2. Kapitel

 

Am 5. Juli 1983 schlugen drei erwachsene Aufseher und eine Gruppe Jugendlicher an einer bei Wanderern beliebten Stelle am Lake Canimma mitten in einem würzig riechenden Kiefernwald westlich von Quebec, ungefähr 130 Kilometer nördlich von Ottawa, in einem Park, der sich La Verendrye Provincial Reserve nennt, nachmittags ihr Lager auf. Sie kochten sich ein Abendessen und verstauten anschließend ihre Lebensmittelvorräte, wie es sich gehört, in einen Beutel, trugen diesen etwa 100 Meter weit in den Wald hinein und hängten ihn zwischen zwei Bäumen auf, in einer Höhe, die für Bären nicht zu erreichen war.

Um Mitternacht strich ein Schwarzbär am Rand des Lagers herum, entdeckte den Beutel und holte ihn herunter, indem er auf den Baum kletterte und einen Ast abknickte. Er plünderte den Vorrat und verschwand, kehrte aber eine Stunde später wieder zurück und betrat diesmal das Lager, angezogen von dem Geruch gebratenen Fleischs, der noch in den Kleidern und Haaren, den Schlafsäcken und Zelten der Leute hing. Es sollte eine lange Nacht für die Gruppe am Lake Canimma werden. Zwischen Mitternacht und halb vier stattete der Bär dem Lager dreimal einen Besuch ab.

Stellen Sie sich, falls Sie Masochist sind, vor, Sie liegen mutterseelenallein im Dunkeln in einem kleinen Zelt, zwischen Ihnen und der kalten Nachtluft nur eine Nylonmembran von ein paar tausendstel Millimeter Dicke, und draußen rumort dieser zentnerschwere Koloß. Stellen Sie sich vor, Sie hören sein leises Grunzen und unerklärliches Schniefen, das Schmatzen und Nagen, das Tapsen der Ballen unter den Tatzen, den schweren Atem, das Geräusch, wenn er sich an Ihrer Zeltwand reibt, das Klappern von gestapeltem Kochgeschirr, wenn er dagegentritt. Stellen Sie sich vor, was für ein heißer Adrenalinschub durch Ihren Körper geht, wie es in Ihren Achselhöhlen kribbelt – dann der plötzliche, rauhe Stoß der Schnauze des Tieres gegen die Wand am Fußende Ihres Zeltes, das alarmierend wilde Flattern Ihrer dünnhäutigen Hülle, wenn das Tier Ihren Rucksack durchwühlt, den Sie unachtsamerweise am Eingang aufgebockt haben und in dessen Seitentasche sich, wie Ihnen siedendheiß einfällt, ein Snickers befindet. Bären sind geradezu versessen auf Snickers, haben Sie mal gehört.

Und dann das dumpfe Gefühl – ach, du meine Güte –, daß Sie den Snickers-Riegel mit ms Zelt genommen haben, daß er hier irgendwo liegt, zu ihren Füßen oder unter Ihnen, oder – ach, du Scheiße, hier ist er ja! Der nächste Stoß der Schnauze, begleitet von einem Grunzen, gegen das Zelt, diesmal unweit Ihrer Schulter. Wieder das Flattern der Zeltwand. Dann Stille, eine lang anhaltende Stille, und – Moment, psssst!… jawohl! – die unsägliche Erleichterung, als Ihnen klar wird, daß der Bär hinüber auf die andere Seite des Lagers geschlurft ist oder sich zurück in den Wald verzogen hat.

Ich sage Ihnen, ich würde das nicht aushaken.

Nun stellen Sie sich vor, wie erst dem kleinen zwölfjährigen David Anderson zumute gewesen sein mußte, als um halb vier morgens, bei dem dritten Übergriff, sein Zelt urplötzlich mit einem Tatzenhieb aufgeschlitzt wurde und der Bär, von dem starken, in der Luft liegenden Geruch nach Hamburgern zur Raserei getrieben, seine Zähne in ein hastig zurückzuckendes Bein schlug und den brüllenden, strampelnden Knaben durch das Lager schleppte, hinein in den Wald. In den wenigen Sekunden, die seine Kameraden brauchten, um sich aus ihren Sachen zu schälen. Und stellen Sie sich weiter vor, was es heißt, sich aus plötzlich voluminösen Schlafsäcken herauszuwühlen, nach den Taschenlampen zu kramen, sich einen provisorischen Knüppel zu schnappen, die Zeltverschlüsse hochzuziehen und hinter dem Tier herzujagen – in diesen wenigen Sekunden hauchte der arme kleine David Anderson sein Leben aus.

