5. Kapitel
»Welches Sternzeichen bist du?« sagte Mary Ellen.
»Cunnilingus«, sagte Katz und sah zutiefst unglücklich aus.
Sie schaute ihn an. »Das kenne ich nicht.« Sie runzelte die Stirn, als wollte sie sagen: Ich freß’ ‘nen Besen, sagte aber statt dessen: »Dabei dachte ich, ich würde alle kennen. Ich bin Waage.« Sie wandte sich an mich. »Und du?«
»Weiß ich nicht.« Ich versuchte mir etwas auszudenken. »Nekrophilie.«
»Das kenne ich auch nicht. Wollt ihr mich vielleicht verarschen?«
»Erraten.«
Das war zwei Tage später. Wir campierten auf einem kleinen Plateau, Indian Grave Gap, zwischen zwei dumpfen Gipfeln – an den einen erinnerte ich mich nur noch schwach, der andere stand uns erst noch bevor. Wir hatten in 48 Stunden 35 Kilometer zurückgelegt, eine ansehnliche Strecke für unsere Verhältnisse, aber eine ausgeprägte Lustlosigkeit, ein Gefühl der Enttäuschung, eine gewisse Bergmüdigkeit hatte sich unserer bemächtigt. Wir verbrachten unsere Tage genauso, wie wir sie immer verbracht hatten und auch in Zukunft verbringen würden: immer der gleiche Wanderpfad, die gleichen Hügel und Berge, der gleiche endlose Wald. Die Bäume standen so dicht, daß man fast nie einen Ausblick genießen konnte, und wenn, dann wieder nur auf endlose Hügelketten und noch mehr Bäume. Ich war schwer enttäuscht, als ich merkte, daß ich schon wieder alles madig machte und ich mich nach Weißbrot sehnte. Mary Ellen und ihr unentwegtes, erschreckend geistloses Geplapper kamen erschwerend hinzu.
»Wann hast du Geburtstag?« fragte sie mich.
»Am 8. Dezember.«
»Also Jungfrau.«
»Nein, Schütze.«
»Ist ja auch egal.« Dann plötzlich: »Meine Güte, ihr beide stinkt zum Himmel.«
»Na ja, man schwitzt kein Rosenwasser beim Wandern.«
»Ich schwitze überhaupt nicht. Nie. Ich träume auch nicht.«
»Jeder Mensch träumt«, sagte Katz.
»Ich aber nicht.«
»Nur Menschen mit ungewöhnlich geringer Intelligenz träumen nicht. Das ist wissenschaftlich erwiesen.«
Mary Ellen sah ihn einen Moment lang ausdruckslos an, dann sagte sie plötzlich, ohne sich direkt an einen von uns zu wenden: »Habt ihr das schon mal geträumt? Also, man sitzt in der Klasse und so, und dann guckt man an sich runter und so, und man hat nichts an?« Sie schüttelte sich. »Das kann ich nicht ab.«
»Ich dachte, du träumst nicht«, sagte Katz.
Sie starrte ihn wieder lange an, als überlegte sie, wo sie ihm schon mal begegnet war. »Und Fallen«, fuhr sie gelassen fort. »Den Traum hasse ich auch. Wie wenn man in ein Loch fällt und so, und man fällt und fällt.« Sie schnaubte wieder geräuschvoll, um den Druck in den Ohren loszuwerden.
Katz musterte sie beiläufig interessiert. »Ich kenne jemanden, der hat das auch mal gemacht«, sagte er, »dabei ist ihm ein Auge rausgesprungen.«
Sie sah ihn fragend an.
»Es kullerte über den Wohnzimmerboden, und sein Hund hat es gefressen. Stimmt’s, Bryson?«
Ich nickte.
»Das hast du dir nur ausgedacht.«
»Nein. Es ist über den Boden gekullert, und bevor er sich’s versah, hatte der Hund es mit einem Happen verschlungen.«
Ich bestätigte das mit einem neuerlichen Nicken.
Sie dachte minutenlang darüber nach. »Was hat dein Freund wegen der Augenhöhle gemacht? Hat er sich ein Glasauge gekauft, oder was?«
»Das hatte er eigentlich vor, aber seine Familie war ziemlich arm. Er hatte sich einen Tischtennisball besorgt, eine Pupille drauf gemalt und ihn als Auge benutzt.«
»Ihh«, sagte Mary Ellen leise.
»Deswegen würde ich an deiner Stelle nicht ständig so schnauben.«
Sie ließ sich das Gesagte wieder durch den Kopf gehen. »Ja, vielleicht hast du recht«, sagte sie und schnaubte.
In den wenigen Momenten, die wir für uns hatten, wenn sich Mary mal zum Pinkeln in die Büsche verzog, hatten Katz und ich heimlich beschlossen, morgen die 22,5 Kilometer nach Dicks Creek Gap zu laufen, wo ein Highway kreuzte, der in die Stadt Hiawassee führte, 17,7 Kilometer weiter nördlich. Wir würden bis zum Gap wandern, und wenn wir am Ende tot umfielen; von da aus würden wir nach Hiawassee trampen, um dort zu Abend zu essen und uns in einem Motel einzumieten. Plan Nummer zwei sah vor, Mary Ellen zu töten und sich an ihren Honigpops gütlich zu tun.
So kam es, daß wir am nächsten Tag wie die Soldaten marschierten, richtig marschierten, meine ich, und Mary Ellen mit unseren weit ausholenden Schritten in blankes Erstaunen versetzten. In Hiawassee sollte es ein Motel geben – Bettlaken! Dusche! Farbfernsehen! – und angeblich eine Auswahl von Restaurants. Dieser kleine Ansporn reichte, um uns einen Schritt schneller gehen zu lassen. Katz erlahmte nach einer Stunde, und ich war nachmittags todmüde, aber wir hielten entschlossen durch. Mary Ellen fiel immer weiter zurück, bis sie sogar hinter Katz zurückblieb. Ein wahres Wunder.
Um vier Uhr trat ich erschöpft und erhitzt und mit einem von sandigen Schweißbächen gezeichneten Gesicht aus dem Wald und stieg die breite Böschung zum U.S. Highway 76 hoch, einem Asphaltband mitten durch den Wald, und stellte befriedigt fest, daß die Straße mehrspurig war und wie eine wichtige Hauptverkehrsader aussah. Ein paar hundert Meter weiter befand sich eine kleine Lichtung und eine Auffahrt – Ausdruck von Zivilisation! –, bevor die Straße eine verlockende Kurve beschrieb. Mehrere Autos fuhren vorbei, als ich mich dort hinstellte.
Katz torkelte ein paar Minuten später zwischen den Bäumen hervor. Mit seinem irren Blick und den zerzausten Haaren sah er verwegen aus, und ich hetzte ihn trotz seines wortreichen Widerspruchs, er müsse sich auf der Stelle hinsetzen, über die Straße. Ich wollte unbedingt ein Auto anhalten, bevor Mary Ellen auftauchte und alles wieder vermasselte. Ich wußte nicht wie, ich wußte nur, daß sie es schaffen würde.
»Hast du sie gesehen?« fragte ich Katz besorgt.
»Ganz weit hinter mir. Sie saß auf einem Stein, hatte die Schuhe ausgezogen und rieb sich die Füße. Sie sah ziemlich erledigt aus.«
»Gut.«
Katz pflanzte sich auf seinen Rucksack, schmutzig und erschöpft wie er war, und ich stellte mich neben ihn an die Böschung, hielt den Daumen raus, versuchte, uns als ehrbare und anständige Menschen zu verkaufen und schickte jedem Auto und jedem Pick-up, die an uns vorbeifuhren, im stillen eine Schimpfkanonade hinterher. Ich war seit 25 Jahren nicht mehr getrampt, und es war eine etwas demütigende Erfahrung. Die Autos rasten vorbei, unglaublich schnell, wie wir fanden, die wir jetzt im Wald hausten, und die Fahrer würdigten uns nicht mal eines Blickes. Ganz wenige näherten sich etwas langsamer, immer saßen ältere Herrschaften in den Wagen – kleine, weiße, gerade über Fensterhöhe ragende Köpfchen –, die uns ohne Mitgefühl ausdruckslos anstarrten, wie eine Herde Kühe auf der Weide. Es kam mir unwahrscheinlich vor, daß irgend jemand für uns anhalten würde. Ich hätte auch nicht für uns angehalten.
Nachdem uns eine Viertelstunde lang ein Auto nach dem anderen verschmäht hatte, verkündete Katz verzagt: »Hier nimmt uns nie einer mit.«
Er hatte natürlich recht, aber es ärgerte mich, daß er immer so schnell aufgab. »Kannst du nicht mal etwas mehr Optimismus ausstrahlen?« bat ich ihn.
»Na gut, bin ich eben optimistisch. Aber ich bin absolut davon überzeugt, daß uns hier kein Mensch mitnimmt. Sieh uns doch nur an.« Er schnüffelte angeekelt unter seinen Achselhöhlen, »Ich stinke wie faule Eier.«
Es gibt ein Phänomen, das sich »Trail Magic« nennt, das bei allen Wanderern des Appalachian Trail bekannt ist und von dem mit Ehrfurcht gesprochen wird. Man könnte es auch das Wunder des Zufalls nennen, jedenfalls besagt es, daß häufig dann, wenn es besonders finster aussieht, irgend etwas passiert, das einen wieder Licht am Ende des Tunnels sehen läßt. Bei uns war es ein kleiner Pontiac Trans Am, der vorbeiflog und dann 100 Meter weiter mit quietschenden Reifen und in eine Staubwolke gehüllt am Straßenrand zum Stehen kam. Es war so weit weg von der Stelle, wo wir standen, daß wir kaum glauben konnten, das Auto hielte wegen uns, aber dann wurde der Rückwärtsgang eingelegt, und es kam auf uns zu, fuhr halb auf der Böschung, halb auf der Straße, sehr schnell und in Schlangenlinien. Ich stand wie festgenagelt. Am Tag davor hatten uns ein paar erfahrene Wanderer berichtet, daß sich die Leute im Süden manchmal einen Spaß daraus machten, auf Tramper, die vom Appalachian Trail kamen, zuzurasen, um im letzten Moment auszuweichen, oder ihre Rucksäcke zu überfahren, und ich hatte plötzlich den Verdacht, daß es sich hierbei um solche Leute handelte. Ich wollte gerade in Deckung springen, und selbst Katz machte schon Ansätze, sich zu erheben, als das Auto röhrend und wieder mit viel aufgewirbeltem Staub ein paar Meter vor uns stehenblieb und eine junge Frau den Kopf aus dem Fenster der Beifahrertür , steckte.
»Wollta mitkomm’?« rief sie.
»Klar, und wie«, sagten wir und benahmen uns wie zwei brave Kinder.
Wir rannten mit unseren Rucksäcken zu dem Wagen, schauten durch die Fenster und sahen ein sehr hübsches, sehr glückliches, sehr betrunkenes junges Pärchen. Die beiden waren höchstens 18 oder 19 Jahre alt. Die Frau goß aus einer zu drei Viertel leeren Flasche Wild-Turkey-Whiskey zwei Plastikbecher randvoll. »Hü« sagte sie. »Kommt rein.«
Wir zögerten. Der Wagen war fast bis unter die Decke mit Zeug vollgepackt, Koffer, Kartons, Plastiktüten, stapelweise Kleider auf Bügeln. Es war ohnehin ein kleines Auto – und schon für die beiden ziemlich eng.
»Mach mal ein bißchen Platz für die Herren, Darren«, befahl die junge Frau, und fügte dann erklärend hinzu: »Das ist Darren.«
Darren stieg aus, begrüßte uns grinsend, machte den Kofferraum auf und stierte mit leerem Blick hinein, bis sich allmählich die Erkenntnis in seinem Gehirn breitgemacht hatte, daß er ebenfalls picke packe voll war. Darren war dermaßen betrunken, daß ich für einen Augenblick dachte, er würde im Stehen einschlafen, aber er kam wieder zu sich, fand ein Stück Schnur und band unsere beiden Rucksäcke geschickt aufs Dach. Dann schob er, die energischen Ratschläge und Proteste seiner Freundin überhörend, das Zeug auf dem Rücksitz ein bißchen zusammen, bis ein schmaler Hohlraum geschaffen war, in den Katz und ich uns quetschten, während wir unter Geächz und Gestöhn Entschuldigungen und Gefühle größter Dankbarkeit zum Ausdruck brachten.
Die junge Frau hieß Donna, und die beiden waren unterwegs zu irgendeinem Ort mit einem gräßlichen Namen – Turkey Balls Falls oder Coon Slick oder so ähnlich, ungefähr achtzig Kilometer von hier, aber sie würden uns in Hiawassee absetzen, wenn wir vorher nicht alle tot im Straßengraben landeten. Darren raste mit 200 Stundenkilometern, nur einen Finger am Steuer, wippte dabei mit dem Kopf zu irgendeinem Rhythmus, während Donna sich umdrehte, um sich mit uns zu unterhalten. Sie war umwerfend hübsch, hinreißend hübsch.
»Ihr müßt schon entschuldigen. Wir beide feiern gerade.« Sie hob ihren Plastikbecher hoch, wie um uns zuzuprosten.
»Was wird denn gefeiert?« fragte Katz.
»Wir wolln morgen heiraten«, verkündete sie stolz.
»Nicht möglich«, sagte Katz. »Meinen Glückwunsch.«
»Ja, ja. Darren macht eine anständige Frau aus mir.« Sie wuschelte in seinem Haar, beugte sich dann spontan zur Seite und gab ihm einen Kuß auf die Wange, der immer ausdauernder wurde, dann eindringlicher, dann eindeutig lüstern und seinen krönenden Abschluß in einem ruckartigen Vorstoß ihrer Hand an eine gewagte Stelle fand – jedenfalls vermuteten wir das, denn Darren stieß mit dem Kopf an die Decke und machte einen kurzen, nervenaufreibenden Ausflug auf die Gegenfahrbahn. Donna drehte sich daraufhin mit einem verträumten, unverfroren anzüglichen Grinsen zu uns um, als wollte sie sagen: Wer will als nächster? Es sah so aus, überlegten wir uns später, als hätte Darren alle Hände voll zu tun gehabt in dem Moment, aber wahrscheinlich lohnte sich die Mühe.
»Wollt ihr was trinken?« bot sie plötzlich an, griff die Flasche am Hals und suchte den Boden nach Bechern ab.
»Nein, danke«, sagte Katz. Es war eine Versuchung für ihn.
»Komm schon«, ermunterte sie ihn.
Katz hielt abwehrend die Hand hoch. »Ich bin geheilt.«
»Wirklich? Wie schön für dich. Trink einen drauf.«
»Nein, danke. Ich möchte nicht.«
»Was ist mit dir?« sagte sie zu mir.
»Nein, nein. Danke.« Ich hätte meine eingequetschten Arme sowieso nicht frei bekommen, selbst wenn ich gewollt hätte. Sie baumelten vor mir wie zwei schlaffe Gliedmaßen von einem Tyrannosaurus.
»Du bist aber nicht geheilt, oder?«
»Irgendwie schon.« Ich hatte beschlossen, für die Dauer unserer Tour aus Solidarität dem Alkohol zu entsagen.
Sie sah uns an. »Seid ihr Mormonen oder so?«
»Nein, nur Wanderer.«
Sie nickte bedächtig, gab sich damit zufrieden und trank einen Schluck. Dann brachte sie Darren wieder an die Decke.
Sie setzten uns vor Mull’s Motel in Hiawassee ab, einem altertümlichen, nichtssagenden Haus, das offenkundig keiner Hotelkette angeschlossen war und das an einer Straßenecke unweit des Stadtzentrums lag. Wir dankten den beiden überschwenglich, machten ein bißchen Getue wegen dem Benzingeld, das wir ihnen geben wollten, das sie aber hartnäckig ablehnten, und sahen ihnen hinterher, als Darren, wie von einem Raketenwerfer abgefeuert, auf die befahrene Straße glitt. Ich bildete mir ein, daß er sich gerade wieder den Kopf an der Decke stieß, als das Auto hinter einer kleinen Anhöhe verschwand.
Dann standen wir mit unseren Rucksäcken allein da, auf dem leeren Parkplatz des Motels, in einer staubigen, verlorenen, sonderbaren Stadt im Norden von Georgia. Das Wort, das jedem Wanderer in den Sinn kommt, wenn er an Georgia denkt, heißt Deliverance (Beim Sterben ist jeder der Erste), der Titel des Romans von James Dickey, der später in Hollywood verfilmt wurde. Es geht darin, wie Sie sich vielleicht erinnern, um vier Männer in den besten Jahren aus Atlanta, die übers Wochenende eine Kanufahrt auf dem fiktiven Cahulawassee River machen (dessen Vorbild, der Fluß Chattooga, verläuft in der Nähe) und völlig aus der Bahn geworfen werden. »Hier hat jeder, den ich kennengelernt habe, in seiner Familie mindestens einen Verwandten im Gefängnis sitzen«, sagt eine der Figuren ahnungsvoll während der Hinfahrt. »Einige wegen Schwarzbrennerei, andere, weil sie das Zeug verhökern, aber die meisten sind wegen Mordes drin. Ein Menschenleben ist hier nicht viel wert.« Das erweist sich dann natürlich als zutreffend: Das muntere Quartett aus der Metropole wird nacheinander in den Arsch gefickt, von verrückten Hinterwäldlern gejagt und dann umgebracht.
Am Anfang des Romans gibt es eine Stelle, da halten die vier unterwegs an und fragen »in einer verschlafenen, von einer seltenen Krankheit befallenen, häßlichen Stadt« nach dem Weg. Diese Stadt hätte gut und gern Hiawassee sein können. Das Buch spielt jedenfalls in diesem Teil des Bundesstaates, und der Film wurde auch in dieser Gegend gedreht. Der berühmte Banjo spielende Albino, der in dem Film »Dueling Banjos« anstimmt, wohnt angeblich in Clayton, das nicht weit weg liegt.
Dickeys Buch hat bei seinem Erscheinen erwartungsgemäß heftige Kritik im Staat Georgia ausgelöst – ein Journalist meinte, es sei »die niederträchtigste Charakterisierung der Bergbewohner des Südens in der gesamten modernen Literatur«, was noch« eine Untertreibung ist –, aber es läßt sich nun einmal nicht leugnen, daß die Menschen seit 150 Jahren von den Bewohnern des nördlichen Georgia geradezu entsetzt sind. Ein Chronist des 19.Jahrhunderts beschreibt die Leute als »groß gewachsene, hagere, leichenähnliche Kreaturen, melancholisch und träge wie gekochter Kabeljau«. Andere machen großzügigen Gebrauch von Wörtern wie »verdorben«, »grob«, »unzivilisiert« und »zurückgeblieben«, um das abgeschiedene, ungebildete Völkchen in den tiefen, finsteren Wäldern und hoffnungslosen Städtchen Georgias zu beschreiben. Dickey, der selbst aus Georgia stammte und die« Gegend gut kannte, schwor Stein und Bein, daß es sich um eine zutreffende Beschreibung handelte.
Vielleicht lag es an dem nachhaltigen Eindruck, den das Buch hinterlassen hatte, vielleicht einfach an der Tageszeit, vielleicht auch daran, daß es ungewohnt war, wieder in einer Stadt zu sein, jedenfalls hatte Hiawassee etwas spürbar Merkwürdiges und Beunruhigendes an sich. Es war ein Ort, in dem es einen nicht sonderlich erstaunt hätte, an einer Tankstelle das Benzin von einem Zyklopen gezapft zu bekommen. Wir betraten den Empfangsraum des Motels, der mich eher an ein kleines schmuddeliges Wohnzimmer und nicht an ein Büro erinnerte, und fanden eine alte Frau vor, mit wuscheligem, weißen Haar und einem hellen Baumwollkleid, die auf einem Sofa neben der Tür saß. Sie schien sich über unseren Besuch zu freuen.
»Hi«, sagte ich. »Wir hätten gern ein Zimmer.«
Die Frau grinste und nickte.
»Eigentlich zwei Zimmer, wenn’s geht.«
Die Frau grinste und nickte wieder. Ich wartete darauf, daß sie aufstand, aber sie rührte sich nicht.
»Für heute«, sagte ich aufmunternd. »Sie vermieten doch Zimmer, oder nicht?« Ihr Grinsen erweiterte sich zu einem Strahlen, und sie nahm meine Hand und hielt sie fest, ihre Finger fühlten sich knochig und kalt an. Sie sah mir erwartungsvoll und eindringlich in die Augen, als hoffe sie, daß ich gleich ein Stöckchen werfen würde, das sie holen sollte.
»Sag ihr, wir kämen aus der Wirklichkeit«, flüsterte mir Katz ins Ohr.
Im selben Moment öffnete sich mit Schwung eine Tür, und eine grauhaarige Frau, die ihre Hände an einer Schürze abtrocknete, kam herein.
»Es hat keinen Zweck, mit ihr zu reden«, sagte sie in freundlichem Tonfall. »Sie versteht nichts, und sie spricht nicht. Laß die Hand von dem Mann los, Mutter.« Die alte Frau strahlte sie an. »Du sollst die Hand von dem Mann loslassen!«
Meine Hand wurde freigegeben, und wir mieteten zwei Zimmer. Wir zogen mit den Schlüsseln los und vereinbarten, uns in einer halben Stunde wieder zu treffen. Mein Zimmer war schlicht und schäbig, jede nur denkbare Oberfläche, einschließlich Toilettenbrille und Türschwelle, verzierten Brandlöcher, und Wände und Decke waren übersät mit Flecken, was den Gedanken nahelegte, daß hier ein Streit stattgefunden hatte, bei dem es offenbar um Leben und Tod gegangen war und Unmengen heißen Kaffees eine Rolle gespielt haben mußten. Für mich jedenfalls war es das Paradies. Ich rief Katz an, aus purer Lust, mal wieder ein Telefon zu benutzen, und ich erfuhr, daß sein Zimmer noch schlimmer aussah. Wir waren hochzufrieden.
Wir duschten, zogen die letzten frischen Klamotten an, die wir hatten und begaben uns erwartungsvoll in ein beliebtes, nahegelegenes Bistro, das sich Georgia Mountain Restaurant nannte. Auf dem Parkplatz standen lauter Pick-up-Trucks, und drinnen saßen lauter Fleischklöpse mit Baseballmützen auf dem Kopf. Wenn ich in die Menge gerufen hätte: »Telefon für dich, Bubba!« es wäre bestimmt jeder zweite aufgesprungen. Das Georgia Mountain verfügte nicht gerade über eine Küche, für die sich eine Anreise gelohnt hätte, nicht mal innerhalb der Stadtgrenzen von Hiawassee, aber dafür war das Essen einigermaßen billig. Für 5,50 Dollar bekam man »Fleisch plus drei« – die Zahl bezog sich auf die Beilagen –, einen Gang ans Salatbüffet und Nachtisch. Ich bestellte gebratenes Hühnchen, Erbsen, Röstkartoffeln und »Ruterbeggars« (gelbe Kohlrüben, die korrekterweise »Rutabagas« geschrieben werden wie auf der Speisekarte zu lesen war). Die hatte ich noch nie probiert und werde sie wohl auch so schnell nicht wieder probieren. Wir aßen schmatzend und mit« Lust und bestellten viel Eistee zum Runterspülen.
Der Nachtisch war natürlich der Höhepunkt. Jeder Wanderer auf dem Trail träumt unterwegs von irgendeinem Gericht, meist etwas Süßem, Klebrigem. Die Phantasie, die mich am Laufen hielt, rankte sich um ein überdimensionales Stück Kuchen. Es hatte mich tagelang beschäftigt, und als die Kellnerin jetzt kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, bat ich sie mit einem fle henden Blick, wobei ich meine Hand auf ihren Unterarm legte, mir das größte Stück Kuchen zu bringen, das sie mir abschneiden konnte, ohne ihren Job zu riskieren. Sie brachte mir ein riesiges, pappiges, kanariengelbes Stück Zitronenkuchen. Es war ein wahres Monument der Lebensmittelindustrie, so knallgelb, daß man vom Anblick allein Kopfschmerzen bekam, so süß, daß es einem die Augäpfel in die Stirnhöhlen trieb – kurzum, es bot alles, was man von einem Kuchen dieser Sorte erwartete, solange man Geschmack und Qualität als Bewertungskriterien vernachlässigte. Ich wollte gerade herzhaft reinbeißen, als Katz sein langes Schweigen brach und mit großer Nervosität in der Stimme sagte: »Weißt du, was ich die ganz Zeit mache? Ich gucke alle paar Minuten zur Tür, um zu sehen, ob Mary Ellen hereinkommt.«
Ich hörte auf zu essen, die Gabel mit der fettglänzenden Masse auf halbem Weg zum Mund, und stellte mit beiläufigem Staunen, fest, daß sein Nachtischteller bereits leer war. »Du willst mir doch nicht weismachen, daß sie dir fehlt, Stephen?« sagte ich und schob die Gabel dahin, wo sie hingehörte.
»Nein«, sagte er sauer. Er fand meine Frage überhaupt nicht komisch. Er rang nach Worten, um seinen komplizierten Gefühlen Ausdruck zu geben. »Ich finde, wir haben sie irgendwie sitzengelassen«, platzte er schließlich heraus.
Ich ließ mir den Vorwurf durch den Kopf gehen. »Eigentlich haben wir sie nicht irgendwie sitzengelassen. Wir haben sie sitzengelassen. Ganz einfach.« Ich war absolut nicht seiner Meinung. »Na und?«
»Ich habe irgendwie ein schlechtes Gefühl – nur irgendwie –, weil wir sie allein, auf sich gestellt, im Wald zurückgelassen haben.« Dann verschränkte er die Arme, als wollte er damit sagen: So, jetzt ist es raus.
Ich legte die Gabel beiseite und überlegte. »Sie ist doch auch allein losgegangen«, sagte ich. »Wir sind nicht für sie verantwortlich. Wir haben keinen Vertrag abgeschlossen, nach dem wir uns um sie zu kümmern hätten.«
Noch während ich das sagte, wurde mir mit schrecklicher, zunehmender Deutlichkeit klar, daß er recht hatte. Wir hatten Mary Ellen abgehängt und sie den Bären, Wölfen und geil lechzenden Bergbewohnern überlassen. Ich war dermaßen mit meiner eigenen wilden Gier nach Essen und einem richtigen Bett beschäftigt gewesen, daß mir nicht in den Sinn gekommen war, was unser plötzliches Verschwinden für sie bedeuten würde – eine Nacht allein zwischen rauschenden Bäumen, umgeben von Finsternis, die Ohren gezwungenermaßen gespitzt, auf das vielsagende Knacken eines Astes oder Zweiges unter einem schweren Fuß oder einer Tatze lauschend. So etwas gönnte ich keinem Menschen. Mein Blick fiel auf meinen Kuchen, und ich merkte, daß mir der Appetit vergangen war. »Vielleicht hat sie jemand anderen gefunden, mit dem sie ihr Lager teilen kann«, erwiderte ich lahm und schob den Teller von mir weg.
»Bist du heute unterwegs irgend jemandem begegnet?«
Er hatte recht. Wir hatten fast keine Menschenseele gesehen.
»Wahrscheinlich ist sie jetzt immer noch unterwegs«, sagte Katz mit einer Spur plötzlicher Aufregung. »Und fragt sich, wo wir beide bloß abgeblieben sind. Scheißt sich vor Angst in ihren Breitwandarsch.«
»Hör auf«, bat ich ihn mißgelaunt und schob den Teller mit dem Kuchen zerstreut noch ein Stück weiter von mir.
Er nickte, ein nachdrückliches, eifriges, selbstgerechtes Nicken und sah mich mit einer seltsam strahlenden Miene an, die besagte: Und wenn sie stirbt, dann geht das auf deine Kappe. Er hatte recht. Ich war der Rädelsführer in dieser Sache gewesen. Es war meine Schuld.
Dann beugte er sich weiter vor und sagte in einem völlig veränderten Tonfall: »Wenn du den Kuchen nicht mehr ißt – darf ich ihn dann haben?«
Am nächsten Morgen frühstückten wir gegenüber bei Hardees und ließen uns danach von einem Taxi an den Trail fahren. Von Mary Ellen war nicht mehr die Rede, wir redeten überhaupt nicht viel. Wenn wir einen Tag lang die Annehmlichkeiten einer Stadt genossen hatten, waren wir bei der Rückkehr zum Appalachian Trail immer mundfaul.
Es erwartete uns gleich ein steiler Anstieg, und wir gingen langsam, fast behutsam. Der erste Tag nach einer längeren Unterbrechung war immer schrecklich für mich. Für Katz dagegen war jeder Tag schrecklich. Mochte ein Stadtbesuch noch so erholsame Wirkung zeitigen, unterwegs verflüchtigte sie sich erstaunlich schnell. Nach zwei Minuten war es, als wären wir nie weg gewesen – eigentlich sogar noch schlimmer, weil man an einem normalen Wandertag nicht mit einem schweren, fettreichen Hardees-Frühstück im Bauch einen steilen Berg hinaufkraxeln würde, das einem jederzeit aus dem Gesicht zu fallen drohte.
Wir waren etwa eine halbe Stunde unterwegs, als uns ein Wanderer entgegenkam, ein ziemlich sportlicher Mann mittleren Alters. Wir erkundigten uns, ob er einer Frau namens Mary Ellen begegnet sei, rote Jacke, etwas lautes Stimmorgan.
Er zog ein Gesicht, als könnte er sich an eine solche Person erinnern, und sagte: »Ist das die Frau – ich will nicht unhöflich erscheinen – aber macht die immer so?« und er hielt sich die Nase zu und schnaubte ein paarmal hintereinander geräuschvoll.
Heftiges Kopfnicken unsererseits.
»Ja. Ich habe gestern abend mit ihr und noch zwei anderen Männern in der Plumorchard-Gap-Schutzhütte übernachtet.« Er sah uns mißtrauisch von der Seite an. »Ist das eine Freundin von euch?«
»Nein, nein«, erwiderten wir, verleugneten sie nach Kräften, was jeder vernünftige Mensch getan hätte. »Sie hatte sich uns für ein paar Tage angeschlossen.«
Er nickte verständnisvoll, dann grinste er. »Sie ist ein harter Brocken, was?«
Wir grinsten ebenfalls. »War es so schlimm?« sagte ich.
Er zog ein Gesicht, das höllische Qualen ausdrückte, dann schaute er plötzlich so, als würde er sich einen Reim auf etwas machen. »Ach, dann seid ihr die beiden, über die sie gesprochen hat.«
»Hat sie wirklich über uns gesprochen?« sagte Katz. »Was hat sie denn gesagt?«
»Ach, nichts weiter«, antwortete er und verkniff sich ein Lachen, das einem die nächste Frage abnötigte. »Was hat sie gesagt?«
»Nichts. Es war nichts.« Er lachte immer noch.
»Was denn nun?«
Er war unschlüssig. »Na gut. Sie hat gesagt, ihr beide wärt zwei fettleibige Nieten, die keine Ahnung vom Wandern hätten, und daß sie keine Lust mehr hätte, euch an die Hand zu nehmen.«
»Das hat sie gesagt?« fragte Katz empört nach.
»Ich glaube, sie hat euch sogar Schlappschwänze genannt.«
»Schlappschwänze?« wiederholte Katz. »Jetzt hätte ich erst recht Lust, sie umzubringen.«
»Es dürfte kein Problem sein, dafür Helfer zu finden«, sagte der Mann geistesabwesend, betrachtete kritisch den Himmel und fügte noch hinzu: »Es soll Schnee geben.«
Ich stöhnte kurz auf. Das hatte uns gerade noch gefehlt. »Wirklich? Viel?«
Er nickte. »15 bis 20 Zentimeter. Aber nur in den oberen Kammlagen.« Er zog gleichmütig die Augenbrauen hoch, wie zur Bestätigung meiner genervten Reaktion. Schnee war nicht nur abschreckend, Schnee war gefährlich.
Er hing einen Augenblick der trüben Aussicht nach, dann sagte er: »Dann wollen wir mal wieder. Immer in Bewegung bleiben.« Ich nickte verständnisvoll. Dazu waren wir ja in den Bergen, um weiterzugehen, immer in Bewegung zu bleiben. Ich sah ihm nach und wandte mich Katz zu, der kopfschüttelnd dastand.
»Stell dir vor, so was sagt die über uns, nach allem, was wir für sie getan haben«, meinte er. Dann merkte er, daß ich ihn wütend anstarrte, und er preßte sich ein mühsames »Was ist?« heraus, und dann noch gepreßter: »Was ist?«
»Wehe, du vermiest mir noch einmal ein Stück Kuchen. Dann kannst du was erleben.«
Er zuckte mit den Schultern. »Na gut, in Ordnung. Meine Güte«, sagte er und trottete weiter.
Ein paar Tage später erfuhren wir, daß Mary Ellen aus dem Rennen war. Sie hatte sich bei dem Versuch, 56 Kilometer in zwei Tagen zurückzulegen, Blasen gelaufen. Schwerer Fehler.