15. Kapitel

 

Früher, vor Jahrmillionen, konnten es die Appalachen in ihrem Ausmaß und ihrer Erhabenheit durchaus mit dem Himalaja aufnehmen – wie Pfeilspitzen, schneebedeckt, die Wolkendecke durchstoßend, ragten sie atemberaubende 6.000 Meter und höher auf. Mount Washington in New Hampshire bietet immer noch einen eindrucksvollen Anblick, die Gesteinsmasse, die sich heute aus den Wäldern New Englands erhebt, stellt jedoch bestenfalls das rumpfartige untere Drittel dessen dar, was vor zehn Millionen Jahren hier stand.

Die Appalachen haben heute eine bescheidenere Gestalt, weil ihnen sehr viel Zeit zur Verfügung stand, um sich abzuschleifen, Sie sind unvorstellbar alt, älter als die Meere und Kontinente, jedenfalls in ihrer heutigen Ausprägung, und sie sind weitaus älter als die meisten anderen Bergketten, sogar älter als fast alle anderen landschaftlichen Merkmale der Erde. Die Appalachen standen schon zur Begrüßung bereit, als einfachste Pflanzenformen die Erde besiedelten und die ersten Tiere nach Luft schnappend aus dem Meer an Land krochen.

Vor etwa einer Milliarde Jahren waren die Kontinente der Erde eine einzige Landmasse. Sie bildeten den Urkontinent Pangäa, umgeben vom Urozean, dem Panthalassischen Meer. Eine unerklärliche Erschütterung des Erdmantels führte dazu, daß die Landmasse zerbrach und die einzelnen asymmetrischen Blöcke auseinanderdrifteten. Von Zeit zu Zeit im Laufe von Jahrmillionen – bisher insgesamt dreimal – vollzogen die Kontinente eine Art Wiedervereinigung, trieben zurück an einen zentralen Ort und stießen dabei sehr langsam, aber doch mit zerstörerischer Wucht zusammen. Bei der dritten Kollision, die vor 470 Millionen Jahren passierte, wurden die Appalachen aus der Erdmasse herausgedrückt, wie ein Falten werfender Teppich, um einen immer wieder bemühten Vergleich zu benutzen. 470 Millionen Jahre sind eine Zeitspanne, die über den menschlichen Verstand hinausgeht, aber wenn man sich vorstellt, man flöge in der Zeit rückwärts, mit einer Geschwindigkeit von einem Jahr pro Sekunde, dann brauchte man 16 Jahre, um diese Zeitspanne zu überwinden. Das ist doch ziemlich lange, würde ich sagen.

Die Kontinente haben sich nicht einfach wie bei einem Square Dance in Zeitlupe aufeinander zu und wieder voneinander weg bewegt, sondern sie drehten sich träge im Kreis, wechselten die Richtung, begaben sich auf weite Reisen in die Tropen, zu den beiden Polen, begegneten unterwegs kleineren Landmassen und nahmen diese gleich mit. Florida gehörte einst zu Afrika. Eine Ecke von Staten Island ist, geologisch gesehen, ein Teil Europas. Die Meeresküste von New England bis Kanada scheint ursprünglich aus Marokko zu stammen. Teile von Grönland, Irland, Schottland und Skandinavien sind aus dem gleichen Gestein wie der Osten der USA – im Grunde versprengte Vorposten der Appalachen. Es gibt sogar Vermutungen, daß selbst so ferne Berge wie die Shackleton Range in der Antarktis ein Bruchstück aus der Familie der Appalachen ist.

Die Appalachen bildeten sich in drei langen Phasen heraus -ein Vorgang, den man in der Geologie Orogenese nennt: die takonische, die akadische und die alleghenische Phase. Die ersten beiden zeichnen im wesentlichen für den nördlichen Abschnitt der Appalachen verantwortlich, die dritte für die Mitte und den südlichen Teil. Bei der Berührung oder gar dem Zusammenstoß der Kontinente rutschte manchmal eine Kontinentalplatte über die andere, schob den Meeresboden vor sich her und gestaltete somit das Gelände landeinwärts auf einem Streifen von 200 bis 300 Kilometern vollkommen um. In anderen Fällen tauchte die eine Platte unter die andere und hob den Mantel auf, die Folge waren langanhaltende Perioden vulkanischer Aktivitäten und Erdbeben. Manchmal wurden bei den Kollisionen Gesteinsschichten durchstoßen, als würden Karten neu gemischt.

