7
Der Arzt warf den Kopf in den Nacken und lachte so wild, dass nicht nur Kate, sondern auch der Hengst erschrak. Das Pferd drohte wieder auszureißen. Val griff um die junge Frau herum und packte die Zügel mit beiden Händen. Erneut bezwang er das Tier, auch wenn Kate nicht wusste, wie er das zuwege gebracht hatte. Dazu müsste er nämlich beide Knie einsetzen, und wie er das mit seinem kaputten Bein .bewirken wollte, war ihr ein Rätsel. Außerdem lächelte der Mann, schien also keine Schmerzen zu verspüren.
»Wen haben wir denn da? Miss Kate, meine lange vermisste Freundin. Und du hieltest mich für meinen Bruder. Kaum sehen wir uns mal drei Tage nicht, da hast du schon vollkommen vergessen, wie ich aussehe.« »N-nein, natürlich nicht. Ich bin gekommen, dich zu besuchen.«
»Und warum bist du dann vor mir davongelaufen?« »Warum?«, empörte sich die junge Frau. »Weil ich glaubte, du wolltest mich niederreiten!« »Das hast du doch nicht wirklich geglaubt, oder? Wir haben dieses Spiel doch schon oft gespielt. Du läufst mir entgegen, um mich zu begrüßen, und ich ziehe dich zu mir aufs Pferd.«
»Ja, sicher, richtig, aber das hier ist nicht Vulkan.«
»Du bist ja eine ganz Blitzgescheite.« Kate sah ihn unsicher an. Machte er sich etwa über sie lustig? Das würde er doch nie wagen! »Wo hast du dieses wilde Ross denn her?« »Habe ihn heute Morgen gekauft. Bei meinem Vetter Caleb. Gefällt er dir nicht?«
»Doch, er ist großartig. Aber hättest du dir das nicht besser überlegen sollen?« »Warum?«
Warum? Die junge Frau starrte ihn an, weil sie nicht glauben konnte, dass sie ihm das erklären musste. Val war sich seiner Verletzung doch in jedem Moment bewusst gewesen.
»Du glaubst wohl, ich käme mit so einem Tier nicht zurecht, was. Meinst gar, so ein unbezähmbares Ross sei nur etwas für meinen Bruder, oder?« »Naja, ich-«
»Dann will ich dir mal was verraten: Früher verstand ich mich sogar sehr gut aufs Reiten, war im Sattel besser als Lance. Vielleicht möchtest du eine kleine Vorführung?«
»Nein, Val, bitte nicht. Du musst dich nicht vor mir beweisen - »Der Rest ihrer Worte ging in Hufedonnern unter. Der Arzt hatte dem Pferd die Sporen in die Flanken getreten.
Kate konnte sich nur noch verzweifelt an Val festhalten, denn schon ging es in wilder Jagd hinauf zum Schieferhaus. Der Hengst entpuppte sich immer mehr als ausgezeichnetes Tier. Unter anderen Umständen hätte ein solcher Ritt sie begeistert. Aber jetzt fürchtete sie um Vals kaputtes Knie.
Ihre Furcht wuchs zur Panik, als das Ross nicht das offene Tor, sondern die Gartenmauer ansteuerte. Da würden sie nie hinüberkommen. Dafür waren Vals Knie zu schwach, der Hengst zu bockig und sie selbst ein zu großes zusätzliches Gewicht.
»Val, neiiiin!«, kreischte sie, aber er beugte sich mit der Miene eines Besessenen vor, und die Steinmauer raste auf sie zu.
Kate schlang die Arme um seinen Hals und schloss die Augen. Als das Pferd in die Luft sprang, machte ihr Magen einen Satz. Für einen Moment fühlte sie sich schwerelos, und dann ging es auch §chon wieder nach unten. Die Hufe landeten hart auf dem Boden, und Kate durchfuhr es von Kopf bis Fuß. Für einen Moment befürchtete sie, dass sie alle drei stürzen, übereinander rollen und sich Knochen und Genick brechen würden. Aber irgendwie gelang es dem Arzt, sowohl das Pferd sicher aufkommen zu lassen als auch Kate festzuhalten. Die junge Frau öffnete die Augen und entdeckte, dass sie sich mitten auf dem Hof des Cottages befanden. Nur ihr rasend schlagendes Herz erinnerte noch an den mörderischen Ritt.
»Wie hat dir das gefallen?«, flüsterte Val ihr ins Ohr. »Möchtest du noch eine Runde?« »Nein!«, krächzte die junge Frau. Sie löste die Arme von seinem Hals und richtete sich halbwegs auf, um ihn wütend anzustarren.
»Verdammt noch mal, Val! Was, zum Donnerwetter, ist bloß in dich gefahren? Wie konntest du nur - wir wären beinahe - du hättest -«
Kate ging auf, dass sie Val noch nie wegen so etwas Vorwürfe gemacht hatte. Üblicherweise tadelte er ihren Übermut. Deswegen fiel es ihr auch jetzt so schwer, die richtigen Worte zu finden. In ihrem Verdruss schlug sie ihm mit der Faust auf die Brust.
»Verdammt, setz mich ab! Lass mich einfach nur hinunter!«
Der Arzt zog belustigt die Brauen hoch, zuckte dann die Schultern und hob Kate schließlich aus seinem Sattel. Die junge Frau atemte erleichtert aus, als sie wieder festen Grund unter den Füßen hatte. Sie fühlte sich verletzt und durcheinander - nicht so sehr von dem Ritt als vielmehr von Vals unerklärlichem Verhalten. Kate schlang die Arme um sich, um ihr Zittern zu überspielen. Der Arzt sprang aus dem Sattel und trat zu ihr, hob mit zwei Fingern ihren Kopf an, und sie musste ihn ansehen. Doch als er dann sprach, hörte sie wieder seine freundliche Stimme. Und auch seine Augen strahlten warm wie früher.
»Verzeih mir, Kate. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen, obwohl ich gestehen muss, dass ich eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit darin erkenne. Wie oft hast du mich früher zu Tode erschreckt, mein wildes Mädchen?« »Ja, aber -« Sie verstumme, als sie etwas Neues bemerkte. Und das, als habe jemand einen Eimer Wasser über ihr ausgekippt. »D-dein Bein ...« brachte sie hervor. »Ja, stell dir vor, ich habe zwei davon. Die beiden bilden ein hübsches Paar, was?«
Die junge Frau presste eine Hand an den Mund und konnte kaum glauben, was sie eben gesehen hatte. »Lauf bitte noch einmal auf mich zu«, forderte sie ihn auf. Val gehorchte lächelnd, entfernte sich von ihr und kehrte dann zu ihr zurück, mit gleichmäßigen und kräftigen Schritten.
»Val, bist du - hast du -«
»Ob ich nicht mehr wie ein alter Bär humpele, der einmal mit einer Tatze in eine Falle geraten ist? Stimmt. Anscheinend bin ich geheilt.« »Aber wie ist das möglich?«
»Ich will verdammt sein, wenn ich auch nur eine Ahnung habe. Aber ehrlich gesagt, interessiert mich das auch nicht. Irgendwann während des Sturms letzte Nacht kam es dazu. Ein Blitz zuckte herab und hat mich furchtbar erschreckt. Ich bin auf den Kopf gefallen und war wohl für eine Weile ohne Bewusstsein. Als ich dann wieder zu mir kam, konnte ich das hier.«
Er führte mit seinem einst kaputten Bein ein paar flotte Tanzschritte vor.
Kate starrte ihn wie gelähmt an. Irgendwann während des Sturms letzte Nacht... Ein Blitz zuckte herab ... Erregung durchfuhr die junge Frau. Sie hatte das bewirkt. Mit ihrem Gehüpfe um das Feuer und mit ihrer unbeholfenen Zauberei. Eigentlich hatte sie Val mit einem Liebeszauber an sich binden wollen ... doch allem Anschein nach war ihr etwas wirklich Bedeutendes gelungen. Sie hatte ihn geheilt!
»Ach, Val!« Sie fing vor Freude an zu schluchzen und umarmte ihn wieder. Lachend hob er sie hoch und tanzte mit ihr im Kreis herum.
Als sie schon befürchtete, er würde den Drehwurm bekommen und mit ihr stürzen, blieb er stehen und hob sie hoch, bis ihr Gesicht sich auf gleicher Höhe mit dem seinen befand.
