17. Kapitel
Von allen Gefahren, die einem draußen in der freien Natur zum Verhängnis werden können, ist keine so unheimlich und unvorhersehbar wie die Hypothermie. Es gibt fast keinen Fall von Kältetod, dem nicht in irgendeiner Hinsicht etwas Mysteriöses und Unwahrscheinliches anhaftet. David Quammen berichtet davon in seinem Buch Natural Acts.
Im Spätsommer 1982 verbrachten vier Jugendliche und zwei Erwachsene ihren Urlaub im Banff National Park mit Kanufahren. Eines Abends kehrten sie nicht in ihr Zeltlager zurück. Am nächsten Morgen machte sich ein Suchtrupp auf den Weg und fand die Vermißten in ihren Schwimmwesten tot auf einem See treibend, mit dem Gesicht nach oben und unversehrt. Nichts an ihren Körpern deutete auf eine Notlage oder auf eine Panik hin. Einer der Männer trug sogar noch seine Mütze und seine Brille. Die Kanus, die unweit der Fundstelle auf dem Wasser schaukelten, waren unbeschädigt, und in der Nacht hatte ruhiges, mildes Wetter geherrscht. Aus einem unerklärlichen Grund hatten die sechs ihre Kanus verlassen und sich in voller Montur in das kalte Wasser des Sees gestürzt, wo sie umgekommen waren. »Als hätten sie sich friedlich schlafen gelegt«, wie sich ein Mitglied des Suchtrupps ausdrückte. In gewisser Weise traf das zu.
Entgegen landläufiger Meinung sterben nur relativ wenige Hypothermieopfer in Extremsituationen, etwa, wenn sie sich in einem Schneesturm verirrt haben oder sich gegen beißende arktische Kälte wehren mußten. Zunächst einmal gehen nur relativ wenige Menschen bei so einem Wetter überhaupt vor die Tür, und wenn, dann sind sie im allgemeinen gut ausgerüstet. Die meisten Hypothermieopfer sterben auf viel banalere Weise, in gemäßigten Jahreszeiten und bei Temperaturen, die keineswegs nahe dem Nullpunkt liegen. In der Regel werden sie von einem unvorhergesehenen Ereignis oder gleich von mehreren, gleichzeitig eintretenden Veränderungen überrascht – plötzlicher Temperaturabfall, ein kalter Platzregen, die Erkenntnis, daß sie sich verirrt haben – für die sie psychisch und physisch mangelhaft ausgestattet sind. Fast immer komplizieren sie das Problem, indem sie eine Dummheit begehen – sie verlassen einen gut markierten Weg, um eine Abkürzung zu suchen, und geraten dabei nur noch tiefer in den Wald, wenn es angebrachter gewesen wäre, an einer Stelle zu bleiben; sie waten durch Flüsse, wodurch sie nur naß werden und ihr Körper noch stärker unterkühlt wird.
Dieses traurige Schicksal ereilte auch Richard Salinas, der 1990 zusammen mit einem Freund im Pisgah National Forest in North Carolina wanderte. Von der plötzlich einsetzenden Dämmerung überrascht, machten sie sich auf den Rückweg zu ihrem Wagen, wurden unterwegs aber aus irgendeinem Grund getrennt. Salinas war ein erfahrener Hiker, er brauchte nur den gut gekennzeichneten Wanderweg entlang zurück zum Parkplatz zu gehen. Er ist nie dort angekommen. Drei Tage später fand man zuerst seine Jacke und seinen Rucksack, kilometerweit vom Weg entfernt, tief im Wald. Seine Leiche wurde zwei Monate später entdeckt, aufgespießt von Ästen in dem kleinen Linville River. Vermutlich hatte er den Pfad auf der Suche nach einer Abkürzung verlassen, sich verirrt, war immer tiefer in den Wald hineingestürmt, in Panik geraten, weitergelaufen, bis schließlich die Hypothermie ihn seiner Sinne beraubte.
Hypothermie ist eine Art schleichendes, heimtückisches Trauma. Es überkommt einen buchstäblich schrittweise: Die Körpertemperatur sinkt, und die natürlichen Reaktionen werden schwerfällig und unkoordiniert. In diesem Zustand hat Salinas seine Ausrüstung abgelegt und wenig später aus lauter Verzweiflung die unvernünftige Entscheidung getroffen, den durch Regenwasser angeschwollenen Fluß zu durchqueren. Unter normalen Umständen hätte er erkannt, daß ihn das nur noch weiter vom Ziel entfernte. In der Nacht, als er sich verirrte, war es trocken bei etwa fünf Grad Celsius. Wenn er seine Jacke anbehalten hätte und nicht ins Wasser gestiegen wäre, hätte er eine kalte, ungemütliche Nacht verbracht und später etwas zu erzählen gehabt. Statt dessen verlor er sein Leben.
Ein Mensch, der unter Hypothermie leidet, durchläuft mehrere aufeinanderfolgende Phasen, beginnend – wie unschwer zu erraten ist – mit einem leichten und zunehmend heftiger werdenden Zittern des Körpers, der versucht, durch Muskelkontraktionen Wärme zu erzeugen; danach folgt äußerste Erschöpfung, Trägheit in den Bewegungen, ein gestörtes Gefühl für Zeit und Entfernungen und eine zunehmend hoffnungslose Verwirrtheit, die aus dem Unvermögen heraus, das Naheliegende zu erkennen, zu unüberlegten und unlogischen Entscheidungen führt. Das Opfer verliert allmählich immer mehr die Orientierung und erliegt gefährlichen Halluzinationen – einschließlich der grausamen Fehleinschätzung, daß es nicht friert, sondern geradezu verbrennt. Viele Opfer reißen sich deshalb die Kleider vom Leib, werfen die Handschuhe fort oder kriechen aus ihren Schlafsäcken. Die Annalen der Todesfälle bei Wanderungen sind voller Geschichten von halbnackten, in Schneeverwehungen direkt vor ihrem Zelt aufgefundenen Hikern. In dieser Phase hört der Schüttelfrost auf, denn der Körper hat längst aufgegeben, und Apathie setzt ein. Der Herzschlag verlangsamt sich, und die Gehirnwellen sehen aus wie eine Autospur durch die Prärie. Selbst wenn das Opfer in diesem Zustand noch gefunden würde, wäre der Wiederbelebungsschock für den Körper möglicherweise nicht mehr zu verkraften.
Dies wurde in einem Bericht der Zeitschrift Outside im Januar 1997 auf anschauliche Weise verdeutlicht. 1980 sendeten 16 dänische Seeleute einen Funknotruf aus, zogen sich Schwimmwesten über und sprangen in die Nordsee, während ihr Schiff vor ihren Augen im Meer versank. Anderthalb Stunden lang waren sie ein Spiel der Wellen, bevor ein Rettungsschiff endlich in der Lage war, sie aus den Fluten zu ziehen. Selbst im Sommer ist die Nordsee von einer so mörderischen Kälte, daß ein Mensch in ihr innerhalb einer halben Stunde den Tod findet. Daher war das Überleben aller 16 Seeleute wahrlich ein Grund zum Feiern. Die Männer wurden in Decken eingewickelt und in die Messe nach unten gebracht, wo man ihnen ein heißes Getränk verabreichte, woraufhin sie tot umfielen – alle 16.
Genug der fesselnden Anekdoten, setzen wir uns einmal sozusagen persönlich mit dieser faszinierenden Krankheit auseinander.
Ich war jetzt in New Hampshire, was mich sehr freute, da wir erst kürzlich hierhergezogen waren und ich natürlich ein besonderes Interesse daran hatte, Land und Leute kennenzulernen. Vermont und New Hampshire liegen so eng beieinander und sind sich so ähnlich, was Größe, Klima und Dialekt angeht, und darin, womit sich die Bewohner ihren Lebensunterhalt verdienen – hauptsächlich Wintersport und Tourismus –, daß sie häufig als Zwillinge apostrophiert werden. In Wahrheit sind sie grundverschieden. Mit Vermont verbindet man Volvos und Antiquitätenläden und Landgasthäuser mit putzigen Namen, Quail Hollow Lodge und Fiddlehead Farm Inn. Mit New Hampshire dagegen verbindet man Männer mit Jagdmützen und Pick-ups mit Aufklebern und markigen Sprüchen: »Freiheit oder Tod.« Auch die Landschaft unterscheidet sich grundlegend. Die Berge in Vermont gleichen eher sanften, lieblichen Hügelketten, und die Vielzahl der Farmen, die sich auf Milchwirtschaft spezialisiert haben, verleiht dem Bundesstaat etwas insgesamt Menschenfreundlicheres. New Hampshire dagegen ist ein einziger großer Wald. Von den insgesamt 24.097 Quadratkilometern des Staatsgebietes sind knapp 85 Prozent – eine Fläche, die größer ist als Wales – Wald, der Rest besteht entweder aus Seen oder liegt oberhalb der Baumgrenze. Abgesehen von einigen Städten und Wintersportgebieten hier und da ist New Hampshire im großen und ganzen die pure Wildnis – manchmal geradezu beängstigend wild. Die Berge hier sind höher, zerklüfteter, schwieriger zu erklimmen und gefährlicher als die in Vermont.
Im Thru-Hiker’s Handbook, dem einzigen unverzichtbaren Führer für den Appalachian Trail, wie ich an dieser Stelle mal erwähnen sollte, bemerkt der große Dan »Wingfoot« Bruce hierzu, daß der Wanderer, der von Süden nach Norden geht, bei Überschreiten der Staatsgrenze von Vermont nach New Hampshire vier Fünftel der Wegstrecke, aber erst die Hälfte der Mühsal geschafft hat. Allein auf dem Abschnitt in New Hampshire, der 260 Kilometer durch die White Mountains führt, befinden sich 35 Berggipfel, die über 900 Meter aufragen. New Hampshire ist also ein ganz schöner Brocken.
Ich hatte so viel über die ungestümen und gefährlichen White Mountains gelesen, daß mir bei dem Gedanken, mich allein in das Gebiet zu wagen, unwohl war – nicht, daß ich es mit der Angst zu tun bekommen hätte, aber wenn ich noch eine einzige Geschichte über die Flucht vor einem Bären gehört hätte, wäre ich soweit gewesen. Man kann sich daher meine heimliche Freude vorstellen, als mein Freund und Nachbar Bill Abdu mir anbot, mich auf einigen meiner Tagestouren zu begleiten. Bill ist ein sehr netter Zeitgenosse, liebenswert und kenntnisreich, ein erfahrener Wanderer mit dem unschätzbaren Vorzug, obendrein noch ein geschickter orthopädischer Chirurg zu sein – genau das, was man in der gefährlichen Wildnis braucht. Ich rechnete zwar nicht damit, daß seine Chirurgenhände von großem Nutzen sein würden, aber sollte ich stürzen und mir das Rückgrat brechen, dann erführe ich wenigstens noch die lateinische Bezeichnung dafür.
Wir beschlossen, mit dem Mount Lafayette anzufangen, und begaben uns zu diesem Zweck an einem klaren Julimorgen in aller Frühe zu dem zwei Autostunden entfernt gelegenen Franconia Notch Park (»notch« bedeutet im Sprachgebrauch von New Hampshire Bergpaß). Das ist ein berühmtes, wunderschönes Fleckchen Erde zu Füßen imposanter Gipfel, mitten im 283.000 Hektar großen White Mountain National Forest gelegen. Der Mount Lafayette – das sind 1.599 Meter steil aufragender, unbarmherziger Granitfels. In einem Reisebericht von 1870, der in dem Buch Into the Mountains zitiert wird, heißt es: »Mt. Lafayette… ist ein wahrer Alptraum, mit Gipfeln und Spitzen, auf denen Blitz und Donner ihr Spiel treiben. Die Hänge sind braun und weisen Schrammen und tiefe Spalten auf.« Stimmt. Lafayette ist ein Monster. Nur der nahegelegene Mount Washington übertrifft ihn noch an Wuchtigkeit und Beliebtheit als Wanderziel in den White Mountains.
