Greylock führte.

Mount Greylock ist mit Sicherheit der literarischste Berg der Appalachen. Herman Melville, der auf der Farm Arrowhead an seiner Westseite lebte, hatte ihn vom Fenster seines Arbeitszimmers aus im Blick, während er an seinem Roman Moby Dick schrieb, und seine Umrisse erinnerten ihn an einen Wal, jedenfalls behaupten das Maggie Stier und Ron McAdow in ihrem ausgezeichneten Buch Into the Mountains, einer Geschichte der Berggipfel New Englands. Als Melville mit seinem Roman fertig war, stieg er zusammen mit Freunden auf den Gipfel und feierte bis in die Morgenstunden. Nathaniel Hawthorne und Edith Wharton lebten und arbeiteten ebenfalls in der Nähe. Eigentlich gibt es zwischen 1850 und 1920 keine in irgendeiner Art und Weise mit New England verbundene literarische Gestalt, die den Berg nicht wenigstens einmal bestiegen hat oder hinaufgeritten ist, um die Aussicht zu genießen.

Ironischerweise erfreute sich Greylock auf dem Höhepunkt seines Ruhms keineswegs der grünen Erhabenheit von heute. Seine Hänge waren krätzig von den Narben der Abholzung, und die Ausläufer entstellt von Schiefer- und Marmorhalden. Überall stachen windschiefe Schuppen und Sägewerke ins Auge. Das alles ist heute verheilt und überwachsen, doch dann wurden in den 60er Jahren mit Unterstützung bundesstaatlicher Behörden in Boston Pläne für die Erschließung des Greylock als Skigebiet erstellt, mit einer Seilbahn, einem Netz von Sesselliften und einem Gebäudekomplex auf dem Gipfel, zu dem ein Hotel, Läden und Restaurants gehören sollten – allesamt in dem schnittigen Jetson-Stil der Zeit. Zum Glück wurde aus diesen Plänen nichts. Heute erhebt sich der Greylock aus einem 4.700 Hektar großen Naturschutzgebiet. Er ist ein wirkliches Prachtstück.

Der steile Aufstieg zum Gipfel war schweißtreibend und zog sich endlos lange hin, aber die Mühe lohnte sich. Das offene, sonnige Gipfelareal, auf dem ständig ein frischer Wind weht, krönt ein großes, hübsches Steinhaus, Bascom Lodge, das in den 30er Jahren von den unermüdlichen Kadern des Civilian Conservation Corps errichtet wurde. Heute beherbergt es ein Restaurant und Übernachtungsmöglichkeiten für Wanderer. Auf dem Gipfel befindet sich außerdem ein Leuchtturm, der dort liebenswert anachronistisch wirkt (Greylock ist 225 Kilometer von der Küste entfernt) und als Mahnmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten aus Massachusetts dient. Ursprünglich war der Turm für den Hafen von Boston gedacht, aber aus irgendeinem Grund steht er jetzt hier.

Ich verzehrte mein mitgebrachtes Mittagessen, ging aufs Klo, wusch mich in der Lodge und eilte dann weiter, denn ich hatte noch 13 Kilometer zu laufen und war mit meiner Frau um vier Uhr in Williamstown verabredet. Auf den nächsten fünf Kilometern führte der Weg weitgehend über einen luftigen Grat, der den Greylock mit dem Mount Williams verbindet. Der Ausblick war spektakulär, über sanfte, grüne Hügel und hinauf bis zu den Adirondacks, zehn Kilometer weiter westlich, aber es war unglaublich heiß und selbst hier oben schwül und stickig. Hinzu kam der steile Abstieg, 914 Meter auf fünf Kilometern, zum Glück durch dichten, kühlen, grünen Wald bis zu einer Nebenstraße, die weiter durch die offene schöne Landschaft führte.