»Weine doch nicht, mein wildes Mädchen. Du musst nie mehr wegen mir Tränen vergießen.« »Es ist doch nur, weil ich mich so für dich freue«, schluchzte sie und lächelte.
Val zog sie näher an sich, bis ihre Brüste leicht an seine Brust drückten. Sein Lächeln erlosch und machte einem anderen Gesichtsausdruck Platz, den Kate hinter ihrem Tränenschleier nur undeutlich erkennen konnte.
Doch als sie ihn wieder richtig sah, entdeckte sie etwas Neues in den so vertrauten Zügen. Etwas Hartes und Eindringliches im Blick, das ihr den Atem nahm und ihr auch etwas Angst machte.
Doch dieser Ausdruck in den Augen verging so rasch wieder, dass Kate glaubte, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein.
Val setzte sie ab, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit gefangen nahm.
Lucas, sein Stalljunge, näherte sich zögernd dem Riesenpferd. Das Ross spürte die Ängstlichkeit des Vierzehnjährigen und wehrte sich schnaubend gegen die Hand des Jungen auf den Zügeln.
»Nicht so, Bursche«, erklärte Val gereizt und trat dazwischen. »Das hier ist ein ausgesuchtes Rassetier und kein alter Klepper wie Vulkan. Du musst fest zupacken und ihm zeigen, wer hier der Herr ist. Und hör auf damit, dich vor ihm zu fürchten!«
Val nahm ihm die Zügel ab und flüsterte dem Ross streng etwas zu. Als Lukas sich immer noch nicht näher herantraute, schimpfte der junge St. Leger: »Verdammt noch mal, Bengel! Komm endlich her, und übernimm das Tier!«
Der Stallbursche trat Schrittchen für Schrittchen heran und schien nicht zu wissen, vor wem er mehr Angst haben sollte, vor dem Pferd oder vor seinem Herrn. Kate hatte noch nie mitbekommen, dass Val einen seiner Bediensteten so anfuhr. Und ihm schien selbst bewusst zu werden, dass er sich nicht richtig verhalten hatte. Er lächelte und strich dem Jungen übers Haar. »Wenn dir der Hengst Mühe macht, hol Jem zu Hilfe.« Der Bursche nickte, wirkte aber immer noch etwas durcheinander. Vals Berührung hatte das Pferd aber so weit beruhigt, dass es sich von Lukas zu dem kleinen Stall hinter dem Haus fähren ließ.
Der Arzt schaute dem Jungen hinterher und wandte sich dann wieder an Kate. Als er ihre beunruhigte Miene sah, setzte er ein entschuldigendes Lächeln auf. »Ich hätte wohl nicht so kurz angebunden mit dem Jungen sein dürfen. Aber ich bin letzte Nacht nur wenig zum Schlafen gekommen. Die Aufregung ... Als ich feststellte, dass mein Bein wieder heil ist, hielt mich natürlich nichts mehr im Haus. Noch vor- dem ersten Büchsenlicht bin ich los zu Caleb, um dieses Pferd zu kaufen.« Kate lächelte und nickte. Aber in ihrem Innern hatte es sie wie ein Stich getroffen. So etwas Wunderbares war Val widerfahren, und sein erster Gedanke galt einem Gaul? Aber dann sagte sie sich, dass der Ärmste sich vermutlich lange danach gesehnt hatte. In all den Jahren, in denen er humpelte und nur auf Pferden wie dem alten Vulkan reiten konnte.
Doch waren sie beide nicht seit vielen Jahren die besten Freunde? Auch wenn es in der letzten Zeit zu Unstimmigkeiten gekommen war? Warum war er nicht zu ihr gekommen, um die guten Neuigkeiten mit ihr zu teilen? Doch durfte sie ihm deswegen wirklich Vorwürfe machen? In einem Moment wie diesem hatte sie kaum das Recht, in Selbstmitleid zu versinken. Val wirkte glücklich. Alle Anzeichen der tief sitzenden Traurigkeit waren aus seinen Zügen verschwunden.
Er stand breitbeinig da, schaute aufs Meer hinaus und genoss die salzige Brise.
»Ach, Kate«, sagte er, »du kannst dir nicht vorstellen, wie gut sich das anfühlt. Endlich von diesem teuflischen Humpeln befreit. Endlich wieder ein normaler Mann zu sein. Endlich wieder stark und vollständig zu sein ... Ich kann mich kaum zurückhalten und will all die Dinge nachholen, die ich mir so viele Jahre lang versagen musste.«
Er wirbelte zu ihr herum und ergriff ihre Hand: »Ich will alles ausprobieren, bevor dieses Wunder endet und alles wieder so wird wie früher!«
Das wird es schon nicht!, wollte sie ihm zurufen, unterließ es aber lieber. Wie könnte sie ihm so etwas versprechen? Die junge Frau hatte nicht die geringste Vorstellung von dem Zauber, den sie ihm auferlegt hatte; gar nicht erst zu reden davon, wie lange er anhalten würde. Vielleicht sollte sie ja reinen Tisch machen und ihm alles berichten, was sie getan hatte. Aber eigentlich schreckte sie davor zurück. Als ein St. Leger würde er niemals Hexerei und schwarze Magie gutheißen und wahrscheinlich so böse werden, dass ihre neu erstandene Freundschaft das kaum überleben konnte. Gut möglich auch, dass Val in seiner Rechtschaffenheit verlangte, dass der Zauber unbedingt rückgängig gemacht werden müsse, koste es, was es wolle.
Gerade das aber hätte Kate niemals übers Herz gebracht. Er wirkte jetzt so lebendig und so impulsiv, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Und das sollte sie ihm alles wieder nehmen?
Er ergriff ihre Hand und zog sie mit zum Haus. »Komm, Kate, wie beide müssen unbedingt feiern.« »Was hast du dir denn vorgestellt?«, fragte sie neugierig und hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Hm, muss mal überlegen ...« Der Arzt blieb unvermittelt stehen und machte ein verdutztes Gesicht, so als sei ihm gerade ein toller Einfall gekommen. »Tanzen! Ich geleite dich zu einem Ball, und wir tanzen die ganze Nacht.«
Kate lachte. »Du weißt doch, dass ich dem Tanzlehrer nicht sehr gut zugehört habe, den Effie mir einmal besorgt hat.«
Die junge Frau hatte in jungen Jahren nie einen Sinn darin gesehen, die ziemlich vertrackten Schrittfolgen zu lernen.
»Dann bringe ich es dir eben bei«, lachte Val. Er schlang ihr einen Arm um die Hüften und drehte sich mit ihr, bis dem Mädchen schwindlig wurde. Vielleicht lag das aber auch an seiner Nähe und der neuen Zärtlichkeit in seinem Blick.
»Erinnerst du dich noch an die Feen, von denen ich dir erzählt habe? Mit denen tanzen wir im Mondlicht. Und trinken dazu Perlwein.«
»Perlwein?«, lachte sie atemlos. »Nein, lieber nicht. Ich erinnere mich zu gut daran, welche Wirkung der auf mich hatte, als ich vor zwei Sommern auf dem Verlöbnis deiner Schwester Mariah ein oder zwei Gläser davon zu mir genommen habe.«
»Da warst du ein wenig beschwipst, meine Liebe«, lächelte er und tänzelte mit ihr in Richtung Haus. »Du wolltest die ganze Gesellschaft mit einem der rauen Seemannslieder unterhalten, die dir mein verruchter Onkel Hadrian beigebracht hat.«
»Erinner mich bloß nicht daran«, stöhnte die junge Frau. »Damals hast du mich, Gott sei Dank, davon abgehalten, mich vor allen zur Närrin zu machen. Etwas später habe ich dir, glaube ich, die Schuhe beschmutzt, und du hast mich nicht einmal ausgeschimpft.« »Wie könnte ich dir böse sein, Kate. Ich habe dich nach Hause gebracht, nach oben getragen und dich hingelegt in -« Er hielt inne, kam aus dem Takt und verstärkte den Griff um Kate. »In dein Bett«, beendete Val den Satz in eigenartigem Tonfall. Alle Sanftheit in seiner Miene verlor sich unter dem eindringlichen Blick seiner Augen. Rasch senkte er die Lider und ließ die junge Frau so unerwartet los, dass die ein, zwei Schritt zurücktaumelte, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. »Du hast sicher Recht«, erklärte der Arzt. »Keinen Sekt. Vielleicht besser Tee.«
Er marschierte ins Haus und schaute sich nicht einmal um, ob Kate ihn folgte.
Die junge Frau starrte ihm verwirrt hinterher, konnte seine Stimmungsschwankungen nicht verstehen und musste mit den Zweifeln fertig werden, die sie befallen hatten.
Wenn ihr Zauber bei ihm noch mehr bewirkt hatte, als nur das kranke Bein zu heilen? Was denn, zum Beispiel? Dass er sich unsterblich in sie verliebt hatte? Davon ließ sich noch nicht allzu viel feststellen. Aber Zauberei, und ganz besonders dunkle, besaß ein eigenes Wesen und ließ sich von einer Sterblichen nur selten durchschauen ... Kate wagte nicht, sich auszumalen, was sie alles bei ihm verändert haben mochte. Zu Hoffnungen schien jedenfalls noch keinerlei Anlass zu bestehen. So blieb ihr im Moment wenig anderes zu tun übrig, als hinter ihm her ins Haus zu laufen. Nach dem hellen Sonnenschein draußen wirkte es im Cottage recht düster. Kate hatte Val ohnehin lieber auf Burg Leger besucht als in diesem abgelegenen Schieferhaus am Rand des Meeres.
Die Wände schienen die Melancholie und Einsamkeit des Vorbewohners, Dr. Marius St. Leger, aufgesogen zu haben, und überall krochen Schatten über den Boden. Kate wäre es lieber, wenn sie beide sich weiterhin draußen aufgehalten, gescherzt und über Feen geredet hätten.
Seit sie sich im Haus befanden, hatte sich alles verändert. Oder war ihre Welt bereits aus den Fugen geraten, seit Val sie im wilden Galopp hochgerissen und zu sich aufs Pferd gezogen hatte?
Sie folgte ihm in die Bibliothek, und er schloss hinter ihr die Tür. Langsam schlich Kate über den Teppich und versuchte, aus der vertrauten Umgebung Stärke zu beziehen. Ob auf der Burg oder hier im Schieferhaus, die Bibliothek war immer ihrer beider ganz besonderer Ort gewesen. Und warum stand sie dann stocksteif da? Der Arzt kam zu ihr, um ihr aus dem Umhang zu helfen, wie er es schon seit ihrer Jungmädchenzeit tat.
Aber selbst das fühlte sich heute anders an. Seine Finger zögerten bei den Verschlüssen, und er zog ihr den Umhang ganz langsam von den Schultern - fast so wie ein Mann, der seine Liebste zärtlich entkleidet. Die Vorstellung trieb ihr brennende Röte in die Wangen. Valentine hängte den Umhang ohne viel Aufhebens über die Rückenlehne eines Stuhls. Irgendwie hatte Kate das Gefühl, er habe ihre Gedanken gelesen und amüsiere sich über ihre Empfindungen...
Wie dem auch sei, er grinste und betrachtete sie eigenartig - aber eher wie ein Wolf seine Beute. Was? Wie konnte sie ihren Freund nur als Raubtier sehen? Kate schüttelte den Kopfüber eine so dumme Idee. Ausgerechnet Val, der ihr zeitlebens immer als »sanfter und vollkommener Ritter« erschienen war. So war er, und so blieb er - und keine Macht der Welt, nicht einmal eine dunkle, würde ihn je ändern können. Was sie gelegentlich in seinem Blick oder in seiner Miene zu erkennen glaubte, entsprang wohl nur den Schatten und ihrer erhitzten Einbildungskraft. Die junge Frau trat an dieses Regal und an jenes – in dem Bemühen, sich zu beruhigen. Das Feuer im offenen Kamin war fast heruntergebrannt, und sie bückte sich, um ein paar Scheite nachzulegen. Der Arzt trat an einen Kabinettschrank und entnahm ihm eine Flasche Whiskey.
Kate beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Valentine war immer ein gemäßigter Mensch gewesen und hatte nur selten Alkohol zu sich genommen; erst recht nicht zu dieser Tageszeit.
Als er ihren Blick bemerkte, fragte er freundlich: »Soll ich dir auch ein Glas einschenken, meine Liebe?« Die junge Frau wäre vor Schreck beinahe über die Schüreisen gefallen. Nach der Geschichte mit dem Sekt hatte Val geschworen, ihr nie wieder Alkohol anzubieten. Wie betäubt schüttelte sie den Kopf. Er zuckte nur die Schultern und wandte sich seinem Glas zu. »Würdest du dir dann bitte einen Trinkspruch auf mich ausdenken?«
»Einen Trinkspruch?«, konnte sie nur fassungslos wiederholen.
»Ewiges Unheil über alle Mortmains«, schlug sie in Ermangelung eines besseren Einfalls vor. Die St. Legers tranken schon seit Generationen auf das Unglück ihrer Erzfeinde.
Trotz seines sanften Wesens hasste auch Valentine die Mortmains aus ganzem Herzen. Er hatte besondere Gründe dafür, hatte er es sich doch zur Aufgabe gemachte, eine Familienchronik zu erstellen. Jeden Mord und jeden Überfall der Erzfeinde hatte er sorgfältig festgehalten - bis hin zum dunkeln Lebenswerk des letzten Überlebenden dieser Familie - Captain Raphael Mortmain.
»Der Wahnsinn scheint ihnen angeboren, und sie haben das Böse im Blut«, hatte der Arzt ihr einmal erklärt. »Ich glaube nicht, dass Raphael das überwinden kann. Lance vertraut ihm viel zu sehr, und das lässt mich um das Leben meines Bruders fürchten.«
Damit hatte er nicht falsch gelegen. Beinahe wäre es Rafe gelungen, sowohl Lance als auch ihren geliebten Val zu vernichten. Kate wagte nicht, an die Zeit zurückzudenken, in der man davon ausgehen musste, dass der Arzt seinen Verletzungen erlegen sei.
Seit damals erhob Kate ihr Glas, auch wenn es nur Limonade enthielt, um auf den Untergang der Mortmains anzustoßen.
Doch heute schien Valentine sich nicht über ihren Vorschlag zu freuen. Mit gerunzelter Stirn meinte er: »Das ist doch eine ziemlich dumme und überflüssige Tradition, nicht wahr? Die Mortmains stellen nun wirklich keine Bedrohung mehr für uns dar. Jedenfalls keine, an die man einen Trinkspruch verschwenden müsste. Denk dir bitte etwas anderes aus, Liebes.«
»Meinetwegen«, entgegnete sie, ein wenig verärgert über diese Zurückweisung. »Dann eben auf deine wundersame Heilung und unsere Freundschaft«, schlug die junge Frau vor.
»Auf unsere Freundschaft!«, wiederholte er, schien aber von diesem Trinkspruch ebenso wenig begeistert zu sein wie von dem vorangegangenen. Mit bitterer Miene leerte er sein Glas und füllte es dann gleich wieder auf. Kate beobachtete ihn beunruhigt, ehe sie sich erneut dem Feuer zuwandte. Sie bewegte die Scheite mit dem Eisen, legte die glühenden Stücke darunter frei und sah die Flammen auflodern. Das erinnerte sie unangenehm an ihr Feuer letzte Nacht. Fast wünschte sie, niemals das Zauberbüchlein Prosperos entdeckt zu haben.
»Bist du aus einem bestimmten Grund heute zu mir gekommen, Kate?«
Vals Stimme ertönte direkt neben ihrem Ohr. Sie fuhr vor Schreck zusammen und hätte beinahe das Schüreisen fallen lassen. Wie war es ihm nur möglich gewesen, sich hinter sie zu schleichen, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte?
Kate sagte sich mit gemischten Gefühlen, dass sie sich an seine neue Bewegungsfreiheit erst noch gewöhnen müsse. Und an die anderen Dinge auch, die sich bei ihm gewandelt hatten.
Der Arzt stellte sich vor sie, lehnte sich mit einem Ellbogen auf den Kaminsims und ragte wie ein Turm vor ihr auf. Seit er den Stock abgelegt hatte, hatte er auch eine andere Körperhaltung.
Kate wurde in diesem Moment bewusst, dass sie sich vor ihm fürchtete ... vor Val, dem besten Freund ihres Lebens.
Obwohl das Feuer schon wieder munter brannte, hantierte sie weiterhin mit dem Eisen herum. »Nun, meine Liebe?«, drängte der junge St. Leger, ihm eine Antwort zu geben.
Wenn es einen Moment gab, die vorbereiteten Lügen aufzutischen, dann war der jetzt gekommen. Sie würde ihre Entschuldigungen hervorstammeln, dass sie sich ihm neulich Nacht an den Hals geworfen hatte; würde versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass die Freundschaft für sie das Allerwichtigste sei...
Doch dann sagte sie: »Ich wollte dich einfach sehen ...
weil ich dich ziemlich vermisst habe.«
»Vielleicht wäre es aber klüger gewesen, wenn du dich
weiter von mir fern gehalten hättest.«
Die junge Frau lachte etwas zu schrill: »Hast du je erlebt, dass ich klug gehandelt habe? Außerdem sind wir doch noch Freunde, oder?«
Da er nicht gleich antwortete, sah sie ihn vorsichtig an. Eine grüblerische Miene breitete sich auf seinen Zügen aus, die ihm so gar nicht ähnlich sah. Dabei spielte er mit den Erinnerungsstücken auf dem Sims - dem fadenscheinigen Handschuh, dem alten Fächer und dem Elfenbein-Medaillon mit dem Abbild von Dr. Marius St. Legers verlorener Liebe.
Kate legte das Schüreisen ab und stellte sich vor ihn. »Val?«
Er hörte sie gar nicht. Die junge Frau musste ihn noch einmal beim Namen rufen, ehe er wie aus weiter Ferne zu ihr zurückkehrte. Sofort breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
»Tut mir Leid, ich habe gerade über etwas nachgedacht. Meinst du nicht auch, dass ich diesen ganzen Plunder zusammenpacken und Dr. Marius schicken soll? So bald kehrt er ja doch nicht zurück.«
Er tippte auf das Bildnis von Anne Syler. »Oder soll ich alles gleich ins Feuer werfen?«
Kate riss die Augen weit auf. Das konnte unmöglich sein Ernst sein.
»Aber Val, was redest du da, das sind doch die teuersten Erinnerungsstücke des Arztes. All das, was ihm von ihr geblieben ist -«
»Von einer Frau, die seit über dreißig Jahren tot ist. Mein Onkel sollte Anne endlich vergessen und sich oben in Schottland eine nette Witwe suchen.« »Aber du hast mir doch immer gesagt, das ginge nicht. Anne war seine auserwählte Braut, und der Familiensage nach -«
»Verdammte Sage!«, knurrte der junge St. Leger und schlug so fest mit der Faust auf den Sims, dass Kate erschrocken zurücksprang.
Doch dann bemühte er sich sichtlich, seine Fassung wiederzugewinnen.
»Mein ganzes Leben lang musste ich mich den Regeln und Beschränkungen dieser Tradition unterwerfen - auch wenn sie mich zu einer Ewigkeit in Einsamkeit verdammte. Dabei habe ich immer nur einfache Dinge vom Leben erwartet, wie Arzt zu werden, eine Frau zu heiraten und Kinder zu bekommen. Wie gern hätte ich Jahre auf meine auserwählte Braut gewartet... wenn ich denn eine haben dürfte ...«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Aber nein, nicht Dr. Valentine St. Leger. Das Schicksal bestimmt, dass dieser Mann niemals seine Liebe finden, nicht einmal heiraten wird. Und wenn er dagegen verstoßen sollte, wäre er des Teufels. Der Fluch der St. Leger würde dann wie ein Blitz auf ihn und seine eigenmächtig gesuchte Braut niederfahren!«
Seine Züge verhärteten sich: »Ich bin diesen ganzen Unsinn endgültig Leid! Er steht mir bis hierher!« Kate rang die Hände und wusste nicht, was sie sagen sollte. Natürlich hoffte sie schon seit langem, dass Val den Familientraditionen entsagen würde - aber nicht auf diese Weise. Nicht voller Wut und Verbitterung. Er lief in der Kammer auf und ab4 und sie trat einen Schritt zurück, um nicht von ihm über den Haufen gerannt zu werden.
»Ich bin das alles so satt - die Sage, die Familientradition, meine besonderen Fähigkeiten und sogar meinen verdammten Namen!«
»Ich liebe deinen Namen«, wandte sie leise ein, aber er hörte sie gar nicht.
»Valentine!« Er verzog das Gesicht. »Was soll das denn für ein Name für einen Mann sein?« Er fuhr herum und starrte sie an. »Weißt du, wie ich mir vorkomme?« Früher hätte sie das sofort gewusst. Aber heute? »N-nein«, stammelte sie.
Val stampfte zum Tisch und nahm eine Figur von dem geschnitzten Elfenbein-Schachbrett. »Hier, ein dummer Bauer, der sich von allen bevormunden und herumschubsen lässt - von den Dörflern, von der Familie und auch noch von einem gottverfluchten Märchen ...« Er dachte einen Moment nach. »Weißt du, wer ich lieber sein möchte?«
»Der König?«, vermutete sie.
»Nein,-eher der hier.« Er warf den Bauern in eine Ecke und nahm eine Figur mit einem schwarzen Pferdekopf vom Brett.
»Ein Pferd?«, rief die junge Frau. »Das ist aber doch wohl kaum die stärkste Figur im Spiel.« »Der Springer besitzt aber genug Stärke, um alle anderen Figuren zu schlagen.« Er fuhr wie mit einer Sense mit seinem schwarzen Pferd durch die weißen Reihen, und seine Lippen zogen sich langsam von den Zähnen zurück. »Bis ich die Königin gefangen habe.«
Kate schluckte und verfolgte bestürzt, wie die Schachfiguren vom Tisch rollten und auf den Teppich fielen. Nun war kein Zweifel mehr möglich. Was über Valentine hereingebrochen war, betraf weit mehr als nur sein Bein. Was hatte sie ihm nur angetan?
Jetzt ließ er auch den Springer fallen und sah ihr ins Gesicht.
»Komm her.«
Als sie sich nicht bewegte, streckte er eine Hand nach ihr aus: »Komm her.«
Aber die junge Frau fürchtete sich vor ihm. Angst vor Val? Das war doch einfach lächerlich. Sie zwang ihre Füße, sich zu bewegen, und schob sie vorwärts, bis sie die ausgestreckte Hand berühren konnte. Seine Finger schlössen sich um ihre Hand, und er zog sie näher zu sich heran, um sie kritisch zu betrachten. Dann schob er ihr eine Korkenzieherlocke aus dem Gesicht.
»Was ist nur in dich gefahren, dein Haar so zu verunstalten.«
Kate griff sich ans Haar und fühlte, dass sich die Hochsteckfrisur zur Hälfte gelöst hatte. »Vorhin sah es noch ganz ordentlich aus, bis der Wind hineingefahren ist. Ich dachte, so eine Frisur ließe mich älter erscheinen.«
»Tut sie aber nicht, nur verletzlicher.« Val strich mit dem Fingerknöchel über ihren bloßen Hals, und das sandte Schauer durch ihren Körper. Dann fuhr er ihr durchs Haar und zog alle Haarnadeln heraus. Eine nach der anderen flog auf den Boden, bis ihr Haar lang über die Schultern fiel.
Er schob ihr eine Hand ins Haar und legte sie um ihren Nacken. Er zog sie zu sich heran, bis sie nur noch das Glitzern in seinen Augen vor sich sah. Ihr Herz klopfte so schnell, dass sie kaum noch atmen konnte. Seine Lippen legten sich auf die ihren, und sie riss die Augen weit auf, da sie einen so leidenschaftlichen Kuss nicht erwartet hatte. Der Liebeszauber hat doch gewirkt! Er ist mir gelungen! Das war ihr letzter zusammenhängender Gedanke, ehe Val sie fester an sich zog. Mit einem gedämpften Seufzer schloss sie die Augen und ergab sich seinem Kuss. Am Abend ihres Geburtstages hatte sie ihn gebeten, ihr das Küssen beizubringen. Da hatte er noch nicht gewollt, aber jetzt holte er das doppelt und dreifach nach. Sein Mund bewegte sich erfahren über den ihren, schmeckte sie, versuchte sie, verlangend und verschlingend. Mit einem leisen Knurren durchbrach er die Barriere ihrer zusammengepressten Lippen. Zuerst erstarrte sie, als seine Zunge an die ihre stieß ... dann erregte sie das auf merkwürdige Weise.
Kate hatte das immer schon rasch gelernt, was Val ihr beibringen wollte. Nun klammerte sie sich an seine Schultern und fing an, mit ihrer Zunge seinen Mund zu untersuchen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und alles drehte sich in ihrem Kopf. Sie war noch nie in Ohnmacht gefallen, aber heute könnte es so weit sein. Keuchend löste sich Val gerade lange genug von ihr, dass sie wieder zu Atem kommen konnte. Dann setzte er seine leidenschaftliche Attacke fort. Val ließ Küsse regnen: auf ihre Schläfen, ihre Lider, ihre Wangen und ihr Kinn. Als könne er überhaupt nicht genug von ihr bekommen.
»Kate, Kate, mein wildes Mädchen. Was war ich doch für ein Narr, dir so lange widerstanden zu haben!« »Da gibt es nichts zu entschuldigen -,« brachte sie hervor, ehe er sie wieder an sich riss.
Val vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und sagte heiser: »Ich liebe dich. Ich habe dich immer schon geliebt, und von jetzt an soll nichts mehr zwischen uns stehen. Das schwöre ich!«
Kates Herz zog sich zusammen, als sie endlich die Worte vernahm, nach denen sie sich schon ihr halbes Leben lang sehnte.
»0 Val, ich liebe dich -«Ihre eigene Liebeserklärung wurde von seinen Lippen erstickt. Sein langer und leidenschaftlicher Kuss ließ sie in seinen Armen dahinschmelzen. Nie hätte sie erwartet, dass ihr Zauber so viel Begehren bei ihm auslösen könnte.
Ohne den Kuss zu unterbrechen, nahm Val Kate hoch und trug sie zum Sofa. Dort angekommen, löste er sich lange genug von ihr, um sich Jacke und Weste auszuziehen. Seine Brust hob und senkte sich heftig, und seine Miene drückte nur noch Verlangen aus.
Kate beobachtete alles wie in Trance. Irgendwann ertönte am Rande ihres Bewusstseins ein Warnruf, der aber ungehört verhallte. Erst recht, als Val sie wieder mit Küssen überschüttete, bis ihr Puls raste und das Blut durch ihre Adern rauschte.
Als seine Lippen an ihrer Kehle hinabwanderten, seufzte sie selig. Von so etwas hatte sie bislang immer nur geträumt.
Kate bekam kaum mit, wie er ihr das Kleid aufknöpfte und auch noch das Mieder öffnete. Sie trug nie ein Korsett, und so fiel es ihm leicht, die Bänder ihres Unterhemds aufzuknoten und endlich ihren Busen freizulegen. Da schoss ihr die Röte in die Wangen, und sie versuchte hastig, ihre Blöße zu bedecken. Aber das wollte Val ihr nicht erlauben - er hielt ihre Hände fest. »Kate, lass mich dich anschauen«, verlangte er und bedachte sie mit einem heißen, lustvollen Blick. »Du bist so unglaublich schön, und ich begehre dich so sehr, dass ich sterben könnte.«
Sein Kopf sank nach unten, und seine Lippen liebkosten das zarte Fleisch ihrer Brüste, bis sie sich hungrig auf ihre Brustwarzen legten.
»Oh, oh ... oh«, stöhnte die junge Frau wegen der Hitze, welche sie erfasste.
Kate hatte sich eingebildet, alle Arten der Leidenschaft zwischen Mann und Frau zu kennen und zu verstehen.
Aber so etwas wie das hier hatte sie sich in ihren wildesten Träumen nicht vorgestellt Sie vergrub ihre Finger in seinem Haar und ließ sich von dem davontragen, was er in ihr auslöste. Alles an ihr verlangte danach, von ihm berührt zu werden - auch und vor allem an den unaussprechlichen Stellen. Ein Teil ihres Bewusstseins bemerkte, dass alles viel zu schnell vonstatten ging und sich längst ihrer Kontrolle entzogen hatte.
Val hielt sie mit seinem Gewicht auf dem Sofa fest, und gerade fing seine Hand an, ihren Rock hochzuschieben. Kate verspürte einen leichten Anflug von Panik. Würde sie ihm Einhalt gebieten können ... würde sie das überhaupt wollen?
Nein, ganz gewiss nicht. Erst recht nicht, als seine Lippen wieder die ihren fanden, ihr kein Pardon gewährten und sie bis an den Rand des Deliriums führten. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr widerstehen.
Dies war Val, ihr Freund, der Mann, den sie vergötterte und den sie für immer haben wollte. Er hob den Kopf, um sie anzusehen, und Leidenschaft ließ sein Gesicht glühen. Zitternd ob ihres eigenen Verlangens schob sie eine Hand zwischen sich und ihn und öffnete den obersten Knopf seines Hemds. Aber seine Hand legte sich um die ihre und zwang sie, aufzuhören. Dann schob er sich hoch, stützte sich auf und starrte Kate an, als sehe er sie zum ersten Mal. Das Glitzern in seinen Augen erlosch. »Du lieber Himmel!«, sagte er heiser. »Val?«, fragte sie bang und fürchtete, in ihrer Unerfahrenheit einen schlimmen Fehler begangen zu haben. Kate streckte eine Hand aus, um ihm über die Wange zu streichen, aber er wich voller Entsetzen vor ihr zurück.
Der Arzt verließ das Sofa, als könne er nicht rasch genug von Kate fortkommen. Als er den Kamin erreichte, musste er sich mit beiden Händen am Sims festhalten. Kate spürte immer noch seine Lippen auf ihrem Mund, bebte noch unter seinen Berührungen und kam wesentlich langsamer hoch. Verwirrung und das Gefühl, beraubt zu sein, beherrschten sie. »Val, was ist mit dir -« »Raus!«
Das harte Wort traf sie wie ein Peitschenhieb. »Wie ... wie bitte?«
»Zieh dich an und verschwinde!« »A-aber...«
»Bist du schwerhörig, Mädchen? Ich habe gesagt, du sollst dich anziehen und dann mein Haus verlassen. Sofort, ehe ich -« Er beendete den Satz nicht, sondern kehrte ihr den Rücken zu und ballte die Hände zu Fäusten. Kate hatte das Gefühl, von ihm geschlagen worden zu sein. Sie warf ihm einen langen verletzten und verständnislosen Blick zu. Dann richtete sie ihre Kleider, und alle Leidenschaft erlosch in ihr. Wenig später begannen ihre Wangen wieder zu brennen, doch nicht aus neuer Begierde.
Die junge Frau kam sich wie ein dummes Ding vor, beschämt und wie ein Flittchen. Ob Zauber oder nicht, Val war auch jetzt noch Gentleman geblieben. Vermutlich stieß ihn ihr undamenhaftes Gebaren ab. Als sie den letzten Knopf geschlossen hatte, sagte sie kläglich: »Tut... tut mir Leid, Val.«
»Dir tut es Leid?« Er drehte sich zu ihr um, sah sie aber mit gerunzelter Stirn an.
»Ja, denn was gerade geschehen ist, war alles meine Schuld, und -« Sie unterbrach sich, denn das Gelächter, welches er jetzt anstimmte, verletzte und verwirrte sie.
Und plötzlich sah er wieder aus wie ihr Val, ließ sich neben ihr auf dem Sofa nieder und ergriff ihre Hände. »Meine wilde Kate«, murmelte er. »Du bist solch eine kleine Närrin. Wie kannst du annehmen, dass du etwas mit dem zu tun hättest, was eben zwischen uns geschehen ist.«
»Aber natürlich habe ich das.« Sie schob trotzig das Kinn vor, weil sie diesen nachsichtigen Tonfall heute mehr denn je hasste. »Du kannst mich doch nicht immer noch als kleines Mädchen ansehen, das von nichts eine Ahnung hat. Ich habe dir schon oft gesagt, dass ich nicht so unschuldig bin.«
»Du bist so ahnungslos wie ein Neugeborenes«, widersprach er und küsste ihr sanft die Fingerspitzen. »Ach, du begreifst ja nicht einmal, wie nahe ich davor stand, dich zu entehren.«
»Aber du könntest mich doch nie entehren!« »Doch. Ich erhalte gerade eine Vorstellung davon, wozu ich in der Lage bin.« Er wurde ernst, ließ ihre Hände los, erhob sich und zog Kate hoch. »Bitte, geh jetzt.«
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Auch wenn sie ihm viel lieber über das Haar gestrichen und die ernsten Falten in seinem Gesicht zum Verschwinden gebracht hätte.
Als die junge Frau letzte Nacht ihren Zauber über dem Beschwörungsfeuer gesprochen hatte, hatte sie sich nur immer währendes Glück vorgestellt - und das Ende von Vals Einsamkeit und ihrer unerfüllten Sehnsucht. Aber sie hätte nie geglaubt, was der Zauber für Erschütterungen in ihm auslösen würde. Wie sooft musste Kate sich eingestehen, dass sie wieder einmal überhaupt nicht nachgedacht hatte.
Voller Zerknirschung und Verdruss schlich sie an ihrem Freund vorbei zur Tür.
»So ganz ohne Kuss und Abschiedsgruß musst du dich nun auch nicht davonschleichen.« Neue Hoffnung entstand in ihr, und sie konnte den Kopf wieder hoch tragen. Sie eilte zu ihm zurück, bereit, sich an seine Brust drücken zu lassen.
Aber Val legte ihr die Hände auf die Schultern und sorgte so für einigen Abstand. Züchtig küsste er sie auf Stirn und Nase. Flüchtig streiften seine Lippen dann über die ihren. Kate seufzte und drängte sich an ihn. Und im nächsten Moment lag sie in seinen Armen und küsste ihn wie eine Verhungernde, während er sie hielt, als wolle er sie nie mehr loslassen.
»Nein!« Halb lachend stieß Val sie von sich. »Großer Gott, Kate, das ist doch der helle Wahnsinn!« »Nein, Val, es ist wunderbar«, widersprach sie und versuchte, sich an ihm festzuhalten. »Ich habe dich immer geliebt, und jetzt liebst du mich auch. Was sollte daran falsch sein?«
»Nichts, nichts - alles, einfach alles.« Er packte ihre beiden Hände, und auf seiner Miene lagen Erschrecken und Verlangen. »Das alles ist mir viel zu schnell gekommen. So viele Veränderungen ... Ich muss erst über alles nachdenken.«
Als sie widersprechen wollte, legte er ihr eine Hand auf den Mund. Und wenig später zog er mit der Fingerspitze die Linien ihre Lippen nach. Kate seufzte, als er die Hand zurückzog.
»Ich komme bald zu dir, mein Engel«, sagte Val leise. »Das verspreche ich dir.«
Bevor die junge Frau wusste, wie ihr geschah, hatte er ihr schon den Umhang um die Schultern gelegt und sie
durch die Diele nach draußen geschoben. Das Nächste, was Kate mitbekam, war, wie ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Noch halb benommen, stand sie da, als auch der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Grundgütiger! Glaubte Val etwa, er müsse sie aussperren? Vielleicht war es ja wirklich so, dachte sie traurig. Ihre Haut prickelte immer noch an den Stellen, an denen er sie berührt hatte. Trotz all ihrer Träume hatte sie nie geglaubt, dass Val sie wirklich einmal leidenschaftlich küssen würde.
Dieser Mann war einfach unglaublich, und sie hätte nichts lieber getan, als sich ihm noch einmal in die Arme zu werfen, damit er und sie dort weitermachen konnten, wo sie eben aufgehört hatten.
Eigentlich hatte sie ja noch großes Glück gehabt, dass Val selbst unter dem Einfluss ihres Liebeszaubers genug Verstand besaß, es nicht zu einem Skandal kommen zu lassen. Ja, jetzt verstand sie, warum er vorhin so merkwürdig reagiert hatte. Warum er sich in einer Minute so und in der Nächsten völlig anders benahm. Ganz klar, der Zauber hatte ihn im Griff, aber sein vornehmer Charakter wehrte sich noch dagegen, hielt sich an seinen Skrupeln und seinen falsch verstandenen Vorstellungen über ihre Unschuld fest.
Aber am Ende würde der edle Teil Vals unterliegen müssen!
Das zeigte sich allein daran, dass er sie »Engel« nannte. Dabei war doch überhaupt nichts Himmlisches an ihr. Im Gegenteil, im Moment kam sie sich eher wie des Teufels Tochter vor.
Ich habe dich immer geliebt, und von nun an soll nichts
mehr zwischen uns stehen, das verspreche ich ...
Das waren seine Worte gewesen. Was für ein leidenschaftlicher Schwur. Aber war der wirklich aus seinem Herzen gekommen, oder hatte nur der Zauber ihn so sprechen lassen?
O Gott! Wie hatte sie so etwas nur tun können? Schwarze Magie gegen ihren besten Freund einzusetzen und ihm seinen Willen zu rauben ... ihn in eine Falle zu locken?
Nein, nein, nein, redete sie sich mit der Kraft der Verzweiflung ein, ich habe ihn doch nicht in eine Falle gelockt!
Vielmehr hatte sie ihn von seinem verkrüppelten Bein befreit. Und von den unmenschlichen Einschränkungen der Familientradition.
Alles würde gut werden, wenn Val sich endlich dem Zauber ergab. Vielleicht brauchte er ja wirklich nur noch etwas Zeit, um sich an alles zu gewöhnen. Immerhin hatte er ihr ja noch etwas versprochen: Ich werde zu dir kommen, mein Engel... »Lass mich nicht zu lange warten, mein liebster Freund«, flüsterte Kate, legte eine Hand auf ihre Lippen und presste die Finger als Abschiedskuss an seine Tür.
Als sie das Dorf erreichte, hatte sie alle Zweifel und Sorgen in sich unterdrückt und malte sich ihre Zukunft mit Val in den rosigsten Farben aus.
Die St. Legers würden natürlich zuerst Einwände vorbringen, die aber rasch verstummten, wenn sie feststellten, wie glücklich die beiden miteinander waren. Dann würden auch sie einsehen, dass alte Familiensagen mitunter irren konnten.
Selbst Effie würde vor Stolz strahlen, wenn Kate mit Val in der St.-Gothian-Kirche vor dem Altar stand. Zusätzlich zu den Hochzeitsvorbereitungen wollte die junge Frau noch ein wenig mehr tun, nämlich dafür sorgen, dass der Vikar und ihre Adoptivmutter mehr Zeit miteinander verbrachten. Dann wäre Effie nicht so allein, nachdem Kate ins Schieferhaus gezogen war.
Danach malte die junge Frau sich aus, was sie alles in und an diesem düsteren Cottage ändern würde. Die Fensterläden aufstoßen, die Spinnweben der Vergangenheit hinausfegen und alle Räume neu streichen und tapezieren - alles in hellen, freundlichen Farben.
Außerdem wollte sie Val in seiner Arztpraxis helfen, damit er sich nicht mehr überarbeitete und seine besonderen Fähigkeiten schonte.
An freundlichen Tagen würden sie beide am Strand entlangreiten oder sich endlich wieder im Fechtkampf üben. An Regentagen würde sie in der Bibliothek Tee servieren und sich zusammen mit Val ein hochinteressantes neues Buch ansehen.
Und in ihren Mußestunden würden sie sich auf dem Sofa lieben.
Als sie Effies Rosenbusch-Cottage erreichte, zeigte sie in Gedanken schon dem frisch gebackenen Vater seinen Erstgeborenen - und blieb von einer Sekunde auf die andere stehen.
Vor dem Tor stand ein glänzender neuer Zweispänner mit einem Paar Grauschimmel davor. Die elegante Equipage und der livrierte Diener, der die Pferde versorgte, wirkten in einem so abgelegenen Kaff wie Torrecombe unglaublich pompös und fehl am Platz.
Kate unterdrückte einen Fluch. Ihre Gedanken waren derart mit Val beschäftigt, dass sie jetzt weder Zeit noch Lust hatte, ihrer Adoptivmutter bei einem Klienten zu helfen.
Erst recht nicht bei diesem hier.
Victor St. Leger schritt gerade auf das Haus zu und achtete peinlich genau darauf, seine neuen und todschicken Hessians-Stiefel nicht zu beschmutzen. Kate wusste, dass die anderen Mädchen im Dorf Victor unglaublich attraktiv fanden. Diese dummen Gänse konnten sich stundenlang über seine schmachtenden Blicke und den sinnlich geschwungenen Mund auslassen. Kate war der junge Mann dagegen immer schon zu glatt erschienen, und verglichen mit Val wirkte er wie ein grüner Junge.
Victor studierte in einer Regenpfütze seine Erscheinung, rückte seinen Biberpelzhut gerade und strich über die Falten seines Reisemantels.
Kate verzog verächtlich den Mund und bedauerte Mollie Grey. Solange Victor nur sein eigenes Spiegelbild liebte, würde er seiner auserwählten Braut niemals einen Antrag machen. Er pflegte nichts anderes als den Müßiggang, leistete nichts und lebte von den Vermögen, das er von seinem Großvater und seinem Vater geerbt hatte. Für gewöhnlich verbrachte er seine Zeit in Orten wie Penzance oder in großen Städten wie Plymouth, wo er Bälle, andere Lustbarkeiten und Pferderennen aufsuchte und dort mit ebenso einfältigen Damen flirtete. Was wollte dieser Tunichtgut denn hier im Rosenbusch-Cottage? Vermutlich die arme Effie mit neuen Klagen über die Braut plagen, die sie für ihn ausgesucht hatte. »Verdammter Kerl!«, murmelte die junge Frau. Sie raffte ihre Röcke, rannte los, überholte Victor und erreichte vor ihm die Haustür.
»Kate!«, rief er und hielt sofort inne, um zu überprüfen, ob seine Aufmachung keinen Schaden erlitten hatte. Die junge Frau wusste nicht, ob er nur jetzt wütend auf sie war oder ob er sie im Allgemeinen nicht leiden konnte. Die
beiden hatten bislang kaum ein Wort miteinander gewechselt - außer bei dem Familienfest der St. Legers vor einem Jahr. Aber da hatte Kate sich Val zuliebe Mühe gegeben, wie eine Dame aufzutreten.
Victor hatte sie damals durch sein lachhaftes Monokel gemustert und dann erklärt, dass ihr neues Kleid mit zu vielen Bändchen ausgestattet sei. Sie hätte besser daran getan, einige abzunehmen und sich in den Mopp von Haar zu binden.
Kate hatte in süßlichem Tonfall entgegnet, er solle doch seinen Kragenknopf öffnen; der sei bestimmt Schuld an seinem geschwollenen Kopf.
Das hatte er mit der Bemerkung gekontert, dass sie immer noch den Charme eines Findelkindes besäße. Eigentlich hätte es ihr gleichgültig sein können, von jemandem wie Victor beleidigt zu werden. Aber irgendwie schmerzte es doch. Kate beendete den Austausch von Nettigkeiten mit einem Hieb auf Victors Kopf. Danach verlangte Effie nicht mehr von ihrer Adoptivtochter, mit einem Sonnenschirmchen herumzulaufen. Die junge Frau baute sich vor Victor auf und stemmte die Fäuste in die Hüften.
»Was wollt Ihr hier?«, fragte sie und gab sich nicht einmal den Anschein von Höflichkeit.
Victor hielt eine Hand auf dem Rücken und tippte mit der anderen an seinen Hut. So viel Galanterie hätte sie nie von ihm erwartet.
»Ich bin gekommen, um -«
»Effie ist nicht zu Hause.«
»Aber -«
»Zumindest ist sie für Euch nicht zu sprechen. Meine Adoptivmutter hat schon genug für Euch getan, indem sie Euch eine Braut gefunden hat. Mollie ist ein liebes Mädchen und viel zu gut für einen ausgemachten Trottel wie Euch. Ihr solltet Euch glücklich schätzen!« »Aber das tue ich doch -«
»Und selbst wenn es Euch an ausreichend Verstand fehlt, Dankbarkeit zu empfinden, solltet Ihr doch mit den Traditionen Eurer Familie vertraut sein. Sobald die Brautsucherin sich erklärt hat, kann man die Wahl nicht mehr ändern. Und Effie zu umschmeicheln oder sie zu bedrohen, hat überhaupt keinen Zweck. Also könnt Ihr genauso gut gleich wieder nach Hause fahren!« »Kate, Kate!«, unterbrach er sie lachend. »Ich versichere Euch, dass ich nicht gekommen bin, Effie zu plagen. Sondern um Euch zu sprechen.« »Mich?«
Die Hand, die er hinter dem Rücken gehalten hatte, kam nun zum Vorschein. Er reichte ihr ein kleines Gebinde mit rosafarbenen Röschen.
Kate starrte auf die Blumen, als hielte er ihr eine Schlange hin.
»Für wen sind die denn?«, fragte sie misstra'uisch. »Für Euch, bitte sehr.« Er schenkte ihr das Lächeln, bei dem die Dorfschönen reihenweise in Ohnmacht gefallen wären.
Nach einem Moment der Verwirrung kam sie dahinter, was Victor mit diesem Sträußchen bezweckte. Kopfschüttelnd erklärte sie:
»Wenn Ihr glaubt, mich bestechen und auf Eure Seite ziehen zu können, dann habt Ihr Euch aber gewaltig geirrt. Ich mag ja die St.-Leger-Sage für blanken Unsinn halten, aber Mollie glaubt fest daran. Ihr habt das arme Mädchen die halbe Nacht lang warten lassen!« Er zuckte zusammen, kannte offensichtlich so etwas wie ein schlechtes Gewissen, und entgegnete: »Ich hatte wirklich vor, zu ihr zu gehen, war sogar schon auf dem Weg zu ihrem Haus, als mir klar wurde, dass ich Mollie niemals heiraten könnte, weil ich in eine andere verliebt bin.«
»Und wer ist dieses unglückselige Geschöpf?«
»Ihr!«
»Was?«
Victor nahm ihre Hand, und Kate war viel zu verdutzt, um ihm das zu verwehren. »Ich liebe Euch von ganzem Herzen, und ich verstehe kaum, warum mir das nicht schon früher aufgefallen ist«
»O ja, natürlich. Die Erkenntnis muss Euch gekommen sein, als Euch mein Schirm auf den Kopf traf. Ich fürchte, ich habe etwas zu hart zugeschlagen.«
Der junge Mann ging auf diesen Spott nicht ein, sondern versuchte, ihre Finger an seine Lippen zu führen.
»Lasst das!«, fuhr sie ihn an und riss ihre Hand weg. »Habt Ihr denn vollkommen den Verstand verloren?«
»Nein, nur mein Herz. Aber ich will mich Euch nicht auf der Schwelle erklären. Sollen wir nicht ins Haus gehen?«
»Nein!«
»Dann bleibt mir wohl kein andere Wahl«, seufzte der Jüngling.
Zu Kates großer Bestürzung kniete er vor ihr nieder, mitten auf dem Gartenweg, wo das halbe Dorf ihn sehen konnte. Er legte den Strauß vor sie hin wie ein alter Römer, der seiner Göttin ein Opfer darbringt. Nun nahm er auch noch den Hut ab, hielt ihn sich vors Herz und säuselte: »Kate Fitzleger, wollt Ihr mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?«
»Nein, ganz gewiss nicht«, erwiderte sie und zog an den Falten seines Radmantels, um ihn wieder auf die Füße zu bekommen. »Nun steht schon auf, bevor Ihr Euch endgültig zum Esel macht und Euch die Hose beschmutzt.«
»Das ist mir egal.«
War das wirklich Victor St. Leger, der da zu ihr sprach? Die junge Frau bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Wenn das irgendein dummer Scherz sein sollte, so finde ich den überhaupt nicht -«
»Das ist mein heiliger Ernst, Kate«, erwiderte er leicht beleidigt. Aber wenigstens erhob er sich wieder. »Victor, vielleicht solltet Ihr nach Hause oder in einen Gasthof fahren und Euch hinlegen. Offensichtlich seid Ihr zu lange der Sonne und der frischen Luft ausgesetzt gewesen. Das bekommt Euch nicht.«
»Nein, mein Herz, es war nicht die Sonne, sondern der Sturm letzte Nacht. Der erinnerte mich nämlich an Eure wunderbaren blitzenden Augen, und ich begriff, wie sehr ich Euch anbete. Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz, wenn ich so kühn sein darf, das hinzuzufügen.« »Das ist ja wohl die lächerlichste -«, entlud sich Kate, nur um erschrocken innezuhalten. Es hatte Victor wie ein Blitz getroffen? O nein, bitte nicht! Das konnte doch nicht wahr sein, oder?
Sie studierte seine Miene und suchte darin nach Anzeichen von Spott. Sonst neckte er sie doch auch so gerne ... Aber in seinen Zügen war nur die übliche Arroganz zu entdecken. Und der Blick aus seinen Augen hatte so viel Ehrlichkeit in sich, dass es der jungen Frau ganz anders wurde.
Kate erstarrte. Sie konnte sich nicht mehr bewegen und keinen einzigen zusammenhängenden Gedanken fassen. Victor nutzte ihre Lage schamlos aus, legte einen Arm um ihre Hüfte und bereitete alles dafür vor, sie hier mitten auf der Türschwelle und vor allen Dorfbewohnern zu küssen!
Die junge Frau kam rechtzeitig zur Besinnung, und es gelang ihr im letzten Moment, ihre Arme zwischen sich und ihn zu bringen. »Victor! Hört sofort auf damit!« Aber in seinem Liebeswahn versuchte er, ihr noch näher zu kommen. »Mein Engel, meine Angebetete, meine Allerliebste! Sagt mir, dass Ihr die Meine werden wollt!« »Nein! Habt Ihr denn völlig den Verstand verloren?« Sie hatte erhebliche Mühe damit, ihn abzuwehren. Kate hätte nie erwartet, dass er so stark sein könnte. »Was soll denn aus Eurer auserwählten Braut werden?« Sie musste ihn unbedingt zur Besinnung bringen: »Wenn Ihr Mollie nicht heiratet, wird der Familienfluch über Euch hereinbrechen!«
»Solch Wagnis würde ich eingehen - für einen einzigen Kuss von Euch.« Er senkte den Kopf, bis sein Mund nur noch eine Winzigkeit von ihrem entfernt war. Kate drehte rasch den Kopf zur Seite, und so trafen seine gespitzten Lippen ihre Wange.
Wie konnte sie sich nur von ihm befreien? Jetzt, da er sie fast an die Haustür gedrückt hatte. »Victor, wenn Ihr mich nicht sofort freigebt, wird Euch das noch furchtbar Leid tun!«
»Kate«, stöhnte er nur und drückte feuchte Küsse auf ihre Schläfen, »Ihr brecht mir noch das Herz!« »Nein, aber den Kopf!« Sie bekam eine Hand frei und versetzte ihm damit einen Kinnhaken. Kein wirklich harter Schlag, aber einer, der ausreichte, ihr etwas Luft zu verschaffen.
Dann schlug sie ihm noch mit beiden Fäusten an die Brust, sodass er ein Stück zurücktaumelte. Im selben Moment wirbelte sie herum und stürzte ins Cottage. Sie warf die Tür hinter sich ins Schloss und lehnte sich dagegen. Doch zu ihrem Verdruss fing Victor an, gegen die Tür zu hämmern und um Einlass zu betteln.
»Kate, Kate, verzeiht mir. Ich wollte wirklich nicht derart über Euch herfallen. Dafür verehre ich Euch viel zu sehr. Nun lasst mich doch ein, auf dass ich Eure Vergebung erlangen kann!«
Kate verdrehte die Augen. »Ich vergebe Euch, Victor. Aber nur, wenn Ihr Euch auf der Stelle verzieht.« »Wie könnte ich diesen Ort verlassen, ohne Euch vorher davon überzeugt zu haben, wie sehr ich Euch liebe und wie ich Euch zeitlebens verwöhnen will?« Als sie darauf keine Antwort gab, hämmerte er noch lauter an die Tür. »Kate, bitte, lasst mich doch ein!« Die junge Frau verzog das Gesicht und sah sich in der Diele um. Wenn Victor nicht mit seinem Gelärme aufhörte, würden die Diener herbeigelaufen kommen. Womöglich sogar Effie. Und wenn ihr Vormund erfuhr, worum es ging, würde sie auf der Stelle tot umfallen. Kate schrie durch die Tür: »Geht endlich, Victor! Sonst muss ich Onkel Anatole rufen! Glaubt mir, das werde ich tun!«
Eine leere Drohung. Der gefürchtete Herr von Castle Leger hatte heute Morgen Torrecombe verlassen, um Dr. Marius zu besuchen.
Aber Victor hatte offenbar noch nichts davon gehört. Er stellte das Klopfen ein, und Kate hielt den Atem an. Nachdem sich eine ganze Weile nichts mehr getan hatte, schlich die junge Frau in den Salon und stellte sich hinter den Vorhang.
Ihr Verehrer trottete gerade zu seiner Kutsche zurück. Bitte bitte bitte, flehte Kate, lass Victor jetzt lachen, seinen Diener in die Seite stoßen und ihm erzählen, welch famosen Streich er gerade Miss Fitzleger gespielt habe. Aber der junge Mann zeigte keinerlei Anzeichen von Erheiterung. Er tänzelte auch nicht mehr beim Gehen, sondern schlich dahin. Sie hatte diesen arroganten jungen Burschen noch nie so niedergeschlagen erlebt. Als die Kutsche anfuhr, warf er einen wehmütig sehnsuchtsvollen Blick auf das Cottage. Ob sie ihm wirklich das Herz gebrochen hatte? Grundgütiger! Was hatte sie nur angerichtet? Nichts! Nichts!, beruhigte sie sich grimmig. Was Victor befallen hatte, hatte sich bestimmt nicht so abgespielt, wie Kate befürchtete. Sein Gerede von einem Blitz, der ihn getroffen habe, war nur eine Redensart oder bloßer Zufall.
Sie hatte ihren Zauber auf Val gerichtet und nicht auf Victor. Seine Initialen hatte sie in das Stück Kohle geritzt: VS für Valentine St. Leger. Oder für Victor St. Leger.
Nein, nein und nochmals nein! Das konnte einfach nicht sein. Außerdem hatte sie bei ihrem Ritual die ganze Zeit nur an Val gedacht. Und ein Liebeszauber konnte doch nicht zwei Männer treffen, oder?
Eigentlich war so etwas ausgeschlossen, aber zur Sicherheit wollte sie das noch mal im Zauberbuch nachlesen. Sie stürmte die Treppe hinauf und stieß beinahe mit Nan zusammen.
»Oh, Miss Kate! War da nicht gerade jemand an der Tür?« »Nein!« Die junge Frau ließ die Magd einfach stehen, rannte in ihr Zimmer und schloss hinter sich ab. Sie stürmte auf den Ankleidetisch zu und riss den Schal hoch, unter dem sie das Bändchen versteckt hatte. Oder glaubte, es dort verborgen zu haben. Kate versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Dann riss sie die oberste Schublade auf, und die nächste, die dritte. Danach fiel sie über die Truhe, den Schrank und den Schreibtisch her.
Eine halbe Stunde später hatte sie in ihrer Kammer das Unterste zuoberst gekehrt. Völlig entmutigt ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Das konnte doch nicht wahr sein. Prosperos Buch war verschwunden ...
Val öffnete die Fensterläden. Vom Bibliotheksfenster aus konnte er den Sonnenuntergang auf dem Meer betrachten. Flammend versank der Himmelsstern und sandte rotgoldenes Licht aus, das sich wie Blut auf den Wogen ausbreitete.
Was geschah nur mit ihm?
Er hatte keine Ahnung. Nur dass es zum Abend hin schlimmer mit ihm wurde.
Seine Diener hielten längst Abstand zu ihm. Selbst Jem schien davor zurückzuschrecken, ihn noch einmal zu stören. Val konnte ihm daraus keinen Vorwurf machen. Den ganzen Nachmittag hindurch hatte er schon jeden angefahren, der sich der Bibliothek näherte. Nein, er wolle keinen Tee! Nein, auch kein Abendessen... Was wollte er denn wirklich? Kate...
Und warum hast du Idiot sie dann gehen lassen? Valentine hielt sich mit beiden Händen am Fensterbrett fest, um dem Drang zu widerstehen, zu Kate zu laufen, sie zu packen und hierher in sein Bett zu tragen. