14. Kapitel
Am nächsten Morgen fuhr ich nach Pennsylvania, knapp 50 Kilometer nach Norden. Der Appalachian Trail führt in einem 370 Kilometer langen, nordöstlich ausgerichteten Bogen, der aussieht wie das dicke Ende eines Kuchenstücks, durch den Bundesstaat Pennsylvania. Ich kenne keinen Wanderer, der ein gutes Wort für den Trailabschnitt in Pennsylvania übrig hätte. Es ist der Ort, »an dem Wanderschuhe sich zum Sterben begeben«, wie sich jemand 1987 einem Reporter des National Geographie gegenüber ausdrückte. Während der letzten Eiszeit herrschte hier, was Geologen ein periglaziales Klima nennen. Es bezeichnet eine Zone am Rand einer Eisdecke, die sich durch häufige Frost- und Tauwetter-Zyklen auszeichnet und den felsigen Boden aufbricht. Die Folge sind endlose Gebiete aus zerklüfteten, bizarr geformten Steinbrocken, die in wackligen Schichten übereinanderliegen. Fachleute nennen das ein Felsenmeer. Es erfordert ständige Aufmerksamkeit beim Gehen, wenn man sich nicht den Knöchel verstauchen oder auf die Schnauze fallen will – keine angenehme Erfahrung mit einem Schub von 20 Kilo auf dem Rücken. Viele Wanderer kehren mit Schrammen und Knochenbrüchen aus Pennsylvania zurück. Außerdem soll es dort die aggressivsten Klapperschlangen und die unzuverlässigsten Wasserquellen geben, vor allem im Hochsommer. Die wirklich herrlichen Bergkämme der Appalachen in Pennsylvania – Nittany, Jacks und Tussey – liegen weiter nördlich und westlich. Aus diversen praktischen und historischen Gründen kommt der AT nicht einmal in die Nähe dieser Berge. Er führt eigentlich über gar keine bedeutende Erhebung in Pennsylvania, hat keine besonders einprägsamen Ausblicke zu bieten, berührt keine Nationalparks oder Wälder und läßt die bemerkenswerte Geschichte des Bundesstaates völlig außer acht. Der AT ist hier im wesentlichen das Herzstück eines sehr langen, strapaziösen Weges, der den Süden mit New England verbindet. Kein Wunder, daß die meisten Leute ihn nicht sonderlich mögen.
Und noch etwas: Die Karten für diesen Abschnitt sind die schlechtesten, die je für Wanderer erstellt wurden. Die sechs Blätter für Pennsylvania – die Bezeichnung Karten wäre zuviel der Ehre –, die von einer Institution herausgegeben werden, die sich Keystone Trail Association nennt, sind klein, einfarbig, schlecht gedruckt, erstaunlich ungenau, und die Legende ist unzureichend – mit einem Wort, sie sind nutzlos, lächerlich, ja gefährlich. Niemand sollte mit solchen Karten in die Wildnis geschickt werden.
Dieser Umstand offenbarte sich mir in seiner ganzen Tragweite erst, als ich auf dem Parkplatz des Caledonia State Park stand und mir einen Kartenausschnitt ansah, der ein einziger Fleck aus lauter Spiralen -war, - wie ein mißratener Fingerabdruck. Es war zum Heulen. In die einzige Höhenlinie hinein war eine Zahl in mikroskopischer Größe geschrieben. Die Zahl sollte entweder 548 oder 348 heißen, es war unmöglich zu erkennen, aber das spielte sowieso keine Rolle, denn es war nirgendwo ein Maßstab angegeben, nichts, woraus der Höhenunterschied von einer Linie zur nächsten hervorging oder ob das Bündel von Linien einen steilen Aufstieg oder einen jähen Abhang anzeigte. Was den Park und die nähere Umgebung betrifft, war nichts, aber auch gar nichts eingetragen. Mein Standort hätte 20 Meter oder auch zwei Kilometer vom Appalachian Trail entfernt sein können, es war anhand der Karte einfach nicht zu erkennen.
Dummerweise hatte ich mir die Karten nicht angeschaut, bevor ich von zu Hause aufgebrochen war. Ich hatte überstürzt meinen Rucksack gepackt und nur darauf geachtet, daß ich das richtige Karten-Set dabeihatte, und es in den Sack gestopft. Jetzt sah ich sie mir alle nacheinander an und war bestürzt, so als würde ich mir kompromittierende Fotos von einem geliebten Menschen anschauen. Ich hatte von Anfang an gewußt, daß ich nicht durch ganz Pennsylvania laufen wollte – dazu hatte ich weder die Zeit noch die geringste Lust –, aber ich hatte gedacht, wenigstens ein paar schöne Rundwanderwege zu finden, die mir etwas von der Besonderheit des Bundesstaates vermittelten, ohne ständig denselben Weg zurückgehen zu müssen. Bei der Durchsicht des gesamten Karten-Sets wurde jedoch nicht nur deutlich, daß es keine Rundwanderwege gab, sondern daß es jedesmal reines Glück bedeuten würde, wenn ich überhaupt hier und da auf den Trail stieße.
Seufzend steckte ich die Karten wieder ein, machte mich auf den Weg durch den Park und suchte nach den vertrauten, weißen Zeichen des AT. Es war ein hübscher Park, in einem waldreichen Tal gelegen und ziemlich leer an diesem herrlichen Morgen. Ich ging ungefähr eine Stunde lang, zwischen Bäumen hindurch, über Fußgängerbrücken aus Holz, aber den AT fand ich trotzdem nicht. Über einen einsamen Highway und durch dichtes Blättertreiben vom Michaux State Forest her gelangte ich zum Pine Grove Furnace State Park, einem großen Freizeitpark, den man um einen alten Schmelzofen aus dem 19. Jahrhundert herum angelegt hat, woher auch der Name stammt. Der Ofen ist heute eine malerische Ruine. Es gab Imbißstände, Picknicktische und einen See mit einem abgetrennten Bereich zum Baden, aber alles war geschlossen, und es war keine Menschenseele zu sehen. Am Rand des Picknickareals stand ein riesiger Müllcontainer mit einem robusten Metalldeckel, der ziemlich malträtiert und verbeult aussah, fast aus den Angeln gehoben, wahrscheinlich von einem Bären, der sich über die Abfälle hermachen wollte. Ich sah mir den Container ehrerbietig aus der Nähe an. Ich wußte nicht, daß Bären solche Kräfte entwickeln konnten.
