6. Kapitel
Geht man zu Fuß durch die Welt, nimmt man Entfernungen vollkommen anders wahr. Ein Kilometer ist ein Spaziergang, zwei Kilometer sind ein weiter Weg, zehn Kilometer ein ordentlicher Marsch, und 50 Kilometer hegen fast jenseits der Vorstellungskraft. Die Welt wird, das merkt man schnell, zu einem Riesenreich, das nur Sie und die kleine Schar Ihrer Mitwanderer kennen. Globales Denken heißt Ihr kleines Geheimnis.
Außerdem ist das Leben einfach und geregelt. Zeit hat nicht die geringste Bedeutung mehr. Wenn es dunkel wird, legt man sich schlafen, wenn es hell wird, steht man auf, und alles, was dazwischen liegt, ist das, was dazwischen liegt. Mehr nicht. Es ist herrlich. Wirklich, glauben Sie mir. Man hat keine Termine, keine Bindungen, keine Verpflichtungen und keine Aufgaben, man hat auch keine besonderen Ambitionen, man hat nur die kleinsten, schlichtesten Wünsche, die sich leicht erfüllen lassen. Man existiert in einem Zustand der gelassenen Langeweile, der keine Aufgeregtheit etwas anhaben kann, »endlos fern von den Stätten des Streits«, wie es einer der früheren Forscher und Pflanzenkundler, William Bartram, ausdrückte. Das einzige, was einem abverlangt wird, ist die Bereitschaft weiterzutrotten.
Eile ist völlig fehl am Platz, weil man nirgendwo hin muß. Egal, wie weit oder lange man wandert, man ist immer am gleichen Ort, im Wald. Da war man gestern, und da wird man morgen wieder sein. Der Wald ist grenzenlos in seiner Einzigartigkeit. Hinter jeder Wegbiegung eröffnet sich ein Ausblick, der sich von allen vorherigen nicht unterscheidet, und ein Blick in die Baumkronen bietet immer das gleiche Gewirr. Es könnte passieren, daß man sinnlos im Kreis geht, man würde es nicht merken. Aber eigentlich wäre das auch egal.
Es gibt Momente, da ist man sich fast sicher, diesen einen Hügel vor drei Tagen schon mal hinaufgekraxelt zu sein, jenen Bach gestern schon mal überquert zu haben, und über diesen gestürzten Baum heute mindestens schon zweimal gestiegen zu sein, aber meistens kommt man gar nicht zum Denken. Es hat keinen Sinn. Statt dessen befindet man sich in einem Zustand, den man als Zen der Bewegung bezeichnen könnte. Der Verstand ist wie ein Fesselballon mit Seilen angebunden und begleitet den restlichen Körper nur, ist aber kein Teil von ihm. Das stundenlange, kilometerweite Gehen wird zu einer automatischen Angelegenheit, es geschieht fast ohne daß man es bemerkt, wie das Atmen. Am Ende des Tages denkt man nicht: »Mensch, heute habe ich 25 Kilometer geschafft«, genauso wenig wie man denkt: »Heute habe ich achttausendmal ein- und ausgeatmet.« Man macht es einfach. Punkt.
Und so marschierten wir also, Stunde um Stunde, über Hügel und Berge, wie auf einer Achterbahn, messerscharfe Kämme entlang und über grasbewachsene Kuppen, durch unermeßlich tiefe Wälder – Eiche, Esche, Kastanie und Fichte. Der Himmel wurde düsterer und die Luft kühler, aber erst am dritten Tag setzte der Schneefall ein. Es fing morgens an, mit einzelnen hauchzarten« Flocken, kaum wahrnehmbar. Dann kam Wind auf, und noch mehr Wind, bis er mit einer das Weltende ankündigenden Macht wehte, die selbst die Bäume in Angst und Schrecken versetzte. Mit dem Wind kam der Schnee, riesige Mengen. Um die Mittagszeit mußten wir gegen einen kalten, scharfen, wütenden Sturm ankämpfen, und kurz danach gelangten wir an ein schmales Gesims, über das der Weg eine Felswand entlang führte, Big Butt Mountain.
Selbst bei idealen Wetterbedingungen erfordert der Pfad um den Big Butt viel Vorsicht und Geschick. Er sieht aus wie eine Fensterbank an einem Hochhaus, ist knapp 40 Zentimeter breit, an manchen Stellen bröckelig, zur einen Seite tut sich ein jäher Abgrund von etwa 25 Meter auf, zur anderen ragt eine bedrohlich steile Granitwand auf. Ein paarmal trat ich fußgroße Steinbrocken los und sah mit lähmendem Entsetzen, wie sie in die tiefsten Tiefen hinunterkrachten, ihren ewigen Ruhestätten entgegen. Der Pfad war mit Steinen gepflastert, durchwirkt von mäandernden Baumwurzeln, gegen die man fortwährend stieß oder über die man stolperte, und die, verdeckt unter einer Schicht Pulverschnee, von einer spiegelblanken Eisschicht überzogen waren. In häufigen, ermüdenden Abständen wurde der Weg von tiefen Bächen mit steinigem Grund gekreuzt, die zugefroren und vom Eis wie geriffelt waren und die man nur auf allen vieren überqueren konnte. Während der ganzen Zeit, in der wir diese irrsinnig schmale, gefährliche Kante entlanggingen, waren wir vom Schneegestöber wie geblendet und wurden von Windböen, die zwischen den schwankenden Bäumen pfiffen und uns an den Rucksäcken packten, beinahe umgestoßen. Das war kein Schneesturm, das war ein Schneegewitter. Wir kamen nur mit äußerster Behutsamkeit vorwärts, setzten den führenden Fuß erst ganz auf, bevor wir den hinteren hoben. Dennoch stieß Katz zweimal aus tiefster Seele comichafte Schreckenslaute von sich – Neihhhn! und Buahhh! –, als er nämlich den Halt verlor und ich mich umdrehte und sah, daß er mit angstgeweiteten Augen einen Baum umklammert hielt und mit strampelnden Füßen halb in der Luft hing.