Und nun stellen Sie sich vor, Sie läsen ein Sachbuch, in dem es nur so wimmelt von solchen Geschichten – wahren Geschichten, nüchtern erzählt –, kurz bevor Sie allein zu einer Wanderung durch die nordamerikanische Wildnis aufbrächen. Das Buch, von dem hier die Rede ist, heißt Bären: Jäger und Gejagte in Amerikas Wildnis, und der Verfasser ist der kanadische Wissenschaftler Stephen Herrero. Wenn das Buch nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist, dann möchte ich das letzte Wort lieber nicht erfahren. Während sich draußen in New Hampshire der Schnee auftürmte und meine Frau friedlich neben mir im Bett schlummerte, verbrachte ich ganze Nächte damit, mit angstvoll aufgerissenen Augen klinisch exakte Berichte über Menschen zu lesen, die in ihren Schlafsäcken zu Brei zermalmt, die wimmernd von Bäumen heruntergeholt worden waren, an die die Bestie sich geräuschlos herangepirscht hatte – ich wußte nicht, daß so etwas vorkam –, als sie gerade unbedarft durchs Laub schlenderten oder ihre Füße in einem kalten Gebirgsbach baumeln ließen. Über Menschen, die den verhängnisvollen Fehler begangen hatten, sich wohlriechendes Gel ins Haar zu schmieren, ein saftiges Stück Fleisch zu essen, sich für später einen Snickers-Riegel in die Brusttasche zu stecken, sich sexuell zu betätigen, zu menstruieren oder die Geruchsempfindlichkeit des hungrigen Bäreninsonstwie unachtsamer Weise zu reizen. Oder deren Verhängnis, auch das gab es, schlicht darin bestand, außerordentlich großes Pech zu haben – um eine Kurve zu gehen und auf ein hungriges Bärenmännchen zu treffen, das den Weg versperrt, den Kopf erwartungsvoll hin und her wiegt, oder darin, nichts Böses ahnend in das Revier eines Bären zu tapern, der, bedingt durch Alter und Trägheit, zu alt war, um flinkere Beute zu jagen.

Ich will gleich klarstellen, daß die Wahrscheinlichkeit eines schweren Übergriffs durch einen Bären am Appalachian Trail äußerst gering ist. Zunächst einmal wütet der wirklich gefährliche amerikanische Bär, der Grizzly – Ursus horribilis, wie er anschaulich und korrekterweise bezeichnet wird –, nicht östlich des Mississippi, was immerhin von Vorteil ist, denn Grizzlys sind riesig, stark und geraten schnell in Wut. Als Meriwether Lewis und William Clark zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu ihrer Expedition in die Wildnis aufbrachen, stellten sie fest, daß nichts die eingeborenen Indianer mehr zermürbte als ein Grizzlybär. Und das ist nicht weiter erstaunlich, denn man kann einen Grizzly mit Pfeilen durchlöchern, ihn buchstäblich damit spicken, so daß er aussieht wie ein Stachelschwein – er wird immer noch nicht aufgeben. Selbst Lewis und Clark zeigten sich erstaunt und verunsichert über die Fähigkeit des Grizzlys, ganze Geschützsalven zu verkraften, ohne auch nur leicht ms Wanken zu geraten.

Herrero berichtet von einem Fall, der die Robustheit des Grizzlys sehr schön veranschaulicht. Die Geschichte handelt von einem erfahrenen Jäger in Alaska, Alexei Pitka, der sich durch den Schnee an ein großes Männchen herangeschlichen und es mit einem gezielten Schuß ms Herz aus einem großkalibrigen Gewehr niedergestreckt hatte. Pitka hätte vorher noch einmal in den Verhaltensregeln nachlesen sollen. »Erst überprüfen, ob der Bär auch wirklich tot ist. Dann Waffe ablegen.« Er näherte sich behutsam und beobachtete ein, zwei Minuten lang, ob der Bär sich nicht rührte. Als er keine Regung feststellen konnte, lehnte er sein Gewehr gegen einen Baum (schwerer Fehler!) und trat vor, um seine Beute zu beanspruchen. Gerade wollte er das Fell berühren, da sprang der Bär auf, legte ihm seine breiten Tatzen um den Kopf, als wollte er ihm einen Kuß geben, und riß ihm mit einem Ruck das Gesicht weg.

Pitka überlebte wie durch ein Wunder. »Ich weiß auch nicht, wieso ich das Scheißgewehr an den Baum gestellt habe«, sagte er später. (Eigentlich war nur »Mnnnpfffnnnndgnnn« zu verstehen, da Pitka weder über Lippen, Zähne, Nase, Zunge noch über ein anderes Stimmorgan mehr verfügte.)

Sollte ich betätschelt und angeknabbert werden – was mir immer wahrscheinlicher erschien, je mehr ich las –, dann von einem Schwarzbären, Ursus americanus. Es gibt ungefähr eine halbe Million Schwarzbären in Amerika, vielleicht sogar eine dreiviertel Million. Sie sind sehr verbreitet in den Bergen entlang des Appalachian Trail, ja sie benutzen den Weg sogar gern, weil er so bequem ist, und ihre Zahl ist im Steigen begriffen. Die Zahl der Grizzlybären dagegen beläuft sich, bezogen auf ganz Nordamerika, auf höchstens 35.000; davon entfallen gerade einmal 1.000 auf das Herzland der Vereinigten Staaten, hauptsächlich auf den Yellowstone National Park und Umgebung. Schwarzbären sind in der Regel kleiner (das ist allerdings relativ zu sehen, denn ein Schwarzbärmännchen kann immer noch 300 Kilo auf die Waage bringen), und sie sind eindeutig zurückhaltender.