Außerhalb des Waldes war die Luft drückend. Es ging drei Kilometer über eine Straße ohne ein Fleckchen Schatten, und der Asphalt war so heiß, daß ich die Hitze durch meine Schuhsohlen hindurch spürte. Als ich schließlich in Williamstown ankam, zeigte das Thermometer an einer Bank 36 Grad Celsius an. Kein Wunder, daß ich so schwitzte. Ich überquerte die Straße und ging zu Burger King, wo wir uns verabredet hatten. Welch ein Genuß, aus der Affenhitze eines Sommertages in die kühle, keimfreie Frische eines klimatisierten Restaurants zu treten. Wenn es einen besseren Grund gibt, dankbar dafür zu sein, daß man im 20. Jahrhundert lebt, dann kenne ich ihn nicht.

Ich holte mir ein großes Glas Cola, ließ mich an einem Tisch am Fenster nieder und fühlte mich durch und durch wohl. Ich hatte 27 Kilometer zurückgelegt, war bei sehr warmem Wetter über einen einigermaßen schwierigen Berg gestiegen. Ich war schmutzig, verschwitzt, verständlicherweise erledigt und stank so, daß sich die Leute nach mir umdrehten. Ich war wieder ein richtiger Wanderer.

 

1850 bestand New England zu 70 Prozent aus Ackerland und zu 30 Prozent aus Wald. Heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Wahrscheinlich gibt es in der entwickelten Welt keine Region, die in gerade mal einem Jahrhundert so dramatische Veränderungen erlebt hat, oder jedenfalls keine, die dem normalen Verlauf des Fortschritts zuwiderlaufen.

Wenn man sich für den Beruf des Farmers entschieden hat, gibt es eigentlich kein ungeeigneteres Land als New England. Der Boden ist steinig, das Gelände steil und das Wetter so schlecht, daß die Leute regelrecht stolz darauf sind. Ein Jahr in Vermont besteht, einem alten Sprichwort zufolge, aus »neun Monaten Winter, gefolgt von drei Monaten mit schlechten Rodelbedingungen«.

Bis Mitte des letzten Jahrhunderts überlebten die Farmer in New England nur wegen der Nähe zu den Küstenstädten Boston und Portland, und, so meine Vermutung, weil sie nichts anderes kannten. Dann geschahen zwei Dinge: erstens die Erfindung der McCormick-Mähmaschine, die sich ideal für die Bewirtschaftung der großen, kaum hügeligen Felder im Mittleren Westen eignete, aber auf den steinigen, schmalen Feldern New Englands völlig nutzlos war, und zweitens das Aufkommen der Eisenbahn, die den Farmern des Mittleren Westens die Möglichkeit gab, ihre Produkte praktisch ohne Zeitverlust in den Osten des Landes zu transportieren. Da konnten die New-England-Farmer nicht mithalten und wanderten vielfach in den Mittleren Westen ab. 1860 lebte fast die Hälfte aller in Vermont Gebürtigen woanders -200.000 von 450.000 Menschen.

1840, während des Präsidentschaftswahlkampfs, hielt Daniel Webster auf dem Stratton Mountain in Vermont eine Rede vor 20.000 Menschen. 20 Jahre später hätte er von Glück sagen können, wenn 50 Zuhörer gekommen wären. Stratton Mountain ist heute weitgehend von Wald bedeckt, nur wenn man genauer hinschaut, kann man hier und da noch Kellereingänge und die überwucherten Reste von Obstgärten erkennen, die sich in den schattigen »Untergeschossen« zwischen jüngeren, widerstandsfähigeren Birken, Ahorn- und Walnußbäumen behaupten. Überall in New England finden sich ehemalige, eingestürzte Einfriedungsmauern, häufig mitten im dichtesten Wald, der aussieht, als stünde er schon seit Jahrhunderten da – ein Zeichen dafür, wie geschwind sich die Natur das Terrain zurückerobert.