Von der Talsohle gerechnet mußten wir 1.130 Meter erklimmen, 600 Meter auf den ersten drei Kilometern und drei kleinere Gipfel unterwegs – Mount Liberty, Little Haystack und Mount Lincoln –, aber es war ein herrlicher Morgen, die Sonne schien nicht zu heiß, und uns umgab die belebende, pfefferminzklare, saubere Luft, die es nur in den Bergen des Nordens gibt. Kurz: alles, was man für einen makellosen Tag braucht. Wir gingen ungefähr drei Stunden, redeten wegen des steilen Anstiegs nur wenig, freuten uns bloß darüber, draußen im Freien zu sein und gut voranzukommen.
Jeder Wanderführer, jeder erfahrene Hiker, jede Informationstafel neben den Parkplätzen am Ausgangs- oder Zielort einer Wanderstrecke warnt davor, daß das Wetter in den White Mountains innerhalb von Sekunden umschlagen kann. Camper, die in kurzen Hosen und mit Turnschuhen in luftigen Höhen nur einen Spaziergang machen wollten und wenige Stunden später in dichtem, eiskalten Nebel ihrem Tod entgegentaumeln – das sind Geschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählt, aber sie sind leider auch wahr. Wenige hundert Meter unterhalb des Gipfels von Little Haystack Mountain passierte uns das gleiche. Urplötzlich war die Sonne verschwunden, und wie aus dem Nichts rollte eine Dunstwolke zwischen den Bäumen heran. Damit ging ein so rapider Temperatursturz einher, als hätten wir einen Kühlraum betreten. Innerhalb von Minuten war der Wald in Nebel gehüllt, feucht und kühl. Die Baumgrenze in den White Mountains liegt an manchen Stellen bereits bei 1.460 Meter, halb so hoch wie in den meisten anderen Regionen, weil die Witterung sehr viel strenger ist, und jetzt sah ich auch warum. Als wir aus dem Krummholz hervortraten, die Zone aus verkrüppelten Bäumen, die den letzten Ausläufer des Waldes vor der Baumgrenze markiert, und das kahle Dach des Little Haystack betraten, schlug uns mit einem Mal ein heftiger Wind entgegen – die Sorte Wind, die einem die Mütze vom Kopf reißt und sie ein paar hundert Meter weiterweht, bevor man überhaupt dazu kommt, eine Hand zu heben. Vorher war er durch den Berg über uns auf den geschützten Westhang abgelenkt worden, aber jetzt fegte er ungehindert über den bloßliegenden Gipfel. Wir stellten uns in den Windschatten einiger Felsen, um unsere Regencapes überzuziehen. Sie spendeten uns zusätzliche Wärme, denn ich war schon von der schweißtreibenden Anstrengung und der feuchten Luft ganz naß am Körper – ein ziemlich unangenehmer Zustand, wenn die Außentemperaturen sinken und der Wind jede Körperwärme wegbläst. Ich machte meinen Rucksack auf, wühlte in meinen Sachen herum und schaute dann mit jenem Gesichtsausdruck hoch, der mit einer bestürzenden Erkenntnis einhergeht: Ich hatte mein Regencape vergessen. Ich durchwühlte noch einmal meinen Rucksack, aber es war ja kaum etwas drin – eine Karte, ein dünner Pullover, eine Wasserflasche und ein Lunchpaket. Ich überlegte kurz und erinnerte mich mit einem innerlichen Stoßseufzer daran, daß ich das Regencape ein paar Tage vorher ausgepackt, im Keller zum Lüften aufgehängt und dann vergessen hatte, es wieder einzupacken.
Bill, der das Band an der Kapuze seiner Windjacke strammzog, sah zu mir herüber. »Ist irgendwas?«
Ich sagte es ihm. Er machte ein besorgtes Gesicht. »Willst du umkehren?«
»Nein, nein.« Das wollte ich wirklich nicht. Außerdem, so schlimm war es nun auch wieder nicht. Es regnete nicht, mir war nur ein bißchen kühl. Ich zog den Pullover an und fühlte mich gleich besser. Wir schauten beide auf die Karte: Wir hatten schon fast alle Gipfel erklommen, und zum Lafayette waren es nur zweieinhalb Kilometer entlang eines Grats, danach folgte ein steiler 360 Meter tiefer Abstieg zur Greenleaf Hut, einer Berghütte mit einer Cafeteria. Wenn ich mich aufwärmen mußte, dann schien es ratsamer weiterzugehen. Die Hütte würden wir viel schneller erreichen als den acht Kilometer entfernten Parkplatz, wo unser Auto stand.
»Willst du auch bestimmt nicht umkehren?«
»Nein.« Ich beharrte darauf. »Wir sind in einer halben Stunde da.«
Wir machten uns wieder auf den Weg durch die graue Suppe und den peitschenden Wind, überquerten den l .554 Meter hohen Mount Lincoln und stiegen dann ein Stück zu einem sehr schmalen Grat ab. Die Sicht betrug jetzt keine fünf Meter, und es wehte ein messerscharfer Wind. Die Temperatur sinkt alle 300 Höhenmeter um etwa 1,8 Grad Celsius; in dieser Höhe wäre es also ohnehin kälter gewesen, aber jetzt war es richtig ungemütlich. Ich sah mit Entsetzen, daß sich Hunderte kleiner Wassertropfen auf meinem Pullover ansammelten, die allmählich durch das Gewebe drangen und sich mit der Feuchtigkeit des Hemdes darunter vereinigten. Ehe wir auch nur einen halben Kilometer zurückgelegt hatten, war der Pullover klitschnaß und hing schwer auf meinen Schultern und an den Armen.
Zu allem Unglück trug ich auch noch Jeans. Jeder wird einem bestätigen, daß Blue Jeans das ungeeignetste Kleidungsstück für eine Wanderung sind. Ich hatte mich dennoch zu einem Fan von diesen Hosen entwickelt, weil sie strapazierfähig sind und einen ganz gut vor Dornen, Zeckenbissen, Insekten und Giftpflanzen schützen – ideal für den Wald also. Ich gebe allerdings unumwunden zu, daß sie bei Kälte und Feuchtigkeit nutzlos sind. Den Baumwollpullover hatte ich nur pro forma eingesteckt, so wie man auch ein Schlangenbiß-Set oder Schienen für Knochenbrüche einpackt. Meine Güte, es war Juli. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß man sonst noch Oberbekleidung benötigen würde, höchstens das Regencape, das ich ja nun leider nicht dabei hatte. Kurzum, ich war unpassend angezogen, was gefährlich werden konnte, und forderte mein Leiden und meinen Tod regelrecht heraus. Ich litt wirklich.
Dabei hatte ich noch Glück. Der Wind fegte laut und gleichmäßig mit einer Geschwindigkeit von etwa 40 Stundenkilometern, aber die Böen kamen mit mindestens doppelter Geschwindigkeit und zudem aus ständig wechselnden Richtungen. Wenn der Wind uns direkt ins Gesicht blies, ging es nur zwei Schritte vor und einen zurück. Wenn er von der Seite kam, versetzte er uns jedesmal einen kräftigen Schubs und drängte uns an den Rand des Grats. Bei dem Nebel ließ sich nicht feststellen, wie tief der Sturz auf beiden Seiten sein würde, aber die Hänge waren ziemlich steil, wir befanden uns schließlich auf über l .600 Metern und hoch in den Wolken. Wenn sich die Verhältnisse auch nur ein klein bißchen verschlechtert hätten – man vor lauter Nebel seine eigenen Füße nicht mehr gesehen hätte, oder die Böen genug Kraft gehabt hätten, einen erwachsenen Menschen umzustoßen –, dann hätten wir da unten festgesessen, und ich wäre obendrein bis auf die Knochen durchnäßt gewesen. Vor einer knappen Dreiviertelstunde hatten wir in der Sonne noch fröhlich ein Liedchen gepfiffen. Jetzt begriff ich, wie man in den White Mountains zu Tode kommen konnte, sogar mitten im Sommer.
Ich befand mich gewissermaßen in einer leichten Notlage. Ich bibberte wie verrückt und fühlte mich seltsam benommen. Der Grat schien kein Ende zu nehmen, und in der milchigen Brühe war es unmöglich abzuschätzen, wann sich der Lafayette vor uns erheben würde. Ich schaute auf meine Uhr – zwei Minuten vor elf, genau richtig für eine Mittagspause, sollten wir jemals bei dieser verdammten Hütte ankommen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich wenigstens meinen Humor nicht verloren hatte. Jedenfalls kam es mir so vor. Angeblich ist ein verwirrter Mensch viel zu unsicher, um zu erkennen, daß er verwirrt ist. Logische Schlußfolgerung: Wenn man weiß, daß man nicht verwirrt ist, ist man nicht verwirrt. Es sei denn, kam es mir plötzlich in den Sinn – und ich war ganz fasziniert von dem Gedanken –, es sei denn, der Versuch, sich einzureden, man sei nicht verwirrt, ist lediglich ein erstes furchtbares Symptom für geistige Verwirrung. Vielleicht sogar für fortgeschrittene geistige Verwirrung. Wer weiß das schon? Durchaus möglich, daß ich mich auf eine Frühphase hilfloser Verwirrung zubewegte, die seitens des Betroffenen durch die Befürchtung gekennzeichnet ist, er bewege sich auf eine Frühphase hilfloser Verwirrung zu. Das ist das Problem, wenn man seinen Verstand verliert: Wenn er erst mal weg ist, kriegt man ihn nicht wieder.
Ich schaute auf meine Uhr und stellte mit Schrecken fest, daß es immer noch zwei Minuten vor elf war. Mein Zeitgefühl war weg! Ich war vielleicht nicht in der Lage, meinen Grips verläßlich zu beurteilen, aber jetzt hatte ich den Beweis am Handgelenk. Wie lange würde es noch dauern, bis ich halbnackt durch die Gegend tanzte und versuchte, angebliche Flammen zu ersticken, oder mich die fixe Idee überkäme, der eleganteste Ausweg aus diesem Schlamassel wäre ein Sprung mit einem unsichtbaren Zauberfallschirm in die Talsohle? Ich jammerte ein bißchen vor mich hin, ging aber weiter, wartete eine geschlagene Minute ab und sah dann wieder auf meine Uhr. Immer noch zwei Minuten vor elf! Ich war geliefert!
Bill, der anscheinend gänzlich unbekümmert war und unempfindlich gegenüber der Kälte und der natürlich keine Ahnung davon hatte, daß wir auf dem Grat bei diesem für die Jahreszeit untypischen Wind alles andere als vorankamen, drehte sich ab und zu um und fragte, wie es mir ging.
»Gut!« sagte ich jedesmal, denn ich hätte mich geschämt einzugestehen, daß ich auf dem besten Weg war, meinen Verstand zu verlieren, bevor ich mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen und dem Abschiedsruf »Bis nachher im Jenseits, alter Freund!« über den Rand des Grats springen würde. Vermutlich war ihm noch nie ein Patient auf einem Berggipfel abhanden gekommen, und ich wollte ihn nicht unnötig aufregen. Außerdem war ich mir nicht hundertprozentig sicher, daß ich die Kontrolle über mich verlor, ich fühlte mich nur ziemlich elend.
Ich weiß nicht, wie lange wir bis zum Gipfel des Lafayette brauchten, jedenfalls kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Vor 100 Jahren stand ein Hotel an diesem öden, abschreckenden Ort, und die vom Wind traktierten Fundamente sind immer noch eine Art Wahrzeichen. Ich habe sie auf Fotos gesehen, aber ich kann mich kein bißchen an sie erinnern. Ich war voll und ganz auf den Abstieg über den Nebenwanderweg zur Greenleaf Hut konzentriert. Er führte über ein riesiges Geröllfeld und dann, ungefähr anderthalb Kilometer weiter, durch Wald. Kaum hatten wir den Gipfel hinter uns gelassen, legte sich der Wind, und nach 150 Metern hatte sich alles wieder beruhigt. Das war geradezu gespenstisch, und auch der Nebel hing nur noch hier und da in Fetzen. Plötzlich konnten wir die Welt unter uns erkennen, und auch, wie weit oben wir uns befanden, fast abgehoben, obwohl alle anderen Gipfel in der Umgebung von Wolken verhüllt waren. Zu meiner Überraschung und Genugtuung ging es mir gleich besser. Ich richtete mich mit einem neuen Gefühl der Stärke auf, und mir wurde klar, daß ich die ganze Zeit über mit einem regelrechten Buckel gegangen war. Es ging mir wirklich viel besser, ich fror nicht mehr, und mein Kopf war wieder klar.
»So schlimm war es nun auch wieder nicht«, sagte ich mit einem derben Bergwandererlachen zu Bill und drängte weiter zur Hütte.
Greenleaf Hut ist eine von zehn malerischen und in diesem Fall besonders praktischen Steinhütten, die von dem altehrwürdigen Appalachian Mountain Club in den White Mountains betrieben werden. Der AMC, der vor über 120 Jahren gegründet wurde, ist nicht nur der älteste Wanderverein in Amerika, sondern auch die älteste »Bürgerinitiative«, die sich überhaupt um die Belange des Umweltschutzes kümmert. Der Verein verlangt stolze 50 Dollar für Übernachtung und Halbpension und wird infolgedessen von den Weitwanderern nur als Appalachian Money Club bezeichnet. Zu seiner Verteidigung wäre zu sagen, daß der AMC ein Wegenetz von 2.250 Kilometern in den White Mountains unterhält, ein ausgezeichnetes Besucherzentrum in Pinkham Notch führt, lesenswerte Bücher herausgibt und jeden Wanderer in seinen Hütten aufnimmt, auch wenn er nur aufs Klo muß, Wasser holen oder sich einfach nur ausruhen will – ein Service, den wir jetzt dankbar in Anspruch nahmen.
Wir bestellten uns einen heißen Kaffee und setzten uns damit an einen der vielen langen Tische zu den anderen verschwitzten Hikern und verzehrten unser Lunchpaket. In der Hütte herrschte eine sehr angenehme Atmosphäre, die Einrichtung war einfach und rustikal, mit einer hohen Decke und viel Platz zum Herumlaufen. Als wir fertig waren, setzte bei mir der Muskelkater ein. Deshalb stand ich auf, spazierte herum und sah mir einen der beiden Schlafräume an. Er war ziemlich groß, mit fest eingebauten Etagenbetten, vier Kojen übereinander. Er war sauber und hell und sehr karg, aber vermutlich sah es hier abends, mit lauter Wanderern und dem ganzen Gepäck, wie in einer Kaserne aus. Es machte auf mich keinen einladenden Eindruck. Benton MacKaye hatte mit diesen Hütten nichts zu tun gehabt, dennoch entsprachen sie voll und ganz seiner einstigen Vision – einfache Ausstattung, rustikal, auf das Leben in der Gemeinschaft zugeschnitten. Mir wurde mit einem dumpfen Schrecken klar: Wäre MacKayes Traum von einer ganzen Kette von Herbergen am Wegesrand Wirklichkeit geworden, dann hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach so wie dieses Haus ausgesehen. Aus dem ruhigen und gemütlichen Refugium mit einer ganzen Veranda voller Schaukelstühle, wie ich es mir in der Phantasie ausgemalt hatte, wäre wohl eher ein Kurzaufenthalt in einem Ausbildungslager geworden, obendrein ein kostspieliger, nach den Preisen des AMC zu urteilen.
Ich rechnete im Kopf nach: Angenommen, der stolze Preis von 50 Dollar hätte überall gegolten, dann hätte es den typischen Weitwanderer zwischen 6.000 und Z500 Dollar gekostet, wenn er unterwegs jeden Abend in einer Hütte eingekehrt wäre. Das hätte wohl nicht funktioniert. Vielleicht war es besser so, wie es war.
Die Sonne schien nur schwach, als wir aus der Hütte nach draußen traten und uns über einen Nebenweg nach Franconia Notch an den Abstieg machten. Unterwegs nahm sie an Kraft zu, bis man schließlich wieder von einem herrlichen Julitag sprechen konnte, die Luft war mild, in den Bäumen tanzte das Sonnenlicht, und die Vögel zwitscherten. Als wir spät nachmittags an unserem Auto ankamen, war ich fast wieder völlig trocken, und meine vorübergehende Panik auf dem Lafayette – der jetzt vor einem strahlend blauen Himmel im Sonnenlicht glänzte – war nur noch eine ferne Erinnerung.
Beim Einsteigen schaute ich auf meine Uhr. Sie zeigte zwei Minuten vor elf. Ich schüttelte sie und sah mit Interesse, wie sich der Sekundenzeiger wieder in Bewegung setzte.