Es war nervenaufreibend. Wir brauchten zwei Stunden für 100 Meter. Als wir endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, in Bearpen Gap, lag der Schnee über zehn Zentimeter hoch, und es schneite immer noch. Die ganze Welt war weiß und voller münzengroßer Flocken, die schräg zur Erde fielen, bevor sie vom Wind aufgewirbelt und in alle Richtungen verweht wurden. Die Sichtweite betrug knapp fünf Meter, häufig nicht einmal das.
Der Pfad kreuzte eine Forststraße und führte dann direkt den Albert Mountain hinauf, einem steinigen Gipfel, 1.600 Meter über dem Meeresspiegel. Unten wehte ein heftiger und wütender Wind, der mit ohrenbetäubendem Sausen auf den Berg traf, so daß wir uns anbrüllen mußten, um uns zu verständigen. Wir kletterten ein Stück weit hinauf und zogen uns schleunigst wieder zurück. Mit einem schweren Rucksack hat man bestenfalls keinen richtigen Schwerpunkt, aber wir wurden hier beinahe im wahrsten Sinne des Wortes vom Winde verweht. Verwirrt standen wir am Fuß des Gipfels und sahen uns an. Es war wirklich eine prekäre Lage. Wir saßen fest zwischen einem Berg, den wir nicht erklimmen konnten, und einem Sims, über das wir auf keinen Fall zurückgehen wollten. Die einzige Möglichkeit, die uns < blieb, war, unsere Zelte aufzuschlagen – wenn das bei dem Wind überhaupt möglich war –, hineinzukriechen und das Beste zu hoffen. Ich will nicht übertreiben, aber es sind schon Menschen unter weniger dramatischen Umständen umgekommen.
Ich setzte meinen Rucksack ab und suchte die Wanderkarte. Die Karten für den Appalachian Trail sind dermaßen unbrauchbar, daß ich längst aufgegeben hatte, sie zu Rate zu ziehen. Es gibt Unterschiede, aber die meisten sind unergründlicherweise im Maßstab l: 100.000 gezeichnet, wodurch 1.000 Meter im Gelände auf der Karte zu einem einzigen Zentimeter schrumpfen. Stellen Sie sich einen Quadratkilometer Landschaft vor, und dazu alles, was sich auf dem Gebiet befindet – Forstwege, Bäche, ein oder zwei Gipfel, vielleicht ein Feuerwachturm, eine Kuppe, ein« grasbewachsene kahle Erhebung, der Appalachian Trail, und möglicherweise noch ein oder zwei Nebenwanderwege –, und nun versuchen Sie mal, diese ganze Information auf einer Fläche von der Größe eines Fingernagels unterzubringen. So sind die Karten für den AT.
Eigentlich ist es sogar noch schlimmer, denn die AT-Karten sind aus mir völlig unverständlichen Gründen viel unvollständiger in den Details, als nach dem ohnehin dürftigen Maßstab nötig wäre. Von den zwölf oder noch mehr Gipfeln, die man auf zehn bis 15 Kilometern des Weges überquert, benennt die Karte vielleicht gerade mal drei. Täler, Seen, Schluchten, Bäche und andere wichtige, möglicherweise lebenswichtige topographische Merk- male bleiben notorisch unbezeichnet. Die Straßen und Wege des Forest Service sind oft nicht eingezeichnet, und wenn doch, dann sind sie uneinheitlich dargestellt. Selbst Nebenwege werden häufig ausgelassen. Es gibt keine Koordinaten und somit keine Möglichkeit, im Notfall Retter an eine bestimmte Stelle zu dirigieren, und es finden sich keine Hinweise auf Städte, die unmittelbar jenseits des Kartenrandes liegen. Mit einem Wort, die AT-Karten sind absolut untauglich.
Unter normalen Umständen wäre das nur ärgerlich. Jetzt aber, in einem Schneesturm, grenzte es an Fahrlässigkeit. Ich zerrte die Karte aus meinem Rucksack und mußte schwer gegen den Wind ankämpfen, um einen Blick auf sie werfen zu können. Der Weg war als rote Linie eingezeichnet. In ihrer Nähe befand sich eine dicke schwarze Linie, die nach meiner Einschätzung der Forstweg des Forest Service sein mußte, neben dem wir standen, aber das ließ sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Nach der Karte zu urteilen, fing der Forstweg, wenn es denn einer war, mitten im Wald an und endete nach ungefähr zehn Kilometern ebenfalls mitten im Wald, was nun wirklich eindeutig unsinnig war, ja unmöglich. Eine Straße kann schlecht mitten im Nichts anfangen, die Straßenbaumaschinen fallen ja nicht vom Himmel. Und selbst wenn man eine Straße baute, die ins Nichts führte – wieso? Irgend etwas war faul an dieser Karte.
»Hat mich elf Dollar gekostet«, sagte ich zu Katz und wedelte ihm dabei wütend mit der Karte vor der Nase herum, faltete sie dann wieder einigermaßen flach zusammen und steckte sie in die Tasche.