Ich erklomm Stratton Mountain an einem wolkenverhangenen, gnädigerweise kühlen Junitag. Es waren sechseinhalb Kilometer Fußweg zum Gipfel, der bei etwas über l .200 Meter liegt. In Vermont folgt der AT auf einer Länge von 160 Kilometern den Spuren des Long Trail, der sich über die höchsten und bedeutendsten Gipfel der Green Mountains bis hinauf nach Kanada zieht. Eigentlich ist der Long Trail sogar älter als der AT. Er wurde 1921 eröffnet, in dem Jahr, als man den AT konzipierte, und einige Long-Trail-Anhänger sollen noch heute auf den AT als einen ordinären und überehrgeizigen Parvenü herabschauen. Der Stratton Mountain wird jedenfalls stets als der geistige Geburtsort beider Pfade bezeichnet, denn hier hatten angeblich sowohl James E Taylor als auch Benton MacKaye ihre jeweiligen Eingebungen, die später zu dem Bau der beiden Fernwanderwege durch die Wildnis führten – Taylor 1909, MacKaye einige Zeit später.

Nichts gegen Stratton Mountain, er ist ein herrlicher Berg mit prima Aussicht auf mehrere andere berühmte Gipfel – Equinox, Ascutney, Snow und Monadnock –, aber ich kann nicht behaupten, daß er mich dazu inspiriert hätte, mir eine Machete zu schnappen und einen Weg nach Georgia oder Quebec freizuschlagen. Vielleicht lag es an dem tristen, bedeckten Himmel und dem fahlen Licht, das allem einen öden, verwaschenen Anstrich gab. Acht, neun Leute standen verloren auf dem Gipfel herum, unter anderem ein etwas untersetzter junger Mann, der allein unterwegs war und eine Windjacke trug, die ziemlich teuer aussah. Er hielt ein kleines elektronisches Gerät in der Hand, mit dem er geheimnisvolle Messungen vornahm.

Er sah, daß ich ihm zuschaute, und sagte in einem Ton, aus dem der dringliche Wunsch herauszuhören war, es möge endlich jemand sein Interesse bekunden: »Das ist ein Enviro Monitor.«

»Ach ja?« erwiderte ich höflich.

»Mit dem kann man acht Werte messen. Temperatur, UV-Index, Taupunkt, alles mögliche.« Er hielt die Anzeige etwas schräger, so daß ich sie auch ablesen konnte. »Das ist der Wert der Hitzebelastung.« Man sah irgendeine nichtssagende Zahl mit zwei Stellen hinterm Komma. »Sonneneinstrahlung kann es auch messen«, fuhr er fort, »Luftdruck, Windkälte, Regenmenge, Feuchtigkeit – Umgebungsfeuchtigkeit und aktive Feuchtigkeit –, sogar die Verbrennungszeit für den jeweiligen Hauttyp.«

»Kann man damit auch Plätzchen backen?« fragte ich.

Er war beleidigt. »Es gibt Situationen, da kann einem so ein Ding das Leben retten, glauben Sie mir«, sagte er tapfer. Ich versuchte mir eine Situation vorzustellen, in der ich durch einen steigenden Taupunkt in Lebensgefahr geraten könnte – es gelang mir nicht. Ich wollte den Mann aber auch nicht vor den Kopf stoßen, also sagte ich: »Was ist das?« und zeigte auf eine blinkende Zahl in der linken oberen Ecke der Anzeige.