Schwarzbären greifen selten von sich aus an, aber manchmal eben doch. Alle Bären sind behende, schlau und unglaublich stark, und sie haben immer Hunger. Sie können einen Menschen töten und fressen, wenn sie wollen, und sie tun es auch – wenn sie wollen. Es kommt nicht oft vor, aber – und das ist der springende Punkt: einmal reicht. Herrero gibt sich alle Mühe, darauf hinzuweisen, daß Schwarzbärattacken zahlenmäßig selten sind. Für den Zeitraum von 1900 bis 1980 konstatierte er lediglich 23 Tötungen von Menschen durch einen Schwarzbären (das sind halb so viele Tötungen wie durch Grizzlybären), und die meisten ereigneten sich im Westen oder in Kanada. In New Hampshire hat jedenfalls seit 1784 kein unprovozierter tödlicher Übergriff eines Bären auf einen Menschen mehr stattgefunden, und in Vermont sogar noch nie.

Ich hätte mich von diesen quasi Versprechungen ja gerne trösten lassen, aber mir fehlte es an der nötigen Glaubenskraft. Der Aussage, daß zwischen 1960 und 1980 500 Menschen von Schwarzbären angegriffen und verletzt wurden – 25 Übergriffe pro Jahr, bei einer Population von mindestens einer halben Million Bären –, fügt Herrero hinzu, die meisten Verletzungen seien nicht schwer gewesen. »Die typischen, von einem Bären zugefügten Verletzungen«, schreibt er kühl, »sind nur geringfügiger Natur und beschränken sich für gewöhnlich auf ein paar Kratzer oder leichte Bißwunden.« Was, bitteschön, ist eine leichte Bißwunde? Geht es hier um spielerische Ringkämpfe und Nasenstüber? Wohl kaum. Und sind 500 nach- gewiesene Übergriffe tatsächlich eine so bescheidene Zahl, wenn man bedenkt, daß nur wenige Menschen die Wälder Nordamerikas je betreten? Und wie blöd muß man sein, damit einen die Information, in Vermont und New Hampshire sei seit 200 Jahren kein Mensch mehr von einem Bären getötet worden, beruhigen kann? Die Angriffe blieben ja nicht aus, weil die Bären ein Abkommen mit den Menschen ausgehandelt hatten. Es spricht nichts dagegen, daß sie nicht schon morgen ein kleines Massaker anrichten.

Stellen wir uns also vor, ein Bär in der Wildnis hätte es auf uns abgesehen. Wie soll man sich verhalten?

Interessanterweise sind die empfohlenen Tricks bei Grizzly –beziehungsweise Schwarzbärattacken genau gegensätzlich. Bei dem Überfall eines Grizzlybären sollte man den nächsten hohen Baum aufsuchen, da Grizzlys keine guten Kletterer sind. Wenn kein Baum in Reichweite ist, sollte man langsam rückwärts gehen und dabei den Blickkontakt vermeiden. Alle Bücher raten einem, auf keinen Fall zu rennen, wenn der Grizzly auf einen zukommt. Solche Ratschläge können nur von Schreibtischtätern kommen. Lassen Sie sich gesagt sein: Wenn Sie sich in einem offenen Gelände befinden und keine Waffe dabei haben, dann nehmen Sie besser die Beine in die Hand. Was bleibt Ihnen schon anderes übrig? So haben Sie in den letzten sieben Sekunden Ihres Lebens wenigstens etwas zu tun. Sollte der Grizzly Sie jedoch einholen, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Fall sein wird, lassen Sie sich auf den Boden fallen und stellen Sie sich tot. An einem schlaffen Körper knabbert der Grizzly nur ein bißchen herum, im allgemeinen verliert er nach wenigen Minuten die Lust und schlurft davon. Bei Schwarzbären dagegen ist der Trick, sich tot zu stellen, vergeblich, denn sie knabbern weiter an einem herum, bis auch der beste plastische Chirurg später nichts mehr ausrichten kann. Auf einen Baum zu klettern wäre ebenfalls ziemlich töricht, denn Schwarzbären sind geschickte Kletterer, und man würde den Kampf gegen den Bären lediglich auf den Baum verlagern, wie Herrero trocken feststellt.

Am besten, schlägt Herrero vor, sollte man einen Höllenlärm veranstalten, um einen aggressiven schwarzen Bären zu vertreiben, auf Töpfe und Pfannen schlagen, mit Stöcken und Steinen werfen und »auf den Bär zulaufen«. (Bitte. Wenn Sie als erster gehen, Herr Professor!) Andererseits, fügt er vernünftigerweise hinzu, könnten diese Tricks »den Bären erst recht provozieren«, Vielen Dank auch. An anderer Stelle empfiehlt Herrero, als Wanderer solle man daran denken, gelegentlich Krach zu machen, zum Beispiel ein Lied zu singen, um einen Bären vor seiner Anwesenheit zu warnen, da ein überraschter Bär höchstwahrscheinlich wütender sein wird. Doch dann mahnt er ein paar Seiten weiter, daß »es gefährlich sein könnte, Krach zu machen«, da er einen hungrigen Bären anlocken könnte, der einen sonst übersehen hätte.

Tatsache ist: Keiner kann einem sagen, was man machen soll. Bei Bären weiß man vorher nie, wie sie reagieren, und was bei dem einen klappt, ist bei dem anderen vielleicht verhängnisvoll. Im Jahre 1973 hatten sich zwei Teenager, Mark Seeley und Michael Whitten, zu einer Wanderung durch den Yellowstone National Park aufgemacht und gerieten unterwegs unabsichtlich zwischen eine Schwarzbärmutter und ihre Jungen. Nichts bringt eine Bärenmutter mehr in Rage als Menschen, die sich in der Nähe ihrer Brut aufhalten. Wütend drehte sie sich um und eröffnete die Jagd – trotz des etwas tapsigen Gangs können Bären bis zu 60 Stundenkilometer schnell laufen – und die beiden Jungen erkletterten den nächsten Baum. Der Bär sprang Whitten hinterher, faßte mit dem Maul seinen rechten Fuß und zog ihn langsam und geduldig von seinem Hochsitz herunter. (Spüren Sie da auch, wie sich Ihre Fingernägel in der Rinde verkrallen, oder geht das nur mir so?) Auf der Erde fing der Bär an, den Jungen übel zuzurichten. Seeley versuchte, das Tier von seinem Freund wegzulocken und brüllte es an, worauf es losließ und auch ihn von seinem Baum herunterholte. Beide Jungen stellten sich daraufhin tot – nach den Verhaltensmaßregeln genau das Verkehrte –, und der Bär verschwand.

Ich möchte nicht behaupten, daß ich wie besessen von dem Thema war, aber es beschäftigte meine Gedanken während der Monate, in denen ich darauf wartete, daß endlich der Frühling käme. Mein besonderer Schrecken – die lebhafte Phantasie, die mich Nacht für Nacht die Baumschatten an der Schlafzimmerdecke anstarren ließ – war die Vorstellung, ich läge in einem kleinen Zelt, allein in der pechschwarzen Wildnis, hörte draußen einen Bär, der auf Futtersuche wäre, und hätte keine Ahnung, was er nun vorhatte. Vor allem ein Amateurfoto in Herreros Buch faszinierte mich. Es war spät nachts von einem Camper auf einem Lagerplatz irgendwo im Westen der USA mit Blitzlicht aufgenommen worden. Der Fotograf hatte vier Schwarzbären erwischt, die sich darüber den Kopf zerbrachen, wie sie an einen Vorratsbeutel kommen sollten, der von einem Ast herunterhing. Die Bären wirkten zwar überrascht – von dem Blitzlicht vermutlich –, aber sie waren nicht im geringsten erschrocken. Es war weniger die Größe oder das Verhalten der Bären, was mich beunruhigte – sie sehen komischerweise völlig harmlos aus, wie vier junge Männer, deren Frisbeescheibe im Baum gelandet war – als ihre Zahl. Bis dahin hatte ich mir nicht klargemacht, daß Bären auch in Rudeln herumstrolchen konnten. Was um Himmels willen sollte ich machen, wenn plötzlich vier von diesen Ungeheuern in mein Lager kämen? Na, was schon? Ich würde natürlich sterben. Buchstäblich tausend Tode sterben, mir in die Hose machen vor Angst, mir den Schließmuskel aus dem Hintern pusten, so wie die Luftschlangen, die man auf Kindergeburtstagen bekommt – ich glaube, es würde das Tier nicht im geringsten beeindrucken – und in meinem Schlafsack jämmerlich verbluten.

Herreros Buch erschien 1985. Seit damals haben, nach einem Artikel in der New York Times, die Übergriffe durch Bären in Nordamerika um 25 Prozent zugenommen. In dem Artikel hieß es außerdem, Bären gingen im Frühjahr nach einer schlechten Beerenernte wesentlich häufiger auf Menschen los als sonst. Die Beerenernte im Vorjahr war katastrophal ausgefallen. Das gefiel mir alles nicht.

Dann gab es noch die ganzen Probleme und speziellen Gefahren, die durch die Einsamkeit bedingt sind. Ich habe immer noch meinen Blinddarm und jede Menge anderer, lebenswichtiger Organe, die in der Wildnis aufplatzen oder auslaufen könnten. Was sollte ich in so einem Fall machen? Was, wenn ich von einem Felsvorsprung stürzen und mir das Rückgrat brechen würde? Wenn ich mich bei Nebel oder in einem Schneesturm verirren würde, von einer giftigen Schlange gebissen, bei der Durchquerung eines Flusses auf einem bemoosten Stein den Halt verlieren oder mir nach einem Sturz eine Gehirnerschütterung zuziehen würde? Man kann auch in einer fünf Zentimeter tiefen Wasserlache ertrinken oder an einem verstauchten Fußgelenk sterben. Nein ,nein, das gefiel mir alles ganz und gar nicht.

Meine Weihnachtsgrüße an Freunde und Bekannte versah ich mit der Einladung, doch mit mir zu wandern, und wenn es nur ein Teil des Weges wäre. Natürlich reagierte keiner darauf. Dann bekam ich eines Tages im Februar, der Termin meiner Abreise rückte immer näher, einen Anruf. Er war von einem alten Schulfreund, Stephen Katz. Katz und ich waren zusammen in Iowa aufgewachsen, aber ich hatte so ziemlich jeden Kontakt zu ihm verloren. Diejenigen unter Ihnen – mehr als fünf werden es wohl nicht sein – die Neither Here nor There gelesen haben, kennen Katz bereits aus den Geschichten über meine jugendlichen Abenteuer als meinen Reisegefährten in Europa. In den 25 Jahren, die seitdem vergangen sind, bin ich ihm drei-, viermal bei Besuchen zu Hause begegnet, aber sonst hatten wir nie mehr etwas miteinander zu tun. Wir waren Freunde geblieben, im theoretischen Sinn, aber unsere Lebenswege hätten verschiedener nicht sein können.

»Ich habe erst gezögert«, sagte er langsam. Er suchte nach Worten. »Die Sache mit dem Appalachian Trail – könnte ich da vielleicht mitkommen?«

Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. »Willst du wirklich mitkommen?«

»Also, wenn du was dagegen hättest das würde ich verstehen.«

»Was dagegen?« sagte ich. »Nein. Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich bin heilfroh.«

»Wirklich?« Das schien ihn aufzuheitern.

»Klar.« Ich konnte es nicht fassen. Ich brauchte nicht allein zu gehen. Ich stimmte innerlich einen Freudengesang an. Ich brauch’ nicht mehr allein zu gehen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie überglücklich ich bin.«

»Das ist ja schön«, sagte er, mehr als erleichtert, und fügte dann in bekennendem Tonfall hinzu: »Ich dachte, vielleicht willst du mich nicht dabeihaben.«

»Wieso denn nicht?«

»Weil ich dir immer noch 600 Pfund schulde, von unserer Reise damals durch Europa.«

»He, meine Güte, das kann nicht sein… schuldest du mir wirklich 600 Pfund?«

»Ich habe mir fest vorgenommen, sie dir zurückzuzahlen.«

»He!« sagte ich. »He.« Ich konnte mich an diese 600 Pfund gar nicht mehr erinnern. Ich hatte noch nie jemandem in meinem Leben Schulden in dieser Höhe erlassen, und es dauerte eine Weile, bis ich die Worte herausbrachte: »Kein Problem. Komm einfach mit wandern. Weißt du auch, worauf du dich einläßt?«

»Klar.«

»Und wie ist deine körperliche Verfassung?«

»Ziemlich gut. Ich gehe nur noch zu Fuß.«

»Wirklich?« Das ist sehr ungewöhnlich für amerikanische Verhältnisse.

»Na ja, mein Wagen wurde beschlagnahmt. Deswegen.«

»Ach so.«

Wir redeten noch über dies und das, seine Mutter, meine Mutter, Des Moines. Ich erzählte ihm alles, was ich über den Trail wußte, was nicht viel war, und über das Leben in der Wildnis, das uns erwartete. Wir verblieben so, daß er nächsten Mittwoch nach New Hampshire fliegen sollte, wir uns zwei Tage Zeit für Vorbereitungen nehmen und uns dann auf den Weg machen würden. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ich ein rundum gutes Gefühl, was unser Unternehmen betraf. Katz klang außerdem recht optimistisch für jemanden, der das Ganze eigentlich nicht mitzumachen brauchte.

Zuletzt fragte ich ihn: »Und? Wie stehst du zu Bären?«

»Bis jetzt haben sie mich jedenfalls noch nicht gekriegt.«

Das ist die richtige Einstellung, dachte ich. Mensch, Katz, altes Haus. Du kommst mir wie gerufen.

Mir wäre jeder recht gewesen, der diesen Elan hatte und den festen Willen, mit mir loszuziehen. Nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte ihn zu fragen, warum er eigentlich mitwollte. Katz war der einzige Mensch auf der Welt, bei dem ich mir vorstellen konnte, daß er sich vor jemandem verstecken mußte, vor Leuten, die Julio hießen oder Mister Big. Egal. Ich brauchte jedenfalls nicht allein zu gehen.

Ich ging zu meiner Frau, die in der Küche am Spülbecken stand, und überbrachte ihr die gute Nachricht. Ihre Begeisterung fiel reservierter als erwartet aus.

»Du willst also wochenlang mit einem Menschen, den du seit 25 Jahren nicht mehr gesehen hast, durch die Wildnis wandern. Hast du dir das auch gründlich überlegt?« (Als hätte ich mir je etwas gründlich überlegt.) »Ich dachte, ihr beiden wärt euch in Europa gehörig auf die Nerven gegangen.«

»Nein.« Das stimmte nicht ganz. »Wir sind uns bloß am Anfang auf die Nerven gegangen. Zum Schluß hatten wir nur noch Verachtung füreinander übrig. Aber das ist lange her.«

Sie warf mir einen zutiefst zweifelnden Blick zu. »Ihr beide habt nichts gemein. Ihr seid völlig verschieden.«

»Wir sind überhaupt nicht verschieden. Wir sind beide 44 Jahre alt. Wir werden uns über unsere Hämorrhoiden unterhalten, unsere Schmerzen im unteren Rückenbereich und darüber, daß wir ständig vergessen, wo wir irgend etwas hingelegt haben. Und dann frage ich ihn am nächsten Abend, sag mal, habe ich dir schon von meinen Rückenproblemen erzählt?, und er sagt, nein, ich glaube nicht, und wir kauen das Thema wieder von vorne durch. Es wird bestimmt toll.«

»Es wird grauenvoll.“

»Ja, ich weiß«, sagte ich.

 

Eine Woche später fand ich mich an unserem kleinen Flughafen ein und beobachtete, wie die Konservenbüchse mit Katz an Bord aufsetzte und auf der Rollbahn knapp 20 Meter vor dem Terminal zum Stehen kam. Das Brummen der Propeller wurde für einen Moment noch einmal lauter, verstummte dann stotternd, die Tür öffnete sich und die Gangway wurde heruntergeklappt. Ich versuchte mir ins Gedächtnis zurückzurufen, wann ich Katz das letzte Mal gesehen hatte. Nach unserer Europareise im Sommer war er nach Des Meines zurückgekehrt und dort zu Iowas Drogenguru aufgestiegen. Jahrelang -war sein Leben ein einziges, rauschendes Fest gewesen, bis keiner mehr zum Mitfeiern übriggeblieben war, so daß er nur noch mit sich allein feierte, in seiner Wohnung, in T-Shirt und Boxer-Shorts, mit einem Vorrat an Marihuana, vor einem Fernseher mit Zimmerantenne. Jetzt erinnerte ich mich auch, daß ich ihn zuletzt vor fünf Jahren in Dennys Restaurant gesehen hatte, wohin ich meine Mutter zum Frühstück eingeladen hatte. Er saß ein paar Tische weiter, zusammen mit einem verhärmten Kerl, der aussah, als hieße er Virgil Starkweather oder so ähnlich, er stocherte in seinen Pfannkuchen herum und trank gelegentlich einen verbotenen Schluck aus einer Flasche, die in einem Papierbeutel steckte. Es war acht Uhr morgens, und Katz sah sehr zufrieden aus. Er war immer zufrieden, wenn er betrunken war, und er war fast immer betrunken.

Wie ich später erfuhr, fand ihn die Polizei zwei Wochen später in einem Auto, das sich auf einem Stoppelfeld außerhalb der Kleinstadt Mingo überschlagen hatte. Er hing noch im Sicherheitsgurt, mit dem Kopf nach unten, das Steuerrad fest umklammert, und sagte zu dem Polizisten: »Irgendwelche Probleme, Officer?« Im Handschuhfach wurde eine geringe Menge Kokain gefunden, und Katz wurde vorsorglich für 18 Monate in Sicherheitsverwahrung genommen. Während dieser Zeit fing er an, regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker zu gehen.

Zu unser aller Überraschung, nicht zuletzt seiner eigenen, hatte er seitdem keinen Tropfen Alkohol oder andere Drogen mehr angerührt.

Nach seiner Entlassung bekam er einen kleinen Job, ging halbtags wieder aufs College und zog mit einer Friseuse namens Patty zusammen. Die letzten drei Jahre hatte er ein unbescholtenes Leben geführt und, wie ich gleich feststellen konnte, als er geduckt durch die Tür trat, sich einen Bauch zugelegt. Katz war erstaunlich breit geworden im Vergleich zum letzten Mal. Er war immer schon ein wenig pummelig, aber jetzt mußte man gleich an Orson Welles nach einer durchzechten Nacht denken, wenn man ihn sah. Er humpelte leicht und atmete schwerer, als nach einem Weg von 20 Metern zu erwarten wäre.

»Mann, hab’ ich einen Hunger«, sagte er, ohne ein Wort der Begrüßung, und übergab mir sein Handgepäck. Ich hätte mir beinahe den Arm ausgerenkt.

»Was hast du denn da drin?« keuchte ich.

»Nur ein paar Kassetten und anderen Kram für unterwegs. Gibt es hier irgendwo ein Dunkin Donuts in der Nähe? Ich habe seit Boston nichts mehr gegessen.«

»Boston? Da kommst du doch gerade erst her.«

»Ja. Ich muß jede Stunde was essen, sonst kriege ich meine – wie soll ich sagen? – Anwandlungen.«

»Was denn für Anwandlungen?« Es war nicht gerade das Wieder- sehen, das ich mir ausgemalt hatte. Ich stellte mir vor, wie er den Appalachian Trail entlanghüpfte, wie ein Spielzeug zum Aufziehen, das auf den Rücken gefallen war.

»Die kriege ich regelmäßig, seit ich vor zehn Jahren mal verseuchtes Anilin eingenommen habe. Mit ein paar Doughnuts ist die Sache normalerweise erledigt.«

»In drei Tagen sind wir mitteninder Wildnis, Stephen. Da gibt es keine Doughnuts.«

Er strahlte stolz übers ganze Gesicht. »Ich habe vorgesorgt.« Er zeigte auf seine Tasche an der Gepäckausgabe, einen grünen Army-Seesack, und deutete mir an, ich solle ihn hochheben. Er wog mindestens 30 Kilo. Er sah meinen verwunderten Gesichtsausdruck. »Snickers«, erklärte er. »Ein ganzer Sack voll Snickers.«

 

Wir machten einen Umweg über Dunkin Donuts, bevor wir nach Hause fuhren. Meine Frau und ich setzten uns mit ihm an den Küchentisch und sahen zu, wie er fünf Boston-Cream-Doughnuts verputzte, die er mit zwei Bechern Milch hinunterspülte. Dann sagte er, er wolle sich ein bißchen ausruhen. Er brauchte mehrere Minuten, um die Treppe nach oben zu bewältigen.

Meine Frau sah mich mit einem Ausdruck heiterer Verständnislosigkeit an.

»Bitte, sag jetzt nichts«, bat ich sie.

Nachdem er seinen Mittagsschlaf gehalten hatte, suchten wir Dave Mengle in dem Outdoor-Laden auf, kauften eine Ausstattung für Katz – Rucksack, Zelt, Schlafsack und den ganzen anderen Kram, – anschließend gingen wir zu Kmart und besorgten einen Zeltboden, Thermounterwäsche und noch ein paar Kleinigkeiten. Danach mußte er sich wieder hinlegen.

Am Tag darauf gingen wir in einen Supermarkt, um Proviant für die erste Woche unserer Wanderung einzukaufen. Ich hatte keine Ahnung vom Kochen, aber Katz versorgte sich seit Jahren selbst und hatte ein festes Repertoire an Gerichten (hauptsächlich Erdnußbutter, Thunfisch und brauner Zucker, alles in einem Topf vermengt), die seiner Meinung nach auch ganz gut zur Zeltlageratmosphäre paßten, aber er packte noch eine Menge anderer Sachen in seinen Einkaufswagen – vier große Salamiwürste, fünf Pfund Reis, diverse Kekspackungen, Haferflocken, Rosinen, M&Ms, Büchsenfleisch, noch mehr Snickers, Sonnenblumenkerne, Grahamplätzchen, Instant-Kartoffelpüree, mehrere Streifen gedörrtes Rindfleisch, ein paar Käsestücke, Dosenschinken und die gesamte Auswahl unverderblicher Kuchen und Doughnuts, die der Hersteller Little Debbie im Angebot hat.

»Ich glaube nicht, daß wir das alles tragen können«, gab ich ängstlich zu bedenken, als er auch noch eine kommetgroße Mortadella in den Einkaufswagen legte.

Katz begutachtete den Wageninhalt mißmutig. »Du hast recht«, pflichtete er mir bei. »Fangen wir nochmal von vorne an.«

Er ließ den Wagen einfach stehen und ging los, um sich einen neuen zu holen. Wir drehten nochmal eine Runde und versuchten, diesmal eine intelligentere Auswahl zu treffen, hatten aber zum Schluß immer noch viel zu viel.

Wir brachten alles nach Hause, teilten es auf und machten uns ans Packen – Katz in dem Gästezimmer, wo auch sein übriger Kram lag, und ich in meinem Hauptquartier im Keller. Ich packte zwei Stunden lang, aber ich schaffte es nicht, alles reinzukriegen. Ich legte Bücher, Notizblöcke und die ganze Ersatzkleidung beiseite und probierte alle möglichen Kombinationen aus, aber jedesmal, – wenn ich fertig war, entdeckte ich ein großes und -wichtiges Teil, das übriggeblieben war. Schließlich ging ich nach oben, um zu sehen, wie Katz zurechtkam. Katz lag auf dem Bett und hatte seinen Walkman auf. Sein Zeug lag überall verstreut im Zimmer herum. Der neue Rucksack stand schlaff und vernachlässigt da. Ein leises rhythmisches Zischen tönte aus dem Kopfhörer.

»Willst du nicht packen?« sagte ich.

»Jaah.«

Ich wartete eine Minute lang. Ich dachte, er würde sich vom Bett erheben, aber er rührte sich nicht. »Entschuldige bitte, Stephen, aber ich habe den Eindruck, daß du dich hingelegt hast.«

»Jaah.«

»Kannst du mich eigentlich verstehen?«

»Jaah. Es dauert nur noch eine Minute.«

Ich seufzte und ging wieder runter in den Keller.

Beim Abendessen sprach Katz nur wenig und verschwand danach gleich wieder in seinem Zimmer. Wir hörten nichts weiter von ihm im Laufe des Abends, erst vor Mitternacht, als wir schon im Bett lagen, drang Lärm durch die Wand zu uns herüber – ein Poltern und Murmeln, Geräusche, als würden Möbel im Zimmer verrückt, und kurze heftige Wutausbrüche, gefolgt von lang anhaltenden Phasen der Stille. Ich hielt die Hand meiner Frau fest und wußte nicht, was ich sagen sollte. Am nächsten Morgen klopfte ich bei Katz an und steckte schließlich, da er nicht antwortete, den Kopf durch die Tür. Er schlief noch, angezogen, auf einem Haufen zerwühlter Bettwäsche. Die Matratze war ein Stück vom Bettkasten gerutscht, als hätte er sich mit irgendwelchen nächtlichen Eindringlingen herumgeschlagen. Sein Rucksack war voll, aber nicht zugebunden, und seine persönlichen Sachen lagen immer noch weiträumig im ganzen Zimmer verstreut. Ich sagte ihm, wir müßten in einer Stunde losfahren, wenn wir unseren Flug nicht verpassen wollten.

»Jaah«, sagte er.

20 Minuten später kam er die Treppe herunter, schwerfällig und unter leisem Gefluche. Man hörte, ohne hinzusehen, daß er seitlich und übervorsichtig ging, als wären die Stufen vereist. Den Rucksack hatte er aufgesetzt. Hinten und an beiden Seiten, überall waren irgendwelche Sachen festgebunden – ein Paar versiffte Turnschuhe, ein zweites Paar, offenbar normale Alltagsschuhe, dazu Töpfe und Pfannen, eine Laura-Ashley-Einkaufstasche, die er im Kleiderschrank meiner Frau gefunden und sich angeeignet hatte und die jetzt mit wer weiß was gefüllt war. »Besser habe ich es nicht hingekriegt«, sagte er. »Ich mußte ein paar Sachen hier lassen.«

Ich nickte. Ich mußte auch ein paar Sachen zu Hause lassen. An erster Stelle waren die Haferflocken zu nennen, die ich sowieso nicht mag, und die etwas ekligeren Kuchen von Little Debbie, will sagen, alle Kuchen von Little Debbie.

Meine Frau brachte uns bei dichtem Schneetreiben zum Flughafen nach Manchester, und wir verharrten in dem eigentümlichen Schweigen, das einer langen Trennung vorausgeht. Katz saß auf dem Rücksitz und aß Doughnuts. Am Flughafen überreichte mir meine Frau ein Geschenk der Kinder, einen Spazierstock mit Knauf, dem sie eine rote Schleife umgebunden hatten. Ich hätte in Tränen ausbrechen können – am liebsten wäre ich gleich wieder in den Wagen gestiegen und zurückgefahren. Katz mühte sich derweil noch stirnrunzelnd mit den vielen Gurten ab. Meine Frau kniff mich in den Arm, lächelte verlegen und ging.

Ich schaute ihr hinterher, dann betrat ich mit Katz den Terminal. Der Mann am Abfertigungsschalter warf einen Blick auf unsere Tickets nach Atlanta und sagte in einem – wie ich fand -ziemlich alarmierenden Ton für einen Menschen, der im Winter mit kurzärmeligem Hemd herumlief: »Haben Sie vor, den Appalachian Trail entlangzuwandern?«

»Und ob!« sagte Katz mit stolzgeschwellter Brust.

»Die haben gerade eine Menge Ärger mit den Wölfen, da unten in Georgia.«

»Tatsächlich?« Katz spitzte die Ohren.

»Ja, ja. Sind kürzlich ein paar Leute angefallen worden. Ziemlich übel zugerichtet, wie ich gehört habe.« Er ließ sich noch etwas Zeit mit den Tickets und den Gepäckanhängern.

»Hoffentlich haben Sie genug lange Unterhosen eingepackt.«

Katz verzog schmerzlich das Gesicht. »Gegen die Wölfe?«

»Nein, gegen das Wetter. Es soll die nächsten vier, fünf Tage eine Rekordkälte geben. Weit unter null Grad heute abend in Atlanta.«

»Na wunderbar«, sagte Katz und stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Er sah den Mann herausfordernd an. »Sonst noch Neuigkeiten für uns? Anruf vom Krankenhaus, wir hätten Krebs, oder so?«

Der Mann strahlte und knallte die Tickets auf den Schalter. »Nein, das war’s. Trotzdem gute Reise. Ach, noch etwas«, er wandte sich direkt an Katz, senkte dabei die Stimme, »hüten Sie sich vor den Wölfen, denn ganz im Vertrauen, Sie sehen aus wie ein richtiger Leckerbissen.« Er zwinkerte scherzhaft.

»Meine Güte«, sagte Katz mit kaum hörbarer Stimme und wirkte plötzlich sehr, sehr trübsinnig.

Wir fuhren mit dem Aufzug zu unserem Flugsteig. »Und dann geben sie einem auf diesem Flug nicht mal was Anständiges zu essen«, stellte er abschließend mit ungewöhnlicher Bitterkeit fest.