Valentine floh leise aus der Bibliothek in den Garten. Nur fort von dem allgemeinen Geplapper.
Auf die Nachricht von dem, was Val widerfahren war, hatten sich nicht nur Lance, Anatol und Marius mit der Rückkehr beeilt, auch die Schwestern Mariah, Phoebe und Leonie waren gekommen. Nachdem er das Krankenlager hatte verlassen können, freuten sich alle auf die baldige Hochzeit.
Im Garten stützte Val sich auf den Stock, den Jem ihm gedrechselt hatte, und dachte an all die Menschen, denen er im vergangenen Jahr wehgetan hatte. Eigentlich müsste er sich bei allen entschuldigen. Am meisten aber bei Kate.
Effie war heute Morgen auf Castle Leger erschienen und hatte alles gebeichtet. Kate war also seine auserwählte Braut. Das überraschte ihn nicht übermäßig, denn tief in seinem Herzen hatte er so etwas immer schon geahnt. Aber wo blieb seine Braut? Seit seiner Errettung hatte er sie nur selten zu Gesicht bekommen. Das arme Mädchen sei viel zu erschöpft, erfuhr er von ihrer Mutter. Val machte sich auf den Weg zu den Stallungen und traf dort seinen Bruder an.
»Was muss ich sehen, du fliehst vor den Damen? Das ist aber nicht sehr ritterlich von dir.« »Ach, sie bringen mich noch um mit ihrem Tee und ihrer ewigen Besorgnis«, seufzte der Arzt. »Selbst Mutter hat in dieser Hinsicht jegliche Zurückhaltung abgelegt.« Lance grinste. »Es freut mich sehr, dich wieder so wohlauf und munter zu sehen. Und unseren dummen Streit von neulich habe ich längst vergessen. Wir sind Brüder, auch wenn einer von uns glaubt, immer perfekt sein zu müssen.«
»Ja, wenn ich eines aus dem vergangenen Monat gelernt habe, dann das. Deswegen darfst du jetzt auch noch einmal St. Valentine zu mir sagen. Aber nur ein einziges Mal.«
»Lieber nicht, denn dann gibt ein Wort das andere und wir enden damit, uns auf dem Boden zu wälzen.« Er lächelte schief. »Außerdem möchte ich dir am Vorabend deiner Hochzeit kein blaues Auge verpassen.« »Kannst es ja mal versuchen.« Doch dann fügte Val ernst zu. »Du wirst mir doch morgen beistehen, oder?« »Herrje, natürlich! Aber wo wir gerade von Hochzeiten reden, wo steckt denn eigentlich deine Braut?« »Im Rosenstrauch-Cottage. Ich wollte gerade dorthin.« »Fein, aber vorher sollten wir noch eine Angelegenheit bereden. Es geht um Rafe ... Als ich auf die Burg zurückkehrte, musste ich entdecken, dass Jem und die Stallknechte ihn ins Verlies gesperrt hatten. Nun, ich habe Mortmain freigelassen. Schließlich hat er dich gerettet, er ist Kates Vater, und ...«
Val hob beide Hände, um den Redefluss seines Bruders zu stoppen: »Schon gut, du hast das Richtige getan. Ich bin froh darüber.«
»Na, das trifft sich aber günstig. Rafe steht im Stall. Er könnte schon längst fort sein, will aber unbedingt vorher mit dir sprechen.«
Der Arzt nickte. »Einverstanden, aber ich möchte allein mit ihm reden.«
Als Val in den Stall gehumpelt kam, hielt Rafe damit inne, den Sattelgurt festzuzurren. Die beiden sahen sich lange an; obwohl sie einst die erbittertsten Feinde gewesen waren, wussten sie nun mehr von ihrem Leben als von jedem anderen.
Rafe ergriff als Erster das Wort: »Ich freue mich, Euch wieder bei Kräften zu sehen, St. Leger. Euer Bruder Lance hat mich freigelassen. Aber mehr als ihm habe ich Euch geschadet, und deswegen soll es letztlich Eure Entscheidung sein, ob ich meiner Wege ziehen darf.« »Ihr seid Euer eigener Herr«, entgegnete Val. »Aber zuvor müsst Ihr mir eine Frage beantworten. Ich habe einen Monat mit Euren Albträumen und inneren Qualen gelebt. Sie hätten mich beinahe in den Wahnsinn getrieben. Ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte, so etwas wieder auf mich zu nehmen. Warum habt Ihr das getan?«
»Ihr scheint zu vergessen, dass ich in dieser Zeit mit Eurem Charakter lebte und mich zum Beschützer der Witwen und Waisen entwickeln konnte. Aber« - er wurde ernst - »ich habe in Falmouth eine Frau und einen Jungen zurückgelassen, Corrine und Charley Brewer. Ich habe sicher kein Recht, von den St. Legers einen Gefallen zu erbitten, aber könntet Ihr Euch um sie kümmern, damit sie nicht an den Bettelstab geraten?« »Gern. Aber warum kümmert Ihr Euch nicht um die beiden?«
»Ich bin doch in den alten bösen Mortmain zurückverwandelt und damit kein Beschützer der Witwen und Waisen mehr.«
Rafe wollte los, aber Val hielt ihn zurück: »Hört, das Böse in mir kam nicht allein von Euch, sondern auch aus meinen dunklen Abgründen. Ich habe Euch falsch eingeschätzt und hätte Euch eine Chance geben sollen. Dass ich es nicht getan habe, tut mir sehr Leid.« Mortmain lachte humorlos. »Also meint Ihr, selbst unter meiner Schale stecke ein guter Kern.« »Zum Teil. Und Ihr seid der Vater meiner Braut, und ich liebe Kate über alles.«
»Dass einmal ein St. Leger und eine Mortmain gemeinsam vor den Traualtar treten werden ... unsere Vorfahren werden sich im Grab umdrehen.«
»Vielleicht ziehen wir damit aber auch den Schlussstrich unter eine sinnlose Familienfehde.« Die beiden Männer gaben sich zu ihrer eigenen Verblüffung die Hand.
»Wollt Ihr Euch nicht von Kate verabschieden?«, fragte Val dann.
»Sie braucht jetzt keinen Vater mehr, sondern einen Ehemann. Aber eines müsst Ihr mir bitte glauben. Wenn ich von Kate gewusst hätte, hätte ich niemals zugelassen, dass sie in solchen Verhältnissen ihre Kindheit verbringen musste.«
»Das weiß ich, und ich werde Kate auch davon zu überzeugen wissen.«
Mortmain ritt davon, und Val machte sich daran, das zu erledigen, worauf er schon sein ganzes Leben gewartet hatte.
Minuten später stieg er vor dem Rosenstrauch-Cottage vom Pferd und klopfte an. Weil es ihm zu lange dauerte, wollte er ein zweites Mal gegen die Tür hämmern, als sie aufflog und er sich der Hausherrin gegenübersah. Die Frau brach bei seinem Anblick sofort in Tränen aus.
»Ist doch schon gut, Effie, ich habe Euch heute Morgen schon gesagt, dass ich Euch nicht böse bin.« »Ich weine nicht wegen Euch, sondern wegen Kate. Sie ist fort!«
Die junge Frau wurde bereits seit Stunden vermisst. Niemand in der Burg oder in Torrecombe hatte sie gesehen. Val drohte zu verzweifeln, bis ihm die Idee kam, dass er nicht nur die Lebenden befragen sollte. So rasch er konnte eilte er die alten Stufen zur Turmkammer hinauf. Als er sie betrat, wirkte sie so leer, als habe sich hier seit Jahrhunderten niemand mehr aufgehalten.
»Prospero?« Der Vorfahr hatte sich schon so manchem St. Leger gezeigt, aber noch nie Val. Das verdross ihn, und so brüllte er den Namen noch mal. »Ja, ja, ich habe Euch schon beim ersten Mal gehört. Schließlich bin ich zwar tot, aber nicht taub.« Valentine drehte sich langsam um und entdeckte das Gespenst auf dem riesigen Bett. Früher hätte er alles darum gegeben, einmal seinem Urahn zu begegnen und ihm hundert Fragen zu stellen.
Doch heute wollte er nur eines von dem alten Zauberer erfahren: »Wo steckt Kate? Was habt Ihr mit ihr angefangen? Wohin habt Ihr sie verschleppt?« »Bei St. Georg, erst stürmt Ihr wie eine Räuberbande in meinen Turm, und dann verhört Ihr mich wie der Größinquisitor. Dabei hieß es immer, Ihr wärt der Ruhige in der Familie.«
»Wenn ich nicht bald erfahre, wo Kate abgeblieben ist, sollt Ihr erfahren, wie wenig ruhig ich sein kann!« Der Geist zeigte sich vollkommen unbeeindruckt. »Ihr habt also Eure Braut verloren? Das ist aber sehr saumselig von Euch. Was bringt Euch auf den Gedanken, ich könnte etwas von ihrem Verbleib wissen?« »Nach allem, was ich erfahren habe, wart ihr beide in der letzten Zeit ziemlich oft zusammen.« »Seid Ihr etwa eifersüchtig? Und warum wollt Ihr sie überhaupt finden?«
»Weil ich sie liebe und heiraten will.«
»Obwohl sie eine Mortmain ist?«
»Spielt das irgendeine Rolle?«
»Kate scheint davon auszugehen.«
Natürlich, sagte sich Val. Deswegen hatte sie sich auch in den letzten Tagen von ihm fern gehalten. »Wie kann sie denn nur glauben, dass es mir etwas ausmacht, ob sie eine Mortmain ist oder nicht?«
»Na ja, vielleicht liegt das an Eurer Familienchronik, in der Ihr alle Schandtaten der Mortmains aufgelistet habt. Oder vielleicht an dem, was Ihr Kate über die Mortmains und ihre teuflische Art erzählt habt. Oder auch an Eurer nicht gerade freundlichen Meinung über ihren Vater.«
Val zuckte zusammen. »Ja, das stimmt, aber das hat nichts mit ihr zu tun.«
»Dann könntet Ihr Kate also in die Augen sehen und darin nicht Rafe Mortmain erblicken?« »Natürlich könnte ich das!«
»Ich glaube Euch, Valentine St. Leger. Aber befragt Euch selbst, ob Ihr noch Zweifel gegen sie hegt. Das arme Mädchen hat genug Ablehnung erfahren. Ihr findet sie übrigens dort, wo man für gewöhnlich mit einem Mortmain rechnen darf.«
Val musste einen Moment überlegen. »Auf dem Verlorenen Land? Ihr habt ihr erlaubt, sich ausgerechnet dorthin zu begeben?« »Ihr solltet Eure Braut gut genug kennen, um zu wissen, dass sie sich von niemandem etwas erlauben oder verbieten lässt.«
Die letzten Worte bekam Val kaum noch mit, denn er befand sich bereits auf dem Weg zurück und lief die Treppe hinunter.