Endlich prangten mir auch die AT-Zeichen entgegen. Der Weg führte um den See herum und dann steil aufwärts durch einen Wald bis zum Gipfel des Piney Mountain, der nicht auf der Karte eingezeichnet ist und mit knapp 460 Metern eigentlich auch kein richtiger Berg ist. Trotzdem stellte er an einem warmen Sommertag wie heute eine Herausforderung dar. Außerhalb des Parks befindet sich eine Tafel, die die traditionelle, aber rein theoretische Mitte des Appalachian Trail markiert, mit 1.738,36 Kilometern Fußweg in beide Richtungen. Da niemand genau sagen kann, wie lang der AT tatsächlich ist, liegt die Mitte wahrscheinlich irgendwo 80 Kilometer weiter links oder rechts von dem angezeigten Punkt; auf jeden Fall verschiebt sie sich wegen der dauernden Änderung des Wegverlaufs jedes Jahr. Zwei Drittel der Weitwanderer bekommen den Punkt ohnehin nie zu sehen, weil sie bis dahin längst aufgegeben haben. Eigentlich muß es doch ein enttäuschender Moment sein, wenn man sich zehn, elf Wochen lang durch bergige Wildnis gequält hat und einem an dieser Stelle klar wird, daß man trotz aller Strapazen erst die Hälfte geschafft hat.
Hier ungefähr fand auch einer der berüchtigteren Morde des Trail statt, der Mord, der im Zentrum des Buches Eight Bullets steht, das ich in der Hauptgeschäftsstelle des ATC gekauft hatte. Die Geschichte ist schnell erzählt. Im Mai 1988 erregten zwei junge Hiker, Rebecca Wight und Claudia Brenner, die zufällig auch lesbisch waren, die Aufmerksamkeit eines gestörten Mannes mit einem Gewehr, der aus der Ferne achtmal auf die beiden schoß, als sie auf einer laubübersäten Lichtung neben dem Trail miteinander schliefen. Wight wurde getötet. Claudia Brenner gelang es, schwer verwundet, den Hügel hinunterzulaufen, auf eine Straße, wo sie von Jugendlichen, die in einem Pick-up vorbeifuhren, gerettet wurde. Der Mörder wurde schnell gefaßt und verurteilt.
Im Jahr darauf wurden in einer Schutzhütte ein paar Kilometer nördlich von hier ein junger Mann und eine Frau von einem herumstreunenden Mann ermordet, was Pennsylvania für eine Weile einen schlechten Ruf einbrachte, aber dann kam es sieben Jahre lang zu keinen weiteren Morden entlang des AT, bis zu dem gewaltsamen Tod der beiden jungen Frauen kürzlich im Shenandoah National Park. Ihr Tod erhöhte die offizielle Zahl der Mordfälle auf neun – eine recht hohe Zahl für einen Wanderweg, daran gibt es nichts zu deuteln –, obwohl es in Wahrheit vermutlich mehr waren. Zwischen 1946 und 1950 verschwanden drei Personen während einer Wanderung durch ein relativ kleines Gebiet in Vermont, aber sie sind in der Zählung nicht berücksichtigt – ob das daran liegt, daß es so lange her ist oder weil nie abschließend geklärt wurde, ob sie ermordet wurden, kann ich nicht sagen. Ein Bekannter in New England erzählte mir außerdem von einem älteren Ehepaar, das in den 70er Jahren in Maine von einem Mann mit einer Axt umgebracht worden war, aber auch dieser Fall taucht in der Statistik nicht auf, denn offenbar befanden sich die beiden auf einem Nebenwanderweg, als sie angegriffen wurden.
Eight Bullets, Brenners Bericht über den Mord an ihrer Freundin, las ich in einer Nacht durch, mir waren also die Umstände im großen und ganzen bekannt, aber ich ließ das Buch absichtlich im Auto liegen, weil es mir irgendwie ein bißchen morbid vorkam, knapp zehn Jahre danach den genauen Ort des Geschehens zu suchen. Ich war durch die Lektüre nicht im geringsten in Angst versetzt worden, aber ich spürte dennoch ein leichtes Unbehagen, so ganz allein im stillen Wald, weit weg von zu Hause. Katz fehlte mir, sein Stöhnen und Schimpfen, seine durch nichts zu erschütternde Unerschrockenheit, und mir mißfiel der Gedanke, daß ich warten könnte, bis ich schwarz würde, wenn ich mich auf dem nächsten Stein niederlassen würde, damit er aufholen konnte: Katz würde nicht kommen. Der Wald stand jetzt in seiner ganzen chlorophyllgeschwängerten Pracht, was ihn noch bedrückender und geheimnisvoller machte. Häufig konnte man keinen Meter weit durch das dichte Laubwerk zu beiden Seiten des Wegs sehen. Wenn mir jetzt zufällig ein Bär entgegengekommen wäre, hätte ich ziemlich dumm dagestanden. Und es wäre auch kein Katz nach einer Minute zur Stelle gewesen, um dem Tier die Fresse zu polieren und zu mir zu sagen: »Meine Güte, Bryson, kannst du nicht selbst auf dich aufpassen?« Es würde überhaupt niemand vorbeikommen, an dem man sich abreagieren konnte. Wahrscheinlich gab es im Umkreis von 80 Kilometern keinen einzigen Menschen außer mir. Ich stapfte weiter, von leichter Unruhe ergriffen und kam mir vor wie jemand, der zu weit aufs Meer hinausgeschwommen ist.
Es waren 5,6 Kilometer bis zum Gipfel des Piney Mountain. Oben angekommen, stand ich unschlüssig herum. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich noch ein Stück weitergehen oder umkehren und einen anderen Weg probieren sollte. Es lag eine gewisse Hilflosigkeit und entmutigende Sinnlosigkeit in allem, was ich tat. Ich wußte längst, daß ich nicht den gesamten AT schaffen würde, aber erst jetzt dämmerte es mir, wie läppisch und aussichtslos es war, sich die Strecke häppchenweise vorzunehmen. Es war im Grunde egal, ob ich fünf, zehn oder 15 Kilometer weit ging. Wenn ich 15 Kilometer ging statt, sagen wir zehn - was hätte ich dabei gewonnen? Ganz sicher keinen Ausblick, keine Erfahrung, kein Erlebnis, das ich nicht bereits tausendfach gehabt hatte. Das ist das Problem beim AT – er ist ein weiter, unvorstellbar langer Weg, und es gab immer mehr, unendlich viel mehr Wegstrecke, als ich bewältigen konnte. Nicht, daß ich aufhören wollte. Im Gegenteil. Ich ging gern, ich war scharf aufs Gehen. Ich wollte nur wissen, was ich hier draußen eigentlich zu suchen hatte.
Während ich unentschlossen herumstand, hörte ich plötzlich ein trockenes Knacken in den Zweigen, wie eine unbedachte Bewegung im Unterholz, ungefähr 15 Meter von mir entfernt im Wald – es mußte ein ziemlich großes Tier sein, aber es war nicht zu sehen. Ich erstarrte, hörte auf zu atmen, zu denken, stellte mich auf Zehenspitzen und versuchte, zwischen den Blättern etwas zu erkennen. Wieder das Geräusch, diesmal näher. Was auch immer es verursachte, es kam direkt auf mich zu. Vor Angst leise wimmernd, lief ich ein paar hundert Meter; mein Tagesrucksack hüpfte auf und ab, Gläser klirrten, dann drehte ich mich um, mein Herzschlag setzte aus, und ich sah hinter mich. Ein Reh, ein großer Bock, schön und stolz, trat auf den Pfad, blickte mich einen Moment lang unverwandt an und trabte dann weiter. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich wieder Luft bekam, dann wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und fühlte mich vollkommen ernüchtert.
Irgendwann hat jeder Wanderer auf dem AT seinen persönlichen Tiefpunkt erreicht, für gewöhnlich dann, wenn der Wunsch aufzugeben geradezu überwältigend ist. Die Ironie in meinem Fall lag darin, daß ich auf den Trail zurück wollte, aber nicht wußte wie. Ich hatte nicht nur Katz verloren, meinen lustigen Gefährten, sondern meine ganz eigene Beziehung zum Trail. Mir war jeder Antrieb abhanden gekommen, das Gefühl für den Sinn und Zweck des Ganzen. Ich mußte wieder auf eigenen Füßen stehen, was ganz wörtlich gemeint war. Zu allem Übel zitterte ich jetzt auch noch vor Furcht, als wäre ich noch nie allein im Wald gewesen. Die ganzen Erfahrungen, die ich in den Wochen vorher auf dem Trail gesammelt hatte, machten es mir schwerer und nicht leichter, auf mich allein gestellt zu sein. Das hatte ich nicht erwartet. Es erschien mir nicht gerecht. Es stimmte irgendwie nicht. In niedergeschlagener Stimmung kehrte ich zu meinem Wagen zurück.
Ich verbrachte die Nacht in der Nähe von Harrisburg und fuhr am nächsten Morgen über Nebenstraßen in nördliche und östliche Richtung, quer durch den Bundesstaat. Ich hielt mich so dicht wie möglich an den Verlauf des Trail, blieb ab und zu stehen, um vor Ort ein Stück Weg zu gehen, entdeckte aber nichts, das irgendwie vielversprechend aussah, also fuhr ich die meiste Zeit.
Allmählich klangen die Ortsnamen unterwegs immer mehr wie in einem Industriegebiet – Port Carbon, Minersville, Slatedale. Ich hatte die eigentümliche, fast vergessene Welt des Kohlereviers von Pennsylvania erreicht. In Minersville bog ich in eine Nebenstraße und durchquerte eine Landschaft aus überwachsenen Abraumhalden und verrosteten Maschinen und fuhr bis nach Centralia, in die seltsamste, traurigste Stadt, die ich je gesehen habe.
Unter dem östlichen Teil Pennsylvanias liegen die reichsten Kohlenflöze der Welt. Bereits die ersten Europäer, die hier siedelten, erkannten, daß sich dort Kohle in unvorstellbaren Mengen befand. Es gab nur ein Problem: Es handelte sich fast ausschließlich um Anthrazitkohle, Steinkohle, eine Kohleart, die so ungemein hart ist – sie besteht zu 95 Prozent aus Kohlenstoff –, daß man lange Zeit rätselte, wie man sie ans Tageslicht befördern könnte. Erst 1823 kam ein erfinderischer Schotte namens James Neilson auf die geniale Idee, mittels eines Gebläses erhitzte statt kalte Luft in einen Eisenofen zu leiten. Das sogenannte Heißwindverfahren revolutionierte die Kohleindustrie auf der ganzen Welt (auch in Wales gab es viel Anthrazitkohle), aber besonders in den USA. Gegen Ende des Jahrhunderts produzierten die USA 270 Millionen Tonnen Kohle jährlich, annähernd so viel wie der Rest der Welt zusammengenommen, und der größte Teil davon kam aus der Kohleregion in Pennsylvania.
Mittlerweile hatte man dort auch Öl entdeckt, aber es wurde nicht nur entdeckt, sondern man fand auch Mittel und Wege, es industriell zu nutzen. Petroleum, auch Steinöl genannt, war schon seit langem eine Kuriosität im westlichen Pennsylvania. Es drang in Sickergruben an Flußufern an die Erdoberfläche, wo es mit Decken aufgefangen und zu Medikamenten verarbeitet wurde, die für ihre Wirksamkeit bei der Heilung aller möglichen Krankheiten, von Lymphknotentuberkulose bis Durchfall, geschätzt waren. Es war der rätselhafte Colonel Edwin Drake (der in Wahrheit gar kein Colonel, sondern pensionierter Lokomotivführer war, ohne jegliche geologische Kenntnisse) und sein unerschütterlicher Glaube daran, daß man das Öl aus dem Boden über Brunnen fördern könne, der 1859 die Entwicklung vorantrieb. In Titusville bohrte er ein 21 Meter tiefes Loch in die Erde und besaß damit die erste Springquelle der Welt. Schnell erkannte man, daß Petroleum nicht nur die Gedärme in Schach halten und die Krätze bannen konnte, sondern sich auch zu gewinnbringenden Produkten wie Paraffin und Kerosin verarbeiten ließ. Pennsylvania erlebte einen Aufschwung sondergleichen. In drei Monaten wuchs die Bevölkerung von Pithole City, so der liebevolle Spitzname, von Null auf 15.000, wie John McPhee in seinem Buch In Snspect Terrain schreibt. Noch einige andere Städte in der Region entstanden quasi über Nacht, zum Beispiel Oil City, Petroleum Center und Red Hot. John Wilkes Booth kam ebenfalls hierher und verlor sein erspartes Geld, dann zog er los und erschoß einen Präsidenten, aber andere blieben und machten ein Vermögen.
Ein quirliges halbes Jahrhundert lang besaß Pennsylvania praktisch ein Monopol auf eines der wertvollsten Produkte der Welt – Öl, und spielte eine beherrschende Rolle in der Förderung eines anderen Produkts, nämlich Kohle. Aufgrund der Nachbarschaft dieser beiden gewaltigen Brennstoffvorkommen entwickelte sich Pennsylvania zu einem Zentrum brennstoffintensiver Industriezweige wie Stahl und Chemie. Sehr viele Leute wurden unermeßlich reich.
Nur die Bergarbeiter nicht. Der Bergbau war schon immer und überall eine furchtbare Arbeit, aber nirgendwo war es so schlimm wie in Amerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dank ungehinderter Einwanderung standen Bergarbeiter in unbegrenzter Menge zur Verfügung. Als die Waliser zu aufsässig wurden, holte man Iren. Als die Iren nicht mehr zufriedenstellend arbeiteten, holte man Italiener, Polen oder Ungarn. Die Arbeiter wurden nach Tonnen bezahlt, was sie dazu antrieb, die Kohle mit leichtsinniger Eile herauszuhauen, und was selbstverständlich auch bedeutete, daß jeder Aufwand, der getrieben wurde, um die Arbeit sicherer oder bequemer zu gestalten, nicht entlohnt . wurde. Stollen wurden wild in die Erde getrieben, wie Löcher in Schweizer Käse, was häufig ganze Talregionen zum Absinken brachte. 1846 brachen in Carbondale Stollen auf einer Fläche von 20 Hektar ohne jede Vorwarnung mit einem Schlag zusammen, was Hunderte Menschenleben forderte. Explosionen und Brände waren an der Tagesordnung. Zwischen 1870 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ließen in amerikanischen Bergwerken 50.000 Arbeiter ihr Leben.
Die Ironie des Schicksals will es, daß Anthrazitkohle sehr schwer entflammbar ist, aber kaum zu löschen, wenn sie einmal brennt. Die Geschichten über unkontrollierte Grubenbrände im östlichen Pennsylvania sind Legion. Ein Feuer zum Beispiel brach 1850 in Lehigh aus und erlosch erst zur Zeit der Großen Depression, 80 Jahre nach seinem Ausbruch.
Und hier komme ich mit meiner Geschichte nach Centralia. Ein Jahrhundert lang war Centralia ein solides, beschauliches Bergarbeiterstädtchen. Wie schwer das Leben für die ersten Grubenarbeiter auch gewesen sein mag, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedenfalls war Centralia eine einigermaßen blühende, behagliche, betriebsame kleine Stadt mit knapp 2.000 Einwohnern. Die Stadt besaß ein belebtes Geschäftsviertel, mit Banken, Post und der üblichen Auswahl an Läden und kleinen Kaufhäusern, eine High School, vier Kirchen, einen Old Fellows Club, ein Rathaus – mit anderen Worten, es war eine typische, gemütliche, einigermaßen anonyme amerikanische Kleinstadt.
Leider hockte die Gemeinde aber auch auf über 30 Millionen Tonnen Anthrazitkohle. 1962 entzündete sich durch den Brand einer Müllhalde am Stadtrand ein Kohlenflöz. Die Feuerwehr verspritzte zigtausend Liter Wasser, aber jedesmal, wenn es so aussah, als sei das Feuer erloschen, flackerte es wieder auf – wie der beliebte Scherzartikel, diese Geburtstagskerzen, die man ausbläst und die sich einen Augenblick später von selbst wieder entflammen. Danach begann das Feuer, sich durch die unterirdischen Flöze zu fressen. Über ein ausgedehntes Gebiet stieg gespenstischer Rauch vom Boden auf, wie Dampf von einem See in der Morgendämmerung. Der Asphalt auf dem Highway 61 wurde so heiß, daß man ihn nicht berühren konnte, dann bekam die Decke Risse und senkte sich ab, so daß die Straße unpassierbar wurde. Die Zone, aus der der Rauch aufstieg, zog unter dem Highway durch und breitete sich in einem benachbarten Waldstück und weiter oben auf einem Hügel oberhalb der Stadt aus, wo die katholische Kirche St. Ignatius stand.
Das U.S. Bureau of Mines schickte Experten in das Gebiet, die alle möglichen Vorschläge machten – einen tiefen Graben quer durch die Stadt auszuheben, den Verlauf des Feuers durch Sprengungen abzulenken, das Flöz mit Druckwasser zu überfluten -aber schon die billigste Methode hätte mindestens 20 Millionen Dollar gekostet, ohne Garantie, daß sie auch funktionierte, und ohnehin sah sich niemand befugt, eine solche Summe auszugeben. Und so schwelte das Feuer langsam vor sich hin.
1979 stellte der Besitzer einer Tankstelle unweit des Stadtzentrums fest, daß die Temperatur in seinen unterirdischen Benzintanks bei fast 80 Grad Celsius lag. In den Boden versenkte Sensoren zeigten an, daß die Temperatur vier Meter unterhalb des Tanklagers 500 Grad Celsius betrug. Hausbesitzer klagten über heiße Kellerwände und -böden. Mittlerweile stieg in der gesamten Stadt Rauch aus der Erde auf, und die Menschen litten aufgrund des überhöhten Kohlendioxydgehalts in ihren eigenen vier Wänden zunehmend unter Brechreiz und Schwindelanfällen. 1981 spielte ein zwölfjähriger Junge im Garten seiner Großmutter, als vor ihm eine Rauchfahne erschien. Er starrte sie fasziniert an, als sich plötzlich unter ihm der Boden auftat. Er klammerte sich an eine Baumwurzel und schrie um Hilfe, bis jemand kam und ihn herauszog. Das Loch war 24 Meter tief. Innerhalb weniger Tage kam es im gesamten Stadtgebiet zu ähnlichen Bodenabsenkungen. Erst jetzt fingen die Menschen an, ernsthaft etwas gegen das Feuer zu unternehmen.
Die Regierung initiierte ein 42-Millionen-Dollar-Programm zur Evakuierung der Stadt. Sobald die Bewohner weg waren, wurden ihre Häuser mit Planierraupen plattgemacht, der Schutt samt und sonders weggeräumt, bis fast keine Gebäude mehr übrig waren. Centralia ist heute nicht einmal mehr eine Geisterstadt. Es ist ein großer, freier Platz, ein Netz leerer Straßen, hier und da noch mit Parkverbotsschildern und Hydranten versehen, was surreal anmutet. Etwa alle zehn Meter befindet sich eine sauber asphaltierte Einfahrt, die 15, 20 Meter ins Nichts führt. Verstreut stehen noch ein paar Häuser im Gelände – bescheidene, schmale Holzkonstruktionen, die von Stützpfeilern aus Stein zusammengehalten werden – und ein paar Gebäude im ehemaligen Geschäftsviertel.
Ich stellte meinen Wagen vor einem Gebäude ab, an dem ein verblaßtes Schild mit der pompösen Aufschrift »Centralia Grubenbrand-Projektbüro, Sanierungsgesellschaft Columbia« hing. Der Eingang und die Fenster waren mit Brettern vernagelt, und das Haus selbst sah aus, als drohte es jeden Moment einzustürzen. Nebenan stand noch ein Haus, in einem besseren Zustand, Speed Stop Car Parts stand darauf, davor eine tiptop gepflegte Grünanlage, mit Fahnenmast, an dem das Sternenbanner wehte. Das Geschäft war offenbar immer noch in Betrieb, aber innen brannte kein Licht, und es war niemand da. Es war überhaupt kein Mensch zu sehen – wie mir jetzt auffiel –, nicht ein einziges Geräusch zu hören, außer dem Klirren eines Eisenrings, der gegen den Fahnenmast schlug. Auf den freien Grundstücken befanden sich hier und da Metallröhren, die wie Ölfässer in die Erde hinabgelassen worden waren und leise Rauch absonderten.
Oben auf einem sanft ansteigenden Hügel, der sich über die Breite mehrerer abgeräumter Grundstücke erstreckte, stand eine ziemlich große moderne Kirche in eine weiße Rauchglocke gehüllt, vermutlich St. Ignatius. Ich stieg hinauf. Die Kirche sah durchaus noch stabil und benutzbar aus, die Fenster waren nicht vernagelt, und ich sah auch kein Schild »Betreten verboten«. Der Eingang war verschlossen, und es gab keine Informationstafel mit den Anfangszeiten der Gottesdienste oder dergleichen, nicht mal der Name der Kirche und ihre Konfession standen angeschlagen. Drumherum qualmte der Boden, und auf der Rückseite quollen auf einer großen Fläche ganze Rauchschwaden aus der Erde. Ich durchschritt das Gelände und fand mich am Rand eines riesigen Kessels wieder, etwa halb so groß wie ein Fußballfeld, der dicken, wolkenartigen, hellweißen Rauch ausstieß, wie er beim Verbrennen von Autoreifen oder alten Decken entsteht. Ich konnte in der dicken Suppe unmöglich erkennen, wie tief das Loch war. Der Boden fühlte sich warm an und war mit einer feinen Ascheschicht bedeckt.
Ich begab mich wieder zum Eingang der Kirche. Eine schwere, querstehende Straßensperre blockierte die Zufahrt zu der alten Straße, und ein neuer Highway führte über einen Nachbarhügel um die Stadt herum. Ich stieg über die Straßensperre und ging ein Stück den alten Highway 61 entlang. Unkraut wuchs in Büscheln hier und da aus der Asphaltdecke hervor, aber die Straße an sich sah noch immer befahrbar aus. Zu beiden Seiten qualmte das Land auf unübersichtlicher Fläche düster vor sich hin, wie nach einem Waldbrand. Ungefähr 50 Meter weiter war in der Mitte der Straße ein gezackter Riß zu sehen, der rasch zu einer breiten Spalte wurde, aus der noch mehr Qualm aufstieg. An manchen Stellen der Spalte war die Fahrbahn auf einer Seite 30 bis 40 Zentimeter tief abgesunken oder hatte sich zu einer rinnenartigen Vertiefung verformt. Ab und an schaute ich in die Spalte hinunter, konnte aber wegen des Rauchs, der sich als unangenehm beißend und schwefelhaltig erwies, als eine Windböe ihn mir ins Gesicht wehte, nicht sehen, wie tief sie reichte.
Ich ging eine Weile an der Spalte entlang, untersuchte sie mit ernster Miene, wie ein Ingenieur vom Straßenbauamt, bevor mein Blick ziellos umherschweifte und mir dämmerte, daß ich mich mitten, geradezu im Zentrum einer unentwegt qualmenden Landschaft befand, auf einer vermutlich hauchdünnen Asphaltdecke, über einem brennenden Feuer, das seit 35 Jahren außer Kontrolle war. Sich ausgerechnet an diesen Ort in ganz Amerika zu begeben zeugt nicht gerade von besonderer Klugheit. Vielleicht war es nur meine buchstäblich erhitzte Phantasie, jedenfalls erschien mir der Boden plötzlich ausgesprochen schwammig und elastisch, als würde ich auf einer Matratze gehen. Ich machte rasch wieder kehrt und lief zu meinem Wagen zurück.
Wenn ich so darüber nachdenke, erscheint es mir merkwürdig, daß jeder Verrückte, ich eingeschlossen, in einem so offenkundig gefährlichen und instabilen Ort wie Centralia mit dem Auto spazierenfahren und sich alles ansehen kann, aber es gab nichts, das einen davon abgehalten hätte herumzustreunen. Noch merkwürdiger fand ich allerdings, daß Centralia nicht vollständig evakuiert worden ist. Diejenigen, die nicht wegziehen mochten und mit der Gefahr leben wollten, daß ihr Haus eines Tages von der Erde verschluckt würde, durften bleiben, und einige hatten sich offenbar dafür entschieden. Ich fuhr mit dem Auto zu einem einsamen Haus mitten im ehemaligen Stadtzentrum. Das in einem blassen Grün gestrichene Haus war gepflegt und gut erhalten. Gespenstisch. Auf einer Fensterbank standen eine Vase mit künstlichen Blumen und anderer Nippes. Vor der frisch gestrichenen Veranda befand sich ein Beet mit Ringelblumen, allerdings stand kein Auto in der Einfahrt, und niemand öffnete auf mein Klingeln die Haustür.
Mehrere andere Gebäude stellten sich bei näherem Hinsehen als unbewohnt heraus. An zwei Häusern waren Fenster und Türen mit Brettern vernagelt, und es hingen Schilder dran, »Achtung! Betreten verboten!«. In fünf, sechs anderen Häusern, darunter drei kleine Reihenhäuser am Ende des Stadtparks, lebten offensichtlich noch Menschen, in einem Vorgarten lag sogar Kinderspielzeug (wer um Himmels willen möchte hier Kinder großziehen?). Aber nirgends reagierte jemand auf mein Klingeln. Entweder waren alle in der Arbeit oder lagen, wie ich vermutete, längst mausetot in der Küche. Bei einem Haus, an dem ich klingelte, bewegte sich eine Gardine, wie ich mir einbildete, aber ich war mir nicht sicher. Wer weiß, wie gestört die Leute sind, nachdem sie 30 Jahre auf einem Inferno gelebt und Unmengen von CO2 inhaliert haben, beziehungsweise wie genervt von Fremden, die fröhlich an ihre Tür klopften und ihre Stadt als Kuriosum betrachteten. Insgeheim war ich erleichtert, daß niemand auf mein Klingeln reagierte, denn mir wäre ums Verrecken keine Frage eingefallen, mit der ich ein Gespräch hätte beginnen können.
Es war bereits nach Mittag, ich fuhr daher die restlichen acht Kilometer nach Mt. Carmel, der nächsten Stadt, mit dem Auto. Mt. Carmel war eine kleine Überraschung nach Centralia – ein lebendiges Städtchen, angenehm altmodisch, mit Verkehr auf der Main Street, Bürgersteigen voller Einkäufern und anderen Bewohnern der Stadt, die ihren Geschäften nachgingen. Ich aß im Academy Luncheonette and Sporting Goods Store zu Mittag (vermutlich der einzige Ort in ganz Amerika, an dem man beim Verzehr seines Thunfisch-Sandwichs eine Auswahl von Suspensorien bewundern kann) und hatte vor, anschließend meine Suche nach dem AT fortzusetzen. Auf dem Weg zum Auto kam ich jedoch an der Stadtbücherei vorbei, ging spontan hinein und erkundigte mich, ob es irgendwelches Material über Centralia gäbe.
Es gab reichlich Material – drei dicke Aktenordner, prallvoll mit Zeitungsausschnitten, die meisten aus der Zeit von 1979 bis 1981, als Centralia für kurze Zeit landesweites Interesse hervorrief, besonders nachdem der kleine Junge, ein gewisser Todd Dombowski, im Garten seiner Oma beinahe vom Erdboden verschluckt worden wäre.
Darüber hinaus gab es noch ein schmales gebundenes Bändchen, eine Geschichte Centralias, das, aus heutiger Sicht nicht ohne Pikanterie, aus Anlaß der Hundertjahrfeier der Stadt kurz vor Ausbruch des Feuers in Auftrag gegeben worden war. Es war reich bebildert, lauter Fotos, die eine Stadt zeigten, in der lebhaftes Treiben auf den Straßen herrschte, nicht viel anders als das, was sich vor den Toren der Bücherei abspielte, mit dem Unterschied, daß alles etwas über 30 Jahre zurücklag. Ich hatte vergessen, wie entrückt die 60er Jahre bereits waren. Die Männer auf den Fotos trugen Hüte, die Frauen und Mädchen weite, ausgestellte Röcke. Sie wirkten alle unbekümmert, denn natürlich ahnte niemand, daß ihre hübsche, unbekannte kleine Stadt dem Untergang geweiht war. Es fiel mir schwer, die Lebendigkeit, die auf diesen Fotos zum Ausdruck kam, mit dem öden Ort, den ich gerade verlassen hatte, in Verbindung zu bringen.
Als ich alles wieder in den Aktenordner einlegte, fiel ein Zeitungsausschnitt zu Boden, ein Artikel aus Newsweek. Ein kurzer Absatz am Ende des Textes war unterstrichen und am Rand mit drei Ausrufezeichen versehen. Ein Mitarbeiter der Brandbekämpfung wurde mit den Worten zitiert, wenn das Feuer gleichmäßig weiterschwele, reiche die Kohle unter Centralia noch für 1.000 Jahre.
Ein paar Kilometer von Centralia entfernt liegt ein weiterer, eindrucksvoller Ort der Verwüstung, von dem ich zufällig erfahren hatte und den ich unbedingt aufsuchen wollte – ein Berghang im Lehigh Valley, der durch die Hinterlassenschaften einer Zinkhütte so gründlich verschmutzt worden war, daß dort kein Grashalm mehr wuchs. John Connolly hatte mir von dem Berg erzählt und gesagt, er befände sich unweit von Palmerton, und so begab ich mich am nächsten Tag dorthin. Palmerton war eine ziemlich große Stadt, schmutzig, mit viel Industrie, aber nicht ohne gewissen Reiz – ein paar städtische Bauten der Jahrhundertwende, die dem Ort etwas Würdevolles verliehen, ein behäbiger Platz im Zentrum, und ein Einkaufsviertel, das eindeutig krisengeschüttelt war, aber den Widrigkeiten mutig trotzte. Überall im Hintergrund dominierten große Fabrikanlagen, die wie Gefängnisse aussahen und anscheinend alle geschlossen waren. An einem Ende der Stadt fand ich, weswegen ich hergekommen war – eine steile, breite kahle Erhebung, ungefähr 450 Meter hoch und einige Kilometer lang, auf der keine Vegetation zu erkennen war. Neben der Straße war ein Parkplatz, ein paar hundert Meter davon entfernt eine Fabrik. Ich bog auf den Parkplatz ein, stieg aus und staunte – es war ein überwältigender Anblick.
Im selben Moment trat ein dicker uniformierter Mann aus einem Wachhäuschen und watschelte mit mürrischer Miene diensteifrig auf mich zu.
»Was haben Sie hier zu suchen?« schnauzte er mich an.
»Wie bitte?« erwiderte ich betroffen, und dann: »Ich sehe mir den Berg an.«
»Das dürfen Sie nicht.«
»Man darf sich diesen Berg nicht ansehen?«
»Jedenfalls nicht hier. Das ist Privatgelände.«
»Entschuldigung. Das habe ich nicht gewußt.«
»Es ist trotzdem Privatgelände, wie auf dem Schild da zu lesen ist.« Er wies auf einen Pfosten, an dem überhaupt kein Schild hing, und war für einen Moment ganz verdattert. »Ist trotzdem Privatgelände«, fügte er hinzu.
»Entschuldigung. Das habe ich nicht gewußt«, wiederholte ich, noch ohne wirklich begriffen zu haben, wie ernst der Mann seinen Job nahm. Ich bestaunte weiterhin den Berg. »Ist das nicht ein sagenhafter Anblick?« sagte ich.
»Was?«
»Der Berg. Nicht ein einziger Grashalm ist zu erkennen.«
»Kann ich nichts zu sagen. Ich werde nicht dafür bezahlt, mir Berge anzuschauen.«
»Sollten Sie ab und zu mal tun. Sie wären erstaunt, was Sie da zu sehen bekämen. Das da drüben ist dann wohl die Zinkfabrik, oder?« sagte ich und deutete mit einem Kopfnicken auf den Gebäudekomplex hinter seinem Rücken.
Er musterte mich mißtrauisch. »Wieso wollen Sie das wissen?«
Ich erwiderte seinen Blick. »Weil ich Zink brauche«, entgegnete ich.
Er sah mich von der Seite an, als wollte er sagen: Klugscheißer, was? Statt dessen sagte er plötzlich entschlossen: »Ich notiere mir mal lieber Ihren Namen.« Umständlich zog er ein Notizbuch und einen Bleistiftstummel aus der Gesäßtasche.
»Nur, weil ich Sie gefragt habe, ob das die Zinkfabrik ist?«
»Weil Sie Privatgelände betreten haben.«
»Ich wußte nicht, daß es Privatgelände ist. Da steht ja nicht mal ein Hinweisschild.«
Er hielt den Stummel schreibbereit. »Name?«
»Machen Sie sich nicht lächerlich.«
»Sie haben Privatgelände betreten, Sir. Wollen Sie mir jetzt bitte Ihren Namen sagen?«
»Nein.«
In dem Stil ging es etwa eine Minute lang hin und her, schließlich schüttelte er mit bedauerlicher Miene den Kopf und meinte: »Ganz wie Sie wollen.« Er holte ein Funkgerät, zog die Antenne raus und schaltete es ein. Zu spät war mir klargeworden, daß er während vieler, langer ereignisloser Wachschichten in seinem kleinen Glaskasten von so einem Moment geträumt haben mußte.
»J. D.?« sagte er in das Funkgerät. »Luther hier. Hast du die Parkkralle dabei? Ich stehe hier mit einem Einbrecher auf Parzelle A.«
»Was machen Sie da?« fragte ich.
»Ich beschlagnahme Ihr Fahrzeug.«
»Ich bitte Sie. Ich habe doch nur kurz angehalten. In Ordnung, ich fahre ja schon.«
Ich stieg ein, ließ den Motor an und fuhr los, aber der Mann versperrte mir den Weg. Ich beugte mich aus dem Fenster. »Würden Sie bitte beiseitetreten?« rief ich, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Er stand mit dem Rücken zu mir, die Arme verschränkt, und schenkte mir keine Beachtung. Ich hupte leise, aber er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ich steckte wieder den Kopf durchs Fenster und sagte: »Also gut, ich sage Ihnen meinen Namen, wenn es unbedingt sein muß.«
»Zu spät.«
»Meine Güte«, murmelte ich, und dann, wieder durchs Fenster, sagte ich »Bitte«, danach nochmal, diesmal flehentlicher: »Ich bitte Sie, wirklich«, aber er hatte sich nun einmal entschieden und war durch nichts davon abzubringen. »Stand in der Stellenausschreibung: Arschloch gesucht, oder haben Sie dafür extra einen Lehrgang besucht?« Dann stieß ich noch ein schlimmes Schimpfwort aus, blieb sitzen und kochte innerlich.
Eine halbe Minute später fuhr ein Wagen vor, und ein Mann mit Sonnenbrille stieg aus. Er trug die gleiche Uniform wie der Dicke, aber er war zehn, 15 Jahre älter und sehr viel schlanker. Er hatte das Gebaren eines Ausbildungsoffiziers.
»Was gibt’s?« fragte er, von einem zum anderen blickend.
»Vielleicht können Sie mir weiterhelfen«, sagte ich im süßlichen Tonfall bedingungsloser Einsicht. »Ich suche den Appalachian Trail. Und dann sagt mir dieser Herr hier, ich sei auf Privatgelände eingedrungen.«
»Er hat sich den Berg angesehen, J. D.«, widersprach der Dicke hitzig, aber J. D. hob abwehrend die Hand und wandte sich dann mir zu.
»Sind Sie Wanderer?«
»Ja, Sir«, sagte ich und zeigte auf meinen Rucksack auf dem Rücksitz. »Ich wollte nur nach dem Weg fragen, und ehe ich mich’s versah« – ich stieß ein gespielt erschrockenes Lachen aus –, »kommt der Herr da an und sagt, ich befände mich auf Privatgelände, und er müsse meinen Wagen beschlagnahmen.«
»J. D. der Mann hat sich den Berg angeschaut und Fragen gestellt.« J. D. hielt diesmal die andere Hand abwehrend hoch.
»Wo wollen Sie denn wandern?«
Ich sagte es ihm.
Er nickte. »Gut. Dann fahren Sie ungefähr sechs Kilometer geradeaus auf dieser Straße weiter bis Little Gap und biegen da rechts nach Danielsville ab. Oben auf dem Hügel kreuzt der Trail die Straße. Das können Sie gar nicht verfehlen.«
»Vielen Dank.«
»Keine Ursache. Frohes Wandern noch!«
Ich bedankte mich noch mal wortreich und brauste davon. Im Rückspiegel sah ich mit Genugtuung, daß er Luther zurechtwies, ruhig aber bestimmt – und damit drohte, wie ich stark hoffte, ihm das Funkgerät abzunehmen.
Die Straße führte steil bergauf bis zu einer einsamen Paßhöhe, wo sich ein mit Schotter befestigter Parkplatz befand. Ich stellte den Wagen ab, fand den AT und folgte ihm auf einem hohen, freiliegenden Grat, durch ein unvorstellbar verwüstetes Gelände. Kilometerweit nur kahle Landschaft, hier und da die dürren Stämme abgestorbener Bäume, einige konnten sich noch aufrechthalten, aber die meisten waren eingeknickt. Die Szenerie erinnerte unweigerlich an ein Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs nach schwerem Artilleriebeschuß. Der Boden war mit einem sandigen schwarzen Staub bedeckt, der aussah wie Eisenspäne.
Das Gehen fiel ungewöhnlich leicht – der Grat war fast vollkommen flach – und das Fehlen jeglicher Vegetation erlaubte einen ungehinderten Ausblick. Die Bäume auf allen anderen Bergen der nahen Umgebung, einschließlich der Hügel direkt gegenüber, auf der anderen Seite des schmalen Tals, waren, soweit man erkennen konnte, in gesundem Zustand, außer an den Stellen, wo der Berg durch Steinbrüche oder Tagebau verunstaltet oder ausgehöhlt worden war. Ich ging etwas länger als eine Stunde, bis ich zu einem jähen, irrsinnig steilen Abstieg nach Lehigh Gap gelangte – 300 Meter in die Tiefe. Ich hatte eigentlich noch gar keine Lust, für heute Schluß zu machen, im Gegenteil, ich war gerade erst so richtig in Fahrt gekommen, aber die Vorstellung, 300 Meter abzusteigen, nur um unten umzukehren und wieder hochzuklettern, hatte nicht den geringsten Reiz, und es gab auch keinen anderen Rückweg, der nicht stundenlanges Marschieren an einem verkehrsreichen Highway bedeutet hätte. Genau das ist eben das Problem, wenn man den AT in Tagesetappen abwandert: Er ist so angelegt, daß man weitergeht, immer weiter, nach vorn und nicht Stippvisiten absolviert, mal hier, mal da.
Seufzend machte ich kehrt und ging denselben Weg zurück, den ich gekommen war, in einer der Landschaft angepaßten Laune. Es war fast vier Uhr, als ich den Parkplatz erreichte, zu spät, um noch einen anderen Abschnitt des Trails auszuprobieren. Der Tag war so gut wie gelaufen. Ich hatte 560 Kilometer zurückgelegt, um hierher nach Pennsylvania zu kommen, hatte vier quälend lange Tage in diesem Bundesstaat zugebracht und war unterm Strich 17 Kilometer des Appalachian Trail abgegangen. Nie wieder, schwor ich mir, nie wieder würde ich versuchen, mit dem Auto an den Appalachian Trail heranzufahren und ihn in Etappen zu wandern.