Die Versuchung liegt nahe, sich diesen Vorgang als gigantischen Zusammenstoß zweier Autos vorzustellen, aber natürlich geschah das alles mit unendlicher Langsamkeit. Der protoatlantische Ozean, der Urozean, der während einer der ersten Spaltungen der Landmasse den Raum zwischen den Kontinenten ausfüllte, sieht auf den Darstellungen der meisten Lehrbücher immer wie eine zufällige Pfütze aus – in Abbildung 9A noch vorhanden, in Abbildung 9B verschwunden, als wäre für einen Tag die Sonne herausgekommen und hätte das Wasser verdunsten lassen –, dennoch existierte er viel länger, 100 Millionen Jahre länger als der Atlantische Ozean, so wie wir ihn kennen. Das gleiche gilt für die Entstehung der Berge. Würde man sich in eine der Phasen der Gebirgsbildung der Appalachen zurückversetzen, würde man auch nicht merken, daß große geologische Veränderungen vor sich gingen, genauso wenig wie wir heute spüren, daß Indien sich in einen Teil Asiens bohrt – wie ein Lastwagen, der sich selbständig gemacht hat, in eine Schneeverwehung – und den Himalaja Jahr für Jahr um etwa einen Millimeter anhebt.

Kaum waren die Berge aufgetürmt, fingen sie auch schon ebenso unvermeidlich an zu erodieren. Trotz ihrer scheinbaren Beständigkeit sind Berge höchst vergängliche landschaftliche Merkmale. In seinem Buch Physik in der Berghütte: Von Gipfeln, Gletschern und Gesteinen rechnet der Autor und Geologe James S. Trefil vor, daß ein durchschnittlicher Gebirgsbach jährlich 28 Kubikmeter Bergmasse abträgt, meist in Form von Sandgranulat und anderen Schwebepartikeln. Das entspricht ungefähr der Lademenge eines durchschnittlichen Muldenkippers – nicht allzu viel. Man stelle sich vor, so ein Kipper führe einmal im Jahr am Fuß eines Berges vor, nähme eine einzige Ladung auf, führe davon und käme erst nach zwölf Monaten wieder. Bei dem Tempo erscheint es fast unmöglich, einen ganzen Berg auf diese Weise abzutragen – steht jedoch genügend Zeit zur Verfügung, geschieht genau das. Angenommen, der Berg ist 1.500 Meter hoch und hat eine Gesteinsmasse von 14 Milliarden Kubikmetern – das entspricht ungefähr der Größe des Mount Washington – dann könnte ein einziger Gebirgsbach ihn in 500 Millionen Jahren dem Erdboden gleichmachen.

Natürlich gibt es in den meisten Gebirgen mehrere Bäche darüber hinaus sind Berge noch einer breiten Palette anderer Faktoren ausgesetzt, die zu einer Reduzierung ihrer Masse führen, angefangen bei den säurehaltigen Sekreten von Flechten – geringe Mengen, die aber sehr wirkungsvoll sind – bis hin zum Abrieb durch Eisschichten. Die meisten Berge verschwinden daher sehr viel schneller, ungefähr in zwei statt in 500 Millionen Jahren. Gegenwärtig schrumpfen die Appalachen durchschnittlich um 0,03 Millimeter pro Jahr. Sie haben diesen Zyklus mindestens schon zweimal durchlaufen, wahrscheinlich aber sogar mehr als zweimal – erst zu enormen Höhen erhoben, dann auf Null abgetragen und anschließend wieder erhoben, wobei die Komponenten, aus denen sie sich zusammensetzten, jedesmal in einem äußerst komplizierten geologischen Verfahren recycelt wurden.

Die Details dieser Entwicklung sind reine Theorie, versteht sich. Nur sehr wenig gilt als allgemein gesicherte Erkenntnis. Manche Wissenschaftler sind der Ansicht, die Appalachen hätten noch eine frühere, vierte Gebirgsbildungsphase durchlaufen, die Grenville Orogenese, und daß es davor noch mehr gegeben haben könnte. Ebenso kann sich Pangäa nicht nur dreimal aufgespalten und wieder vereinigt haben, sondern ein dutzend- oder vielleicht hundertmal. Darüber hinaus gibt es einige Ungereimtheiten in dieser Theorie, allen voran die Tatsache, daß kaum direkte Hinweise auf eine Kollision der Kontinentalplatten existieren, was seltsam, ja unerklärlich ist, wenn man davon ausgeht, daß sich mindestens drei Kontinente über einen Zeitraum von 150 Millionen Jahren mit enormen Kräften ihren jeweiligen Plattenrand abgeschliffen haben. Zu erwarten wäre eine Art Nahtstelle, eine Schicht von Schrammspuren, die sich an der östlichen Meeresküste der Vereinigten Staaten befinden müßte. Diese Schicht gibt es jedoch nicht.

Ich bin kein Geologe. Man braucht mir nur ein ungewöhnliches Stück Grauwacke oder einen hübschen Brocken Gabbro zu präsentieren, und ich betrachte ihn andachtsvoll und höre mir höflich die dazugehörigen Erläuterungen an, aber eigentlich sagen sie mir überhaupt nichts. Wenn man mir erklärt, das sei früher einmal Schlick auf dem Meeresboden gewesen, der durch einen unglaublichen, fortlaufenden Prozeß tief ins Erdinnere gedrückt, dort Millionen Jahre geknetet, gebacken und anschließend an die Oberfläche geschleudert worden sei, was die herrlichen Furchen, die leuchtenden, vitrophyrischen Kristalle und das schuppige, biotische Glimmern erkläre, kann ich nur antworten: »Meine Güte! Sagen Sie bloß!« Aber ich könnte nicht behaupten, daß ich dabei irgend etwas Spektakuläres empfinden würde.

Nur gelegentlich ist mir ein Einblick in die Wunderwelt der Geologie vergönnt. Delaware Water Gap ist ein solcher Ort. Hier ragt der Kittatinny Mountain über dem ruhigen Delaware River auf, eine Wand aus Stein, 400 Meter hoch, aus widerstandsfähigem Quarzit, der freigelegt wurde, als sich der gleichmäßige, gemächliche Wasserlauf auf seinem Weg zum Meer eine Passage durch weicheres Gestein suchte. Das Ergebnis ist ein Querschnitt durch einen Berg und ein Anblick, den man nicht alle Tage geboten bekommt, jedenfalls -wüßte ich nicht, wo man so etwas entlang des Appalachian Trail sonst noch bewundern könnte. Und dieser hier ist besonders eindrucksvoll, weil der freigelegte Quarzit in langen, wellenförmigen Streifen angeordnet ist, die in einem so schrägen Winkel zueinander liegen – etwa 45 Grad - daß selbst ein mit bescheidener Phantasie ausgestatteter Mensch begreift, daß sich hier etwas Grandioses zugetragen hat, geologisch gesehen.

Es ist ein wunderschöner Anblick. Vor 100 Jahren wurde er mit dem Rhein verglichen und sogar mit den Alpen, was ich ein wenig übertrieben finde. Der Maler Georges Innes kam hierher und malte sein berühmtes Bild »Delaware Water Gap«. Es zeigt den Fluß, der sich träge durch wiesenartige Felder schlängelt, in denen vereinzelt Bäume und Farmhäuser stehen; fern im Hintergrund ragen herbstlich gefärbte Hügel auf, in die ein V eingekerbt ist, durch das der Delaware fließt. Es sieht aus wie eine Landschaft in Yorkshire oder Cumbria, die auf den amerikanischen Kontinent verpflanzt worden ist. Um die Mitte des letzten Jahrhunderts erhob sich ein stolzer Bau am Flußufer, das Hotel Kittatinny House mit 250 Zimmern, das so erfolgreich war, daß sehr schnell weitere Hotels folgten. Für die Dauer einer Generation nach dem Bürgerkrieg war der Delaware Water Gap der beliebteste Ferienort der feineren Gesellschaft im Sommer. Dann wechselte – wie immer in solchen Fällen – die Mode, und die White Mountains waren angesagt, danach die Niagara-Fälle, dann die Catskills und schließlich die Disney Parks. Heute kommt fast niemand mehr nach Water Gap, um ein paar Tage zu bleiben. Noch immer drängen sich Menschenmassen hier, aber sie kommen mit Autos, halten an einem Rastplatz an, werfen kurz einen anerkennenden Blick auf die Sehenswürdigkeit, steigen wieder ein und fahren weiter.

Leider muß man sich heute schon sehr anstrengen, um eine Vorstellung von der stillen Schönheit zu ergattern, die Innes einst so angezogen hat. Water Gap ist nicht nur die einzige Attraktion im Osten Pennsylvanias, die man als spektakulär bezeichnen könnte, Water Gap ist in der Region der Poconos auch die einzige Lücke in den Appalachen, die sich dem Verkehr bietet. Folglich ist dieser schmale Landsockel vollgestopft mit Bundes- und Landstraßen, einer Eisenbahnlinie und einem Interstate Highway mit einer langen, phantasielosen Betonbrücke, über die ein endloser Strom von Lastwagen und Autos zwischen Pennsylvania und New Jersey hin und her fließt. McPhee hat in dem Buch In Suspect Terrain ein passendes Bild dafür gefunden: »Hier laufen Röhren zusammen, die zu einem Patienten auf einer Intensivstation führen.«

Trotz alledem – Kittatinny Mountain, wie er sich auf der Seite von New Jersey über den Fluß erhebt, ist ein unwiderstehlicher Anblick, und man kann – das heißt, ich konnte es nicht, und schon gar nicht an jenem Tag – den Wunsch, ihn zu besteigen und von dort oben herabzusehen, kaum unterdrücken. Ich stellte meinen Wagen an einem Informationszentrum am Fuß des Berges ab und begab mich auf meinen Marsch durch den einladenden grünen Wald. Es war ein Morgen wie aus dem Bilderbuch: taufrisch und kühl, doch die Sonne und die laue Luft versprachen bereits Hitze für die Mittagsstunden; aber ich war früh genug dran, um einen Tagesausflug zu schaffen. Ich mußte das Auto erst am nächsten Tag wieder zu Hause in New Hampshire abliefern, aber ich war fest entschlossen, wenigstens eine ordentliche Tageswanderung zu machen, um einiges von dem Debakel, zu dem diese Reise für mich geworden war, wieder wettzumachen. Zum Glück hatte ich eine gute Wahl getroffen. Ich ging inmitten von Hunderten Hektar herrlichen Waldes, den sich der Worthington State Forest und die Delaware Water Gap National Recreation Area miteinander teilten. Der Weg war gepflegt und gerade so steil, daß man das Gefühl bekam, ein gesundheitsförderndes Training zu absolvieren und sich keiner zwanghaften Quälerei zu unterziehen.

Es kam noch ein weiterer Pluspunkt hinzu: Ich hatte ausgezeichnete Karten. Ich befand mich nämlich inzwischen kartographisch in den guten Händen der New York - New Jersey Trail Conference, deren Karten sehr detailliert und vierfarbig sind. Grün steht für Wald, Blau für Wasser, rot sind die Wanderwege, und die Beschriftung ist schwarz. Die Bezeichnungen sind klar und deutlich, die Karten haben einen vernünftigen Maßstab, 1:36.000, und sie enthalten alle Verbindungsstraßen und Nebenwanderwege. Es scheint so, als wollten die Kartographen, daß man jederzeit weiß, wo man sich gerade befindet, und daß man seine Freude an diesem Wissen hat.

Ich kann gar nicht beschreiben, was für ein erhebendes Gefühl das ist, immer sagen zu können: »Ah, ja! Genau, das ist Dunnfield Creek.« Oder: »Das da unten muß Shawnee Island sein.« Wenn alle Karten des AT nur annähernd so gut wären, hätte ich deutlich mehr Freude an der Wanderung gehabt – schätzungsweise 25 Prozent mehr. Es ging mir erst jetzt auf, daß meine Gleichgültigkeit gegenüber meiner Umgebung vorher schlicht und ergreifend daher rührte, daß ich nicht wußte, wo ich mich befand, gar nicht in der Lage war, es zu wissen. Jetzt konnte ich mich wenigstens orientieren, den Weg erahnen, in Kontakt treten mit einer sich verändernden und erfahrbaren Landschaft.

Und so wanderte ich acht höchst angenehme Kilometer den Kittatinny hinauf zum Sunfish Pond, einem sehr hübschen, 16 Hektar großen See, umgeben von Wald. Unterwegs traf ich nur zwei andere Wanderer – beide waren Tagestouristen –, und wieder dachte ich mir, was für eine maßlose Übertreibung es ist zu sagen, der Appalachian Trail sei überlaufen. 30 Millionen Menschen leben im Umkreis von zwei Autostunden von Water Gap -New York liegt 110 Kilometer östlich, Philadelphia ein Stück weiter südlich –, und es war ein makelloser Sommertag. Der Wald in seiner majestätischen Schönheit gehörte trotzdem nur uns Dreien.

Für den Trail-Wanderer Richtung Norden ist Sunfish Pond eine echte Neuheit, denn südlich von hier findet man keinen Bergsee in dieser Höhe. Tatsächlich ist er das erste glaziale Merkmal: Bis hierher reichte während der letzten Eiszeit die Eisdecke. Der weiteste Vorstoß in New Jersey liegt ungefähr 16 Kilometer südlich von Water Gap, aber selbst hier, wo das Klima ein weiteres Vorrücken verhinderte, war die Eisdecke immer noch 600 Meter dick gewesen.

Das muß man sich mal vorstellen – eine Wand aus Eis, über einen halben Kilometer hoch, und dahinter Zehntausende Quadratkilometer noch mehr Eis, lediglich durchbrochen von den Gipfeln der höchsten Berge. Wir vergessen meist, daß wir uns heute immer noch in einer Eiszeit befinden, bloß erleben wir sie hautnah nur während eines Teils des Jahres. Schnee, Eis und Kälte sind keine typischen Merkmale der Erde. Langfristig gesehen, ist die Antarktis eigentlich ein Dschungel. (Er hat nur gerade eine leichte Erkältung.) Auf dem Höhepunkt der Eiszeit, vor 20.000 Jahren, lag ein Drittel der Erde unter Eis, heute sind es immer noch zehn Prozent. In den letzten zwei Millionen Jahren hat es bestimmt ein Dutzend Eiszeiten gegeben, von denen jede etwa 100.000 Jahre dauerte. Die jüngste Intrusion, die Wisconsin-Eis-decke, erstreckte sich von den Polarregionen über weite Teile Europas und Nordamerikas, erreichte eine Dicke von bis zu 3.000 Meter und rückte mit einer Geschwindigkeit von 120 Meter pro Jahr vor. Der Meeresspiegel sank um 140 Meter, da die Decke alle freien Wasserreservoirs der Erde in sich aufsaugte. Dann, vor 10.000 Jahren, fing die Decke an zu schmelzen und sich zurückzuziehen, nicht über Nacht, aber allmählich. Man hat bis heute keine Erklärung dafür. Sie hinterließ eine völlig umgestaltete Landschaft, schüttete Long Island, Cape Cod, Nantucket und den größten Teil von Martha’s Vineyard auf, wo sich vorher nur Wasser befunden hatte, und hob neben vielen anderen auch die Becken der Great Lakes, der Hudson Bay und den kleinen Sunfish Pond aus. Jeder Quadratmeter der Landschaft nördlich von hier hat Narben, Kerben und andere Spuren der letzten Vereisung davongetragen – verstreute Felsbrocken, die sogenannten Findlinge, Moränen, Geschiebehügel, Bergseen, Kare. Ich betrat eine neue Welt.

Über die vielen Eiszeiten der Erde weiß man nur sehr wenig - warum sie kamen, warum sie aufhörten, ob und wann sie wiederkommen. Eine interessante Theorie, wenn man an unsere gegenwärtige Sorge um die Erderwärmung denkt, besagt, daß die Eiszeiten nicht durch sinkende, sondern durch steigende Temperaturen entstanden sind. Warmes Wetter führe zu stärkerem Niederschlag, dieser wiederum zu einer dichteren Wolkendecke, was eine geringere Schneeschmelze in höheren Regionen zur Folge habe. Es braucht nicht allzu viel schlechtes Wetter, um eine Eiszeit auszulösen. Gwen Schultz bemerkt dazu in ihrem Buch Ice Age Lost: »Nicht die Schneemenge allein verursacht Eisdecken, sondern die Tatsache, daß der Schnee, und sei es noch so wenig, liegenbleibt.« Was den Niederschlag betrifft, führt sie weiter aus, sei die Antarktis »das trockenste Gebiet der Erde, trockener als jede Wüste«.

Und noch ein weiterer interessanter Gedanke: Sollten sich heute wieder neue Gletscher bilden, dann könnten sie sich aus erheblich mehr Wasserreservoirs speisen als früher – Hudson Bay, die Great Lakes, die 100.000 kleinen Seen in Kanada standen für die letzten Eisdecken noch nicht zur Verfügung – und würden viel schneller wachsen. Wie würden wir uns verhalten, sollten in naher Zukunft tatsächlich neue Gletscher vorrücken? Würden wir sie mit TNT oder gar Atomsprengköpfen beschießen? Das ist durchaus wahrscheinlich. Dabei sollten wir aber eines bedenken: 1964 wurde Alaska durch das schwerste, jemals in Nordamerika registrierte Erdbeben erschüttert, von 200.000 Megatonnen geballter Energie, was der zerstörerischen Kraft von 2.000 Atombomben entspricht. In Texas, 5.000 Kilometer entfernt, schwappte dabei das Wasser über die Ränder der Swimmingpools, in Anchorage sackte eine Straße sechs Meter tief ab. Das Erdbeben verwüstete 60.000 Quadratkilometer Wildnis, der größte Teil davon vergletschert. Und welche Auswirkungen hatte das Erdbeben auf Alaskas Gletscher? Nicht die geringsten.

 

Gleich hinter dem See befand sich ein Nebenwanderweg, der Garvey Springs Trail, der steil bergab, zu einer alten, asphaltierten Straße am Fluß entlangführte, direkt unterhalb von Tocks Island, und der mich in einem weiten Bogen zurück zu dem Informationszentrum bringen würde, wo ich mein Auto abgestellt hatte. Das waren sechseinhalb Kilometer, und es wurde langsam warm, aber die Straße war schattig und kaum befahren, drei Autos in einer Stunde, und so glich meine Wanderung einem gemütlichen Spaziergang, mit friedlichen Ausblicken über üppige Wiesen auf den Fluß.

Nach amerikanischen Maßstäben ist der Delaware kein sonderlich beeindruckender Wasserlauf, aber ein Umstand ist charakteristisch für ihn. Es ist praktisch der letzte bedeutende Fluß in den Vereinigten Staaten, der nicht verbaut ist. Das mag manchen als ein unschätzbarer Gewinn erscheinen – ein Fluß, der so verläuft, wie die Natur ihn geschaffen hat. Eine Folge dieses unregulierten Verlaufs sind jedoch die regelmäßigen Überschwemmungen. 1955 gab es eine Flut, die noch heute als »die große Flut« bezeichnet wird, wie Frank Dale in seinem ausgezeichneten Buch Delaware Diary feststellt. Im August – ironischerweise auf dem Höhepunkt einer der schlimmsten Dürreperioden seit Jahrzehnten – suchten nacheinander zwei Wirbelstürme den Bundesstaat North Carolina heim und brachten die Wetterverhältnisse an der gesamten Ostküste gehörig durcheinander. Der erste brachte in zwei Tagen 25 Zentimeter Niederschlag in die Region des Delaware River Valley Zwei Tage später gingen in weniger als 24 Stunden noch einmal 25 Zentimeter Regen in dem Tal nieder. In Camp Davis, einem Erholungsort, flüchteten 46 Menschen, meist Frauen und Kinder, vor den steigenden Wassermassen in das Hauptgebäude der Ferienanlage, zuerst ins Erdgeschoß, dann in den ersten Stock, und < schließlich auf den Dachboden. Doch es half nichts. Gegen Mitternacht rollte eine neun Meter hohe Flutwelle durch das Tal und riß das Gebäude mit. Erstaunlicherweise überlebten neun Menschen das Unglück.

Brücken wurden weggefegt und Uferstädte überschwemmt, bevor der Tag zu Ende ging, war der Delaware River um 13 Meter gestiegen. Als der Pegelstand endlich fiel, waren 400 Menschen umgekommen und das gesamte Delaware Valley war verwüstet.

Dann mischte sich das U.S. Army Corps of Engineers mit einem Plan in das schlammige Chaos, der den Bau eines Damms in Tocks Island vorsah, unweit der Stelle, an der ich mich gerade befand. Der Damm sollte nicht nur den Fluß zähmen, sondern es sollte auch ein neuer Nationalpark dabei entstehen, in dessen 3 Zentrum sich ein 65 Kilometer langer See für diverse Freizeitaktivitäten befinden sollte. 8.000 Anwohner wurden umgesiedelt.  Das ganze Projekt war sehr unprofessionell vorbereitet. Einer der Vertriebenen war blind. Vielen Farmern wurde ihr Grund und Boden nur teilweise abgekauft, so daß manche zum Schluß mit Ackerland, aber ohne Haus – oder mit Haus, aber ohne Ackerland dastanden. Eine Frau, deren Familie dasselbe Stück Land seit dem 18. Jahrhundert bewirtschaftete, wehrte sich mit Händen und Füßen, als sie aus ihrem Haus getragen wurde – zur Freude der Zeitungsreporter und Fernsehteams.

Die Bauten des Army Corps of Engineers sind berüchtigt für ihre schlechte Qualität. Ein Damm über den Missouri River in Nebraska verschlammte so stark, daß ein widerlicher Schlick in die Kanalisation von Niobrara drang, was schließlich zur Zwangsevakuierung der Stadt führte. Einmal brach ein vom Corps of Engineers errichteter Damm in Idaho. Zum Glück geschah es in einem dünn besiedelten Gebiet, und es hatte eine Vorwarnung gegeben. Dennoch wurden viele Kleinstädte überschwemmt, und elf Menschen verloren ihr Leben. Aber das waren alles kleine Dämme. Mit dem Bau von Tocks Island wäre eines der größten Wasserreservoires der Welt entstanden, die Wassermassen des 65 Kilometer langen Sees hätten gegen das Bauwerk gedrückt. Flußabwärts befanden sich vier große Städte, Trenton, Camden, Wilmington, Philadelphia und Hunderte kleinerer Gemeinden. Eine Katastrophe am Delaware hätte alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt.

Und jetzt schickte sich das rührige Army Corps of Engineers an, 950 Millionen Kubikmeter Wasser mit Moränenschutt zu stauen, der berüchtigt ist für seine Instabilität. Darüber hinaus gab es umweltpolitische Bedenken – zum Beispiel würde der Salzgehalt im Boden unter dem Damm gefährlich steigen und das ökologische Gleichgewicht flußabwärts zerstören, von den Austernbänken der Delaware Bay ganz zu schweigen.

Nach jahrelangem zunehmenden Widerstand, der nicht allein aus dem Delaware Valley kam, sondern sich darüber hinaus ausweitete, wurde der Plan 1992 endlich auf Eis gelegt, aber bis dahin waren bereits Farmhäuser und ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht worden. Ein stilles, einsames, wunderschönes Tal, das sich in 200 Jahren kaum verändert hatte, war für immer verloren. »Für den AT ergab sich aus dem (aufgegebenen) Projekt ein Vorteil«, heißt es dazu im Appalachian Trail Guide to New York and New Jersey, »das vom Staat gekaufte Land für das geplante Naherholungsgebiet ist heute ein geschützter Korridor.«

Solche Sprüche konnte ich allmählich nicht mehr hören. Ich weiß, daß der Appalachian Trail einem die Wildnis näherbringen soll, und ich sehe ein, daß es zahlreiche Gebiete gibt, wo der Eingriff des Menschen eine Tragödie bedeuten würde, aber manchmal, so wie hier, reagiert die ATC geradezu pathologisch auf menschlichen Kontakt. Ich hätte nichts dagegen gehabt, zur Abwechslung mal durch ein Dörfchen zu wandern, vorbei an Farmen, statt durch einen totenstillen »geschützten Korridor«.

Zweifellos hat das alles mit unserem historisch begründeten Drang, die Wildnis zu zähmen und auszubeuten, zu tun, aber Amerikas Einstellung zur Natur ist in vieler Hinsicht sehr sonderbar. Ich konnte nicht umhin, meine Erfahrungen auf dem AT mit einer anderen Wanderung zu vergleichen, die ich ein paar Jahre zuvor durch Luxemburg gemacht hatte, und zwar im Auftrag einer Zeitschrift und zusammen mit meinem Sohn. Luxemburg eignet sich hervorragend zum Wandern, besser als man denkt. Es gibt viel Wald, aber auch Burgen, Bauernhäuser, Dörfer mit Kirchtürmen und romantische Flußtäler – Europa im Paket sozusagen. Die Wanderwege, die wir entlanggingen, führten hauptsächlich durch Wald, tauchten aber in Abständen wieder daraus hervor und verliefen über sonnenbeschienene Nebenstraßen, über Zauntritte durch Felder und Weiler. Irgendwann im Laufe des Tages kamen wir immer an einer Bäckerei oder einer Post vorbei, hörten die Türglocke eines Ladens bimmeln und konnten Gesprächen lauschen, von denen wir kein Wort verstanden. Jeden Abend kehrten wir in einer Pension ein und aßen in einem Restaurant, saßen zusammen mit anderen Leuten an einem Tisch. Wir lernten Luxemburg kennen, nicht nur seine Bäume. Es war herrlich, und zwar deswegen, weil die reizende kleine Besichtigung nahtlos und mühelos in die Wandertour überging und umgekehrt.

In Amerika dagegen ist die Schönheit der Natur zu diversen Ausflugszielen verkommen, die man mit dem Auto aufsucht. Und was die Natur selbst betrifft, heißt es entweder/oder – entweder macht man sie sich gnadenlos Untertan, wie im Fall von Tocks-Damm und in tausend anderen Fällen, oder man vergöttert sie als etwas Heiliges, Entrücktes, Losgelöstes, wie den Ap-palachian Trail. Selten kommt ein Vertreter der einen oder anderen Seite auf die Idee, daß Mensch und Natur auch zusammengehen können, zu beiderseitigem Vorteil, daß eine elegantere Brücke über den Delaware River, um nur ein Beispiel zu nennen, die grandiose Umgebung erst richtig zur Geltung bringen kann, oder daß der AT interessanter und attraktiver sein könnte, wenn er nicht ausschließlich durch die Wildnis verliefe, sondern wenn er den Wanderer ab und zu auch mal an weidenden Kühen oder bestellten Feldern vorbeiführte.

Ich hätte es viel schöner gefunden, wenn im AT-Führer zu lesen gewesen wäre: Dank den Bemühungen der Conference konnte im Delaware River Valley der Ackerbau wieder eingeführt und der Wanderweg neu verlegt werden, so daß er jetzt 25 Kilometer Uferweg umfaßt, denn ehrlich gesagt: Manchmal kann man auch von Bäumen genug haben.

Trotzdem sollte man das Positive hervorheben. Wenn es nach dem Army Corps of Engineers gegangen wäre, müßte ich jetzt zu meinem Auto zurückschwimmen, und ich war dankbar, daß mir wenigstens das erspart blieb.

Auf jeden Fall wurde es höchste Zeit für mich, mal wieder richtig zu wandern.