»Ach das? Das weiß ich auch nicht. Aber das hier« – er hackte auf die Tasten –, »das ist die Sonneneinstrahlung.« Wieder eine nichtssagende Zahl, diesmal mit drei Stellen hinterm Komma. »Ziemlich niedrig heute«, stellte er fest und kippte den Schirm ein wenig, um den Wert noch mal abzulesen. »Ja, stimmt, sehr niedrig heute.« Irgendwie wußte ich das auch so. Ich konnte zwar keinen dieser Werte bis auf drei Stellen hinterm Komma angeben, aber ich hatte ein ganz gutes Gespür für die Wetterbedingungen, einfach, weil ich mich im Freien befand. Interessanterweise hatte der Mann keinen Rucksack dabei, also auch keine Regenhaube, er trug Shorts und Turnschuhe. Sollte das Wetter umschlagen, und in New England konnte das in Sekunden geschehen, würde er wahrscheinlich umkommen, aber wenigstens hatte er dann ein Gerät dabei, das ihm seinen finalen Taupunkt anzeigte.

Ich finde diesen ganzen technischen Krimskrams albern. Manche AT-Wanderer, hatte ich irgendwo gelesen, haben sogar Notebooks und Modems dabei, damit sie jeden Tag Berichte an Familie und Freunde schicken können. Und zunehmend findet man Leute mit solchem elektronischen Schnickschnack wie dem Enviro Monitor oder mit Sensoren am Handgelenk, die den Puls messen. Das sieht aus, als kämen sie direkt von der Schlafklinik hierher auf den Trail.

1996 erschien im Wall Street Journal ein köstlicher Artikel über die Plage der Satellitennavigation, der Handys und ähnlicher Geräte in der Wildnis. Diese Hightech-Ausrüstung, so scheint es, bringt Leute in die Berge, die vielleicht nicht dahingehören. Im Baxter State Park, berichtet das Journal, habe ein Wanderer eine Einheit der Nationalgarde angerufen und darum gebeten, mit einem Hubschrauber zum Mount Katahdin geflogen zu werden, er sei zu müde zum Wandern. Und auf dem Mount Washington hatten nach Angaben eines Mitarbeiters »zwei resolute Frauen« das Hauptquartier der Bergwacht angerufen und gesagt, sie würden die letzten l .500 Meter zum Gipfel nicht mehr schaffen, obwohl es noch vier Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit waren. Sie verlangten, eine Rettungsmannschaft solle sie zurück zu ihrem Wagen bringen. Die Bitte wurde abgewiesen. Ein paar Minuten später riefen sie wieder an und verlangten, daß man ihnen wenigstens Taschenlampen brachte. Auch diese Bitte wurde abgelehnt. Ein paar Tage später meldete sich ein anderer Hiker und verlangte einen Hubschrauber, er hinke schon einen Tag hinter seinem Zeitplan her und befürchte, einen wichtigen geschäftlichen Termin zu verpassen. In dem Artikel war auch von Leuten die Rede, die sich trotz Satellitennavigation verirrt hatten. Sie konnten haargenau ihre Position angeben, 36,2 Grad Nord, 17,48 Grad West oder so, hatten aber nicht den geringsten Schimmer, was das bedeutete, da sie weder Kompaß noch Karten dabei hatten und offenbar auch ihren Verstand zu Hause gelassen hatten. Meine Bekanntschaft auf dem Stratton hätte ganz gut in diesen Verein gepaßt. Ich fragte ihn, ob ein Abstieg bei einer Sonnenstrahlung von 18,574 ratsam sei.

»Ja, ja«, antwortete er ganz ernsthaft. »Sonneneinstrahlungsmäßig besteht heute nur geringes Risiko.«

»Da bin ich aber froh«, sagte ich, ebenfalls ganz ernsthaft und verabschiedete mich von ihm und dem Berg. Ich eroberte mir Vermont in mehreren aufeinanderfolgenden, angenehmen Tagestouren, nicht mit irgendeinem elektronischen Gerät, sondern mit den Füßen und den köstlichen Lunchpaketen, die mir meine Frau jeden Abend vor dem Zubettgehen machte und im obersten Fach des Kühlschranks deponierte. Obwohl ich mir hoch und heilig geschworen hatte, nie wieder mit Hilfe des Autos meine Etappenwanderungen zu absolvieren, stellte sich heraus, daß das hier ganz angebracht war, ja, daß es mir sogar sehr entgegenkam. Ich konnte den ganzen Tag wandern und zum Abendessen wieder zu Hause sein. Ich konnte in meinem eigenen Bett schlafen und mich jeden Tag mit sauberer, trockener Kleidung und mit einem üppigen Lunchpaket auf den Weg machen. Es war eigentlich ideal.

So kam es, daß ich drei -wunderbare Wochen lang zwischen den Bergen und meinem Haus hin und her pendelte. Ich stand jeden Morgen bei Sonnenaufgang auf, steckte mein Lunchpaket ein und fuhr über den Connecticut River nach Vermont. Ich stellte den Wagen ab und stieg einen hohen Berg hinauf oder stapfte über sanfte, grüne Hügel. Irgendwann, wenn mir danach war, meist gegen elf Uhr, setzte ich mich auf einen Stein oder Baumstumpf, holte mein Lunchpaket heraus und untersuchte erstmal den Inhalt. Und dann folgte je nachdem: »Hmm, Erdnußbutter! Meine Lieblingsplätzchen!« oder »Oh, lecker, heute wieder kalter Braten!« Ich biß gierig hinein, mummelte still vor mich hm und dachte an die vielen Berggipfel, die ich mit Katz erklommen hatte. Was hätten wir da nicht für so eine herzhafte Mahlzeit gegeben! Anschließend packte ich alles wieder ordentlich zusammen, verstaute es in meinem Rucksack und wanderte weiter, bis es Zeit wurde, Feierabend zu machen und nach Hause zu gehen. So vergingen die letzte Juni- und die ersten beiden Juliwochen.

Ich erwanderte mir Stratton Mountain und Bromley Mountain, Prospect Rock und Spruce Peak, Baker Peak und Griffith Lake, White Rocks Mountain, Button Hill, Killington Peak, Gifford Woods State Park, Quimby Mountain, Thistle Hill und schlenderte zum Schluß gemütliche 17 Kilometer von West Hartford nach Norwich. Diese Wanderung führte vorbei an der Happy Hill Cabin, der ältesten und wahrscheinlich malerischsten Schutzhütte des AT – die kurz darauf von einigen Angestellten der Trail Conference, die für solche Sentimentalitäten nicht das geringste Verständnis haben, plattgemacht wurde. Norwich ist hauptsächlich deswegen erwähnenswert, weil die Stadt als Vorlage für die Bob Newhart Show diente (Bob Newhart betreibt in der Fernsehserie eine Kneipe, und die einheimischen Gäste sind alle auf liebenswerte Weise ein bißchen schlicht im Gemüt). Außerdem ist es die Heimatstadt von Alden Partridge, von dem nie ein Mensch gehört hat.

Partridge wurde 1755 in Norwich geboren und war ein leidenschaftlicher Wanderer, vermutlich der erste Mensch auf der ganzen Welt, der aus purer Freude auch weite Entfernungen zu Fuß zurücklegte. 1785 wurde er in dem für damalige Verhältnisse unerhört jugendlichen Alter von 30 Jahren Leiter von West Point. Dort wurde er allerdings in irgendeine Auseinandersetzung verwickelt und zog sich anschließend nach Norwich zurück, wo er ein Konkurrenzunternehmen gründete, die American Literary, Scientific and Military Academy Er prägte den Begriff physical education – Leibeserziehung, und er unternahm mit seinen entsetzten jungen Schülern Gewaltmärsche von 50, 60 Kilometern in den benachbarten Bergen. Zwischendurch begab er sich allein auf noch viel gewagtere Unternehmungen. Einmal ging er, was keine Ausnahme war, 180 Kilometer weit, von Norwich nach Williamstown, Massachusetts (ungefähr die Route, die ich gerade in gemütlichen Etappen absolviert hatte), stapfte den Mount Greylock hoch und spazierte den gleichen Weg wieder zurück nach Hause. Für die Wanderung hin und zurück brauchte er lediglich vier Tage – und das zu einer Zeit, das dürfen wir nicht vergessen, als es noch keine angelegten Wege und hilfreichen Markierungen gab. Auf diese Weise erklomm er praktisch jeden Gipfel in New England. Eigentlich hat er eine Gedenktafel in Norwich verdient, um die wenigen Wanderer, die noch Richtung Norden -weitergehen, moralisch aufzubauen, aber leider gibt es keine solche Tafel.

Von Norwich sind es ungefähr anderthalb Kilometer zum Connecticut River. Eine angenehme, unauffällige Brücke aus den 30er Jahren führt zum Bundesstaat New Hampshire und der Stadt Hanover am gegenüberliegenden Ufer. Die Straße von Norwich nach Hanover war früher mal eine gewundene, zweispurige Allee – eine der typischen, verlockenden Verbindungsstraßen zwischen zwei, nur anderthalb Kilometer auseinanderliegenden alten Städtchen, wie man sie in New England erwartet. Dann kam irgendein Straßenbauer oder sonst jemand auf die grandiose Idee, die alte Landstraße zu einer breiten, mehrspurigen Schnellstraße auszubauen, damit sich die anderthalb Kilometer sagenhafte acht Sekunden schneller zurücklegen ließen und die Autofahrer keine Qualen mehr erlitten, weil sie warten mußten, wenn der Vordermann in eine Nebenstraße abbiegen wollte. Jetzt sollte es überall Ausfahrten geben, so groß, daß auch ein Schwertransporter mit Titanrakete um die Kurve käme, ohne die Bordsteinkante zu rammen oder den lebenswichtigen Verkehrsfluß zu stören.

Die Straße wurde also zu einem breiten, schnurgeraden Highway ausgebaut, teilweise sechsspurig, mit Betonleitplanken in der Mitte und überdimensionalen Natriumdampflampen, die den Nachthimmel kilometerweit erleuchten. Der Bau hatte den Effekt, daß die Brücke zu einer Art Flaschenhals wurde, an der sich die Straße auf zwei Spuren verengte. Manchmal kamen zwei Autos gleichzeitig an der Brücke an, und einer mußte dem anderen die Vorfahrt lassen – man stelle sich das mal vor! Deshalb geht man jetzt, während ich dies niederschreibe, gerade daran, diese überflüssig reizvolle, alte Brücke gegen eine andere, größere auszutauschen, die dem Betonzeitalter eher entspricht. Noch dazu wird die Straße verbreitert, die einen kleinen Hügel hinauf ins Stadtzentrum und zu dem hübschen, historischen Stadtpark von Hanover führt. Das bedeutet natürlich, daß die Bäume rechts und links der Straße gefällt und die meisten Vorgärten für den Bau von Stützmauern aus Beton drastisch verkürzt werden müssen. Selbst ein Angestellter des Straßenbauamtes müßte zugeben, daß das Ergebnis keineswegs vorzeigbar ist, nichts, was man gern vorn auf einen Fotokalender »Malerisches New England« drucken würde, aber es verkürzt eben die gefährliche Reise von Norwich nach Hanover noch mal um vier Sekunden, und nur darauf kommt es ja an.

Das alles ist für mich nicht ohne Bedeutung, zum einen, weil ich in Hanover wohne, zum anderen, weil ich im 20. Jahrhundert lebe. Zum Glück verfüge ich über eine lebhafte Phantasie, so daß ich mir bei meinem Gang von Norwich nach Hanover keine mehrspurige, befahrene Schnellstraße vorstellte, sondern eine mit Bäumen, Hecken und Wildpflanzen bestandene, schattige Landstraße, geschmückt mit einer stattlichen Reihe wohlproportionierter Straßenlaternen, von denen jeweils kopfüber ein Angestellter des Straßenbauamtes baumelt. – Und sogleich fühlte ich mich viel besser.