»Was sollen wir machen?« fragte er.
Ich seufzte unsicher, zog dann wieder die Karte hervor und studierte sie noch mal. Ich schaute von der Karte hoch auf den Forstweg und wieder zurück. »Es sieht so aus, als würde der Forstweg um den Berg herumführen und auf der anderen Seite wieder auf den Wanderweg stoßen. Wenn das stimmt – und wenn Wir ihn finden, dann könnten wir zu der Schutzhütte gehen, die sich an der Stelle befindet. Und wenn wir nicht auf den Weg stoßen – ich weiß nicht – ich finde, dann sollten wir den Forst-Weg lieber bergab gehen und uns auf niedrigerer Höhe einen windgeschützten Platz zum Zelten suchen.« Ich zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich weiß auch nicht. Was meinst du?«
Katz sah in den Himmel, beobachtete die tanzenden Schneeflocken. »Also wenn du mich fragst«, sagte er nachdenklich, »ich» würde mich jetzt gern lange und ausgiebig in einem Whirlpool rekeln. Danach hätte ich gern ein saftiges Steak, dazu eine Folienkartoffel mit viel Sahnesoße, becherweise Sahnesoße, und dann eine heiße Nacht mit den Cheerleadern der Dallas Cowboys auf einem Tigerfell vor einem knisternden Kaminfeuer, so einem riesigen Kamin aus Stein, wie sie immer in den Skihotels stehen. Weißt du, welche ich meine?« Er sah mich fragend an. Ich nickte. »Also, das würde ich jetzt machen. Aber wenn du meinst, das, was du vorschlägst, würde mehr Spaß machen, bin ich gerne bereit, darauf einzugehen.« Er zupfte sich eine Schneeflocke von der Augenbraue. »Außerdem wäre es schade, wenn wir diesen ganzen herrlichen Schnee verpassen würden.« Er stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus und wandte sich wieder dem irren Schneetreiben zu. Ich setzte meinen Rucksack auf und folgte ihm.
Wir stapften den Forstweg hoch, tiefer gebeugt, vom Wind gepeitscht. An den Stellen, wo der Schnee liegenblieb, war er naß und schwer und türmte sich immer höher, so daß es bald unmöglich sein würde weiterzugehen und wir Schutz suchen mußten, ob wir wollten oder nicht. Es gab nichts, wo man ein Zelt hätte aufschlagen können, bemerkte ich mit Besorgnis, zu beiden Seiten nur steiler, bewaldeter Hang. Über eine lange Strecke, länger als er laut Karte sein sollte, verlief der Forstweg schnurgerade, selbst wenn er weiter vorn auf den Wanderweg abbog, gab es keine Gewißheit – nicht mal eine Wahrscheinlichkeit –, daß wir den Trail auch tatsächlich finden würden. Mitten im Wald und bei dem Schnee konnte man wenige Meter neben dem Trail stehen und ihn trotzdem nicht sehen. Es wäre der reine Wahnsinn gewesen, den Forstweg zu verlassen und den Wanderweg zu suchen. Andererseits war es wahrscheinlich genauso wahnsinnig, dem Forstweg bei Schneesturm bis in höchste Lagen zu folgen.
Ganz allmählich, und schließlich deutlich erkennbar, fing der Weg an, um den Berg herum zu führen. Nachdem wir uns ungefähr eine Stunde lang schwerfällig durch immer tieferen Schnee vorgearbeitet hatten, kamen wir an eine flache Stelle, wo der Wanderweg – jedenfalls irgendein Wanderweg – auf der Rückseite des Albert Mountain auftauchte und weiter in ein ebenes Waldgebiet führte. Ich sah verdutzt und wütend auf meine Karte. Sie enthielt keinerlei Hinweis auf diese Stelle, aber dann entdeckte Katz eine -weiße Markierung 15 Meter weiter zwischen den Bäumen, und wir schrien vor Freude. Wir hatten den Appalachian Trail wiedergefunden. Nur ein paar hundert Meter weiter befand sich eine Schutzhütte. Der Wandergott war uns noch einmal gnädig gewesen.
Der Schnee reichte uns schon bis zu den Knien, und wir waren müde. Wir staksten durch die weiße Pracht, so gut es ging, und Katz schrie noch einmal vor Freude auf, als wir an ein Hinweisschild kamen, das an einem Ast befestigt war und auf einen Weg zum Big Spring Shelter hinwies. Die Schutzhütte, eine einfache Holzkonstruktion, zu einer Seite offen, stand auf einer verschneiten Lichtung, einem traumhaften Winterwunderland, gut 100 Meter neben dem Hauptwanderweg. Selbst aus der Entfernung konnten wir erkennen, daß die offene Seite dem Wind zugekehrt war und daß eine Schneewehe bis zum Rand des Schlafpodestes reichte. Wenn schon nicht mehr, dann bot die Hütte wenigstens eine Zuflucht.
Wir überquerten die Lichtung, setzten unsere Rucksäcke auf dem Podest ab und sahen im selben Moment, daß noch zwei andere Menschen da waren – ein Mann und ein etwa 14 Jahre alter Junge. Jim und Heath, Vater und Sohn, kamen aus Chattanooga, und die beiden waren gutgelaunt, freundlich und ließen sich nicht im mindesten von dem Wetter abschrecken. Sie seien nur für eine Wochenendtour hergekommen, sagten sie uns (ich hatte gar nicht gemerkt, daß Wochenende war), und wußten, daß das Wetter schlimm werden würde, deswegen waren sie entsprechend ausgerüstet. Jim hatte eine große Plastikfolie gekauft, mit der sonst Maler den Boden auslegen, und versuchte gerade, damit die offene Vorderfront abzudichten. Katz eilte zur Hilfe, was ganz untypisch für ihn war. Die Plastikfolie reichte nicht, aber dann fanden wir heraus, daß sie, verknüpft mit einem unserer Zeltböden, doch die gesamte Front abdeckte. Der Wind brauste hart gegen die Folie, und gelegentlich riß sie sich teilweise los, dann flatterte und knatterte sie, klatschte zurück, was sich wie ein Pistolenschuß anhörte, bis einer von uns aufsprang und sie unter Mühen wieder festband. Die ganze Schutzhütte war sowieso unglaublich zugig, in den seitlichen Holzplanken und den Boden-dielen waren Risse, durch die eisiger Wind pfiff und ab und zu eine Schneeböe; trotzdem war es natürlich viel gemütlicher als draußen.
Wir schufen uns ein kleines Zuhause, breiteten unsere Isomatten und Schlafsäcke aus, zogen alle Ersatzkleider an, die wir dabeihatten und bereiteten unser Essen im Liegen zu. Sehr bald setzte die Dämmerung ein, die die Wildnis draußen noch undurchdringlicher erscheinen ließ. Jim und Heath hatten Schokoladenkuchen dabei, den sie mit uns teilten (ein himmlisches Vergnügen), danach richteten wir vier uns auf eine lange, kalte Nacht auf hartem Holzboden ein und lauschten dem geisterhaften Wind und seinem wütenden Zerren an den Ästen.
Als ich aufwachte, herrschte reine Stille um mich herum, eine Stille, die einen zwingt, sich aufzurichten und sich erstmal zu orientieren. Die Plastikfolie vor mir war ungefähr ein Fußbreit hochgeschlagen, und ein schwaches Licht erfüllte den Raum dahinter. Der Schnee reichte fast bis zum Podest und lag am Fußende meines Schlafsacks ein paar Zentimeter hoch. Ich bewegte die Beine und schüttelte ihn damit ab. Jim und Heath rumorten bereits. Katz schlief noch tief und fest, einen Arm quer über der Stirn, den Mund weit aufgerissen, wie ein großes Loch. Es war noch keine sechs Uhr.
Ich beschloß aufzustehen und das Gelände zu erkunden, um zu sehen, ob wir nicht etwa in einer Falle saßen. Am Rand des Podestes zögerte ich, dann sprang ich hinunter in die Schneeverwehung – sie reichte mir bis zur Taille, und meine Augen weiteten sich vor Schreck, als der Schnee ins Hosenbein geriet und auf die nackte Haut kam – und kämpfte mich vor bis zur Lichtung, wo der Schnee nicht ganz so tief war. Selbst an geschützten Stellen, unter einem Dach aus Nadelbäumen, lag der Schnee kniehoch, und es war mühsam, sich einen Weg zu bahnen. Der Anblick war trotzdem überwältigend. Jeder Baum trug einen dicken weißen Pelz, jeder Stumpf und Stein ein flottes Schneehütchen, und es herrschte jene phantastische Stille, die sich nur in einem großen verschneiten Wald einstellt. Hier und da plumpsten Schneeklumpen von den Zweigen, aber sonst gab es kein Geräusch und keine Bewegung. Ich folgte dem Seitenweg unter den schwer beladenen, tiefhängenden Ästen bis zu der Kreuzung, an der er auf den Trail traf. Der AT lag unter einer dicken Schneedecke, rundlich und bläulich, ein langes, schummriges Gewölbe aus Rhododendren. Das sah nach einem höchst beschwerlichen Weg aus. Ich stapfte ein paar Meter vor, um zu testen, wie es sich ging. Es sah nicht nur so aus, es war tatsächlich ein höchst beschwerlicher Weg.
Als ich wieder zur Hütte kam, war Katz aufgestanden, bewegte sich langsam, gab sich dem allmorgendlichen Stöhnen und Räkeln hin. Jim studierte seine Karten, die viel genauer waren als meine. Ich hockte mich neben ihn, und er machte Platz, damit ich auch etwas sehen konnte. Bis Wallace Gap und zu einer asphaltierten Straße, der alten U.S. 64, waren es 9,8 Kilometer. Anderthalb Kilometer weiter die Straße entlang lag der Rambow Spring Campground, ein Campingplatz mit Duschen und einem Laden. Ich hatte keine Ahnung, wie schwierig es sein würde, zehn Kilometer durch den tiefen Schnee zu wandern, und ich konnte auch nicht darauf bauen, daß der Platz zu dieser Jahreszeit bereits geöffnet war. Dennoch war klar, daß diese Schneemassen in den kommenden paar Tagen nicht schmelzen würden, und irgendwann mußten wir ja sowieso gehen, warum dann nicht gleich jetzt, wo es noch hübsch und ruhig war. Wer weiß, was passieren würde, wenn ein neuer Schneesturm einsetzte und wir dann erst recht aufgeschmissen wären.
Jim hatte beschlossen, daß er und Heath uns die ersten paar Stunden begleiten und dann auf einen Nebenwanderweg abbiegen würden, den Long Branch, der auf 2,7 Kilometern steil in eine Schlucht hinabführte und an einem Parkplatz endete, auf dem sie ihren Wagen abgestellt hatten. Jim war den Long Branch Trail bereits mehrere Male entlanggewandert und wußte, was auf ihn zukam. Trotzdem gefiel mir schon der Name nicht, und ich fragte Jim zögerlich, ob es wirklich gut sei, einen wenig benutzten Nebenweg zu gehen, unter wer weiß was für Bedingungen, wo niemand sie finden würde, wenn er und sein Sohn in Gefahr gerieten. Katz pflichtete mir zu meiner Erleichterung bei. »Auf dem AT sind wenigstens immer noch andere Leute«, sagte er. »Auf den Nebenwegen weiß man nie, was einem passieren kann.« Jim überlegte kurz und sagte, sie würden zurückkommen, wenn es zu brenzlig werden würde.
Katz und ich gönnten uns zwei Tassen Kaffee, um warm zu werden, und Jim und Heath gaben uns von ihren Haferflocken ab, was Katz in Hochlaune versetzte. Dann machten wir uns alle vier auf den Weg. Es war kalt, und das Gehen fiel schwer. Das Gewölbe aus tiefhängenden Rhododendronbüschen, das sich über lange Wegstrecken hinzog, war zwar ausnehmend hübsch anzusehen, aber wenn der Rucksack die Zweige streifte, entluden sich Schneemassen auf unsere Köpfe und rutschten in den Nacken hinunter. Die drei Erwachsenen gingen abwechselnd voran, denn die erste Person bekam immer das meiste ab und mußte zudem noch die Spur im Schnee austreten, was ziemlich anstrengend war.
Der Long Branch Trail führte steil zwischen Fichten bergab, für mein Empfinden zu steil, um ihn wieder hochzuklettern, wenn sich der Weg als unpassierbar erwies, und so sah er aus. Katz und ich bedrängten Jim und Heath, sich die Sache noch einmal zu überlegen, aber Jim meinte, der Weg ginge nur bergab und sei gut markiert und er sei sicher, daß nichts passieren werde. »Wißt ihr, was heute für ein Tag ist?« sagte Jim plötzlich und lieferte auch gleich die Antwort, als er unsere fragenden Mienen sah. »Der 21. März.«
Unsere Mienen blieben unverändert.
»Frühlingsanfang«, sagte er.
Wir mußten über diese Ironie des Schicksals lachen, dann gaben wir uns die Hand, wünschten uns gegenseitig gutes Gelingen und trennten uns. Katz und ich stiefelten noch drei Stunden schweigsam durch den kalten, verschneiten Wald und wechselten uns beim »Schneepflügen« ab. Gegen ein Uhr kamen wir schließlich an die alte U.S. 64, eine abgeschiedene, stillgelegte zweispurige Straße quer durch die Berge. Sie war nicht geräumt worden, und man sah keine Reifenspuren. Es fing wieder an zu schneien, und die Flocken fielen ganz gleichmäßig, was sehr hübsch aussah. Wir folgten der Straße Richtung Campingplatz und waren gerade einige hundert Meter weit gegangen, als wir hinter uns das knirschende Geräusch eines schweren Kraftfahrzeuges vernahmen, das sich vorsichtig seinen Weg durch den Schnee bahnte. Wir drehten uns um und sahen ein großes jeepähnliches Gefährt auf uns zurollen. Das Fenster an der Fahrertür glitt herunter. Es waren Jim und Heath. Sie wollten uns nur Bescheid geben, daß sie es geschafft hatten, und sie wollten wissen, wie es uns ergangen sei. »Wir können euch zum Campingplatz mitnehmen, wenn ihr möchtet«, sagte Jim.
Wir stiegen dankbar ein, verschmutzten das schöne Auto mit reichlich Schnee und fuhren zum Campingplatz. Jim sagte uns, daß sie auf der Hinfahrt an dem Platz vorbeigekommen seien und daß es so ausgesehen habe, als sei geöffnet, aber daß sie uns bis zur nächsten Stadt, Franklin, bringen würden, wenn er geschlossen wäre. Sie hatten schon den Wetterbericht gehört. Für die nächsten Tage war noch mehr Schnee angekündigt.
Die beiden setzten uns am Campingplatz ab – er war tatsächlich geöffnet – und -winkten zum Abschied. Rainbow Springs war ein kleiner privater Platz mit mehreren Hütten zum Übernachten, einem Waschraum und einigen Nebengebäuden, die verstreut um einen größeren, ebenen, offenen Platz herum gruppiert waren, der wohl für Campingbusse und Wohnmobile gedacht war. In einem alten weißen Haus am Eingang war das Büro un-tergebracht, das gleichzeitig Haushaltswarenladen und Lebensmittelgeschäft war. Wir traten ein und stellten fest, daß alle Wanderer, denen wir auf den letzten 30 Kilometern begegnet waren, sich bereits eingefunden hatten; die meisten hockten um einen großen Holzofen herum, wärmten sich, aßen Chili oder leckten Eis, hatten rote Backen und sahen proper aus. Drei oder vier von ihnen kannten wir schon. Die Betreiber des Campingplatzes waren Buddy und Jensine Crossman, die einen angenehmen und freundlichen Eindruck machten, und wenn es nur daran lag, daß die Geschäfte im Monat März selten so gut liefen wie in diesem Jahr. Ich erkundigte mich nach einer Hütte.
Jensine drückte ihre Zigarette aus und lachte über meine naive Frage, was gleich einen kleinen Hustenanfall bei ihr auslöste. »Die Hütten sind seit zwei Tagen ausgebucht, mein Lieber. In der Schlafbaracke sind noch zwei Plätze frei. Alle, die danach kommen, müssen auf dem Boden schlafen.«
Schlafbaracke ist kein Wort, das man in meinem Alter besonders gern hört, aber uns blieb keine andere Wahl. Wir trugen uns ins Gästebuch ein, bekamen zwei sehr kleine, brettharte Handtücher und stapften über den Platz unserem Quartier entgegen, gespannt, was man für elf Dollar erwarten durfte. Die Antwort lautete: am besten gar nichts.
Das Barackenlager war so spartanisch und häßlich, daß einem gruselte. Der Raum wurde beherrscht von zwölf schmalen Schlafkojen aus Holz, jeweils drei übereinander. Auf jeder Koje lag eine dünne, nackte Matratze und ein schmuddeliges, mit Schaumstoffschnipseln gefülltes Kissen ohne Bezug. In einer Ecke stand ein leise vor sich hin zischender Kanonenofen, von einem Halbkreis ausgelatschter Wanderschuhe umstellt und mit nassen Wollsocken behängt, von denen üble Dämpfe aufstiegen. Ein kleiner Holztisch und zwei kaputte Sessel, aus denen die Polsterung hervorquoll, vervollständigten das Mobiliar. Überall lagen Sachen herum – Zelte, Kleider, Rucksäcke, Regenhauben - zum Trocknen aufgehängt, träge tropfend. Der Boden war aus nacktem Beton, die Wände aus nicht isolierten Spanplatten. Es war das Gegenteil von einladend, etwa so, als würde man in einer Garage campen.
»Willkommen im Gulag«, sagte ein Mann mit einem ironischen Grinsen und britischem Akzent. Er hieß Peter Fleming, war Dozent in New Brunswick und für eine Woche zum Wandern in den Süden gekommen, aber dann, wie wir alle, vom Schnee überrascht worden. Er stellte uns die anderen vor – jeder grüßte mit einem freundlichen, aber abwesenden Nicken – und deutete auf die beiden freien Betten, eins ganz oben, fast unter der Decke, das andere ganz unten, am anderen Ende des Raums.
»Rot-Kreuz-Päckchen werden jeden letzten Freitag im Monat ausgegeben, und heute abend um 19 Uhr trifft sich das Ausbruchskomitee zur Lagebesprechung. Mehr braucht ihr vorerst nicht zu wissen.«
»Und bestellt bloß nicht das Philly-Sandwich, wenn ihr nicht die ganze Nacht kotzen wollt«, tönte eine schwache, aber aufrichtige Stimme von einer finsteren Koje in der Ecke.
»Das ist Tex«, erklärte Fleming. Wir nickten.
Katz suchte sich das oberste Bett aus und begab sich an die langwierige, herausfordernde Aufgabe, es zu erklimmen. Ich ging zu meiner eigenen Koje und untersuchte sie fasziniert und angewidert zugleich. Nach den Flecken auf der Matratze zu urteilen, hatte der letzte Benutzer nicht an Inkontinenz gelitten, sondern sich vielmehr ihrer erfreut. Offenbar hatte er das Kissen in seine Freuden mit einbezogen. Ich nahm es in die Hand und roch daran, was ich lieber hätte bleiben lassen sollen. Ich breitete meinen Schlafsack aus, hängte ein Paar Socken über den Ofen und noch ein paar andere Sachen zum Trocknen auf, setzte mich dann auf die Bettkante und verbrachte eine gemütliche halbe Stunde gemeinsam mit dem Rest der Stube damit, Katz bei seinem verbissenen Kampf, in die Koje zu gelangen, zuzuschauen. Es wurde alles geboten, tiefes Grunzen, zappelnde Beine, Flüche und Aufforderungen an die Zuschauer, sie könnten ihn gefälligst mal am Arsch lecken. Ich konnte von meinem Platz aus allerdings nur seinen enormen Hintern und seine Gliedmaßen erkennen.
Seine Haltung ließ an einen Schiffbrüchigen denken, der sich an einem in der rauhen See treibenden Wrackteil festhielt, oder an jemanden, der von einem Wetterballon, den er gerade hatte starten wollen, unerwarteterweise in die Luft hochgehoben worden war – auf alle Fälle an jemand, der sich in einer gefährlichen Situation ans Leben klammerte. Ich packte mein Kissen, ging zu ihm und fragte ihn, warum er nicht einfach mein Bett nahm.
Sein Gesicht war erhitzt und zerfurcht, ich bin mir nicht einmal sicher, ob er mich in diesem Moment erkannte. »Weil Wärme nach oben steigt, deswegen«, sagte er, »und wenn ich oben bin -falls es je dazu kommen sollte –, dann lasse ich mich schön rösten.« Ich nickte zustimmend – wenn Katz aus der Puste war oder sich in etwas verbissen hatte, war es sinnlos, vernünftig mit ihm zu diskutieren – und nutzte die Gelegenheit, heimlich unsere Kissen zu tauschen.
Als das Bild des Jammers einfach nicht mehr zu ertragen war, schubsten wir Katz zu dritt hoch. Er plumpste schwer auf, wobei die Holzbretter beängstigend knackten, was den armen stillen Manninder Koje darunter in Panik versetzte. Dann verkündete Katz, er werde sich so lange nicht vom Fleck rühren, bis aller Schnee geschmolzen sei und der Frühling in den Bergen Einzug gehalten habe. Damit kehrte er uns den Rücken zu und schlief ein.
Ich stapfte durch den Schnee hinüber in den Waschraum, aus purer Lust, in eisiges Wasser zu patschen, begab mich dann zu dem Laden und lungerte mit einem halben Dutzend anderer Leute um den Ofen herum. Was sollte man sonst machen? Ich verdrückte zwei Teller Chili, die Spezialität des Hauses, und lauschte der allgemeinen Unterhaltung. Sie wurde zwar hauptsächlich von Buddy und Jensine bestritten, die über die Gäste des Vortags meckerten, aber es tat gut, mal andere Stimmen als die von Katz zu hören.
»Die hättet ihr mal sehen sollen«, sagte Jensine angewidert und zupfte sich einen Tabakkrümel von der Lippenspitze. »Kein Bitte, kein Danke. Nicht wie ihr, Leutchen. Ihr seid ja die reinste Frischzellenkur dagegen, könnt ihr mir glauben. Und die Schlafbaracke haben sie in einen regelrechten Schweinestall verwandelt. Stimmt’s, Buddy?« Sie gab das Kommando an Buddy weiter.
»Hat mich eine Stunde Saubermachen heute morgen gekostet«, sagte er verbittert. Die Bemerkung verblüffte mich, denn die Schlafbaracke sah aus, als hätte sie in den letzten 100 Jahren keinen Besen gesehen. »Auf dem Boden waren überall Pfützen, und einer, ich weiß nicht wer, hat ein verdrecktes altes Baumwollhemd dagelassen, das einfach ekelhaft war. Und obendrein haben sie alles Brennholz verbraucht. Gestern habe ich das Holz von drei Tagen Holzhacken reingeschafft, und die haben alle Scheite verbrannt.«
»Wir waren heilfroh, als sie abgehauen sind«, sagte Jensine. »Heilfroh. Die waren nicht wie ihr, Leutchen. Ihr seid ja die reinste Frischzellenkur dagegen, könnt ihr mir glauben.« Dann zog sie von dannen, -weil das Telefon klingelte. Ich saß neben einem der drei Studenten von der Rutgers Umversity, denen wir seit dem zweiten Tag immer wieder über den Weg gelaufen waren. Sie hatten jetzt eine Hütte für sich, aber die Nacht davor hatten sie in der Schlafbaracke verbracht. Er beugte sich zu mir herüber und raunte mir im Flüsterton zu: »Das gleiche hat sie gestern über die Leute gesagt, die vorgestern hier waren. Und morgen sagt sie das gleiche über uns. Gestern abend waren wir 15 in der Schlafbaracke.«
»15?« wiederholte ich entgeistert. Mit zwölf war es ja schon kaum noch erträglich. »Wo haben denn die überzähligen drei gepennt?«
»Auf dem Boden. Und mußten trotzdem die elf Dollar abdrücken. Wie schmeckt dir das Chili?«
Ich sah auf meinen Teller, als hätte ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, und es stimmte, ich hatte mir tatsächlich noch keine Gedanken über das Essen gemacht. »Eigentlich grauenvoll.«
Er nickte. »Warte ab, wenn du es erstmal zwei Tage hintereinander gegessen hast.«
Auf dem Weg zurück zur Schlafbaracke schneite es immer noch, allerdings nicht mehr so heftig. Katz war wach und schwer beschäftigt, rauchte eine geschnorrte Zigarette und bat die Leute, ihm verschiedene Sachen – Schere, Halstuch, Streichhölzer – heraufzureichen, wenn er sie brauchte, und sie ihm wieder abzunehmen, wenn er fertig war. Drei Leute standen am Fenster und sahen hinaus in den Schnee. Die Unterhaltung drehte sich ausschließlich ums Wetter. Schwer zu sagen, wann wir hier herauskämen. Es war unmöglich, sich nicht wie ein Gefangener zu fühlen.
Wir verbrachten eine miserable Nacht auf unseren Kojen, beim schwachen Licht der flackernden Glut im Ofen, den der schüchterne Mensch eifrig fütterte – er konnte oder wollte wegen der sich hin und her wälzenden Körpermasse von Katz, der die Bretter direkt über seinem Kopf durchbog, nicht schlafen. Man war eingelullt von einer Gemeinschaftssymphonie aus nächtlichen Geräuschen, Seufzern, müdem Ausatmen, schepperndem Schnarchen, dem ununterbrochenen Todesröcheln des Mannes, der das Philly-Sandwich mit Bratenaufschnitt und Käse gegessen hatte, und dem eintönigen Zischen des Ofens. Es war wie der Soundtrack zu einem alten Film. Wir wachten steif und unausgeschlafen bei einem trüben Tagesanbruch auf. Es schneite, und uns blieb nur die entmutigende Aussicht auf einen sehr langen Tag, an dem man nichts anderes machen konnte, als sich im Laden die Zeit zu vertreiben oder auf seiner Koje zu liegen und alte Ausgaben von Reader’s Digest zu lesen, die ein kleines Regal neben der Tür füllten. Dann hieß es plötzlich, daß ein beflissener junger Mann namens Zack aus einer der Hütten sich irgendwie nach Franklin durchgeschlagen und einen Minibus gemietet hatte und anbot, uns für fünf Dollar pro Nase in die Stadt zu bringen. Es setzte eine regelrechte Massenflucht ein. Zum Leidwesen von Buddy und Jensine zahlten fast alle Gäste und brachen auf. 14 Leute quetschten sich in den Minibus und begaben sich auf die lange Fahrt nach Franklin, das tief unten in einem schneefreien Tal lag.
So kamen wir zu einem Kurzurlaub in Franklin, einem kleinen, trostlosen Ort, darauf bedacht, möglichst reizlos zu erscheinen, einem Ort, an dem man aus Mangel an anderer Zerstreuung die Männer im Sägewerk beim Verladen von Holzstämmen mit dem Gabelstapler beobachtet. Es gab nichts, aber auch gar nichts, keinen Laden, in dem man ein Buch hätte kaufen können, geschweige denn eine Zeitschrift, die nicht von Rennbooten, aufgemotzten Autos oder Waffen und Munition handelte. In dem Städtchen wimmelte es von Wanderern, die, genau wie wir, aus den Bergen vertrieben worden waren und nichts anderes zu tun hatten, als lustlos im Diner oder im Waschsalon herumzuhängen und zwei- bis dreimal am Tag ans andere Ende der Main Street zu pilgern und einen verzweifelten Blick auf die fernen, schneebedeckten und offenkundig unpassierbaren Berge zu werfen. Die Aussichten standen nicht gut. Das Gerücht machte die Runde, in den Smokies gäbe es zwei Meter hohe Schneeverwehungen. Es würde Tage dauern, bis der Weg wieder frei wäre.
Ich verfiel dadurch in eine Art unruhige Niedergeschlagenheit, die sich noch verschlimmerte, als ich merkte, daß Katz bei der Aussicht, sich mehrere Tage ohne einen bestimmten Zweck, frei von Strapazen, in der Stadt herumtreiben und verschiedene Möglichkeiten der Zerstreuung ausprobieren zu können, im siebten Himmel schwebte. Zu meinem Verdruß hatte er sich bereits eine Fernsehzeitung besorgt, um seinen Fernsehkonsum in den nächsten Tagen effektiver zu planen.
Ich wollte nur noch zurück auf den Trail, Kilometer fressen. Deswegen waren wir hergekommen. Außerdem langweilte ich mich schrecklich. Es war eine Langeweile jenseits von Gut und Böse. Ich vertrieb mir mittlerweile schon die Zeit mit der Lektüre der Platzdeckchen in den Restaurants, danach drehte ich sie um und schaute nach, ob die Rückseite auch bedruckt war. In dem Sägewerk unterhielt ich mich mit den Arbeitern über den Zaun hinweg. Am späten Nachmittag des dritten Tages war ich im Burger King und betrachtete in tiefer Versunkenheit die Fotos des Geschäftsführers und seiner Mannschaft – wobei mir der merkwürdige Umstand ins Auge fiel, daß Leute, die in der Pommes- und Hamburger-Industrie arbeiten, immer so aussehen, als hätten ihre Mütter was mit Goofy gehabt –, trat dann einen Schritt zur Seite und las die Auszeichnungen für die »Mitarbeiter des Monats«. In dem Moment wurde mir klar, daß ich unbedingt von hier abhauen mußte.
20 Minuten später gab ich Katz bekannt, daß wir am nächsten Morgen wieder auf dem Weg sein würden. Er war natürlich entsetzt. »Am Freitag läuft Akte X«, stotterte er. »Ich habe gerade Cream-Soda gekauft.«
»Die Enttäuschung muß schrecklich sein«, erwiderte ich mit einem trockenen, herzlosen Lächeln.
»Und der Schnee? Da kommen wir nie durch.«
Ich zuckte die Achseln, was optimistisch wirken sollte, aber vermutlich eher Ausdruck von Gleichgültigkeit war. »Vielleicht doch.«
»Und wenn nicht? Was ist, wenn wieder ein Schneesturm aufzieht? Wir können von Glück sagen, daß wir beim letzten Sturm mit dem Leben davongekommen sind, wenn du mich fragst.« Er sah mich mit einem verzweifelten Blick an. »Ich habe 18 Dosen Cream-Soda auf meinem Zimmer«, stieß er hervor und bereute es umgehend.
Ich zog ungläubig die Augenbrauen hoch. »18? Willst du dich hier häuslich niederlassen?«
»Es war ein Sonderangebot«, murmelte er entschuldigend und zog sich in seinen Schmollwinkel zurück.
»Es tut mir leid, wenn ich dir deine Festtagslaune verderbe, Stephen, aber wir sind doch nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um fernzusehen und Cream-Soda zu trinken.«
»Ich bin auch nicht hergekommen, um mir unterwegs den Tod zu holen«, sagte er, stritt aber nicht weiter mit mir herum.
Wir gingen los, und wir hatten Glück. Der Schnee war tief, aber passierbar. Ein einsamer Wanderer, noch ungeduldiger als wir, war schon vor uns durchgestapft und hatte den Schnee auf dem Trail ein bißchen plattgetreten, was eine große Hilfe war. Auf den steilen Abstiegen war es glatt – Katz fiel andauernd auf den Rücken, rutschte aus, fluchte wild –, und in höheren Lagen mußten wir gelegentlich um ausgedehnte Schneefelder herumgehen, aber es gab keine einzige Stelle, die unpassierbar war.
Das Wetter besserte sich ebenfalls. Die Sonne kam heraus, die Luft wurde milder, die Gebirgsbäche hörten sich durch den Zulauf des plätschernden und glucksenden Schmelzwassers wieder munterer an. Ich vernahm sogar zaghaftes Vogelgezwitscher. Oberhalb von 1.300 Meter war der Schnee liegengeblieben, und die Luft war eisig, aber weiter unten zog sich der Schnee portionsweise mit jedem Tag weiter zurück, bis am dritten Tag nur noch vereinzelte Flecken an den schattigen Stellen der Hänge zu sehen waren. Es war alles überhaupt nicht schlimm, nur wollte Katz das nicht zugeben. Das war mir egal. Ich wollte nur gehen. Ich war sehr, sehr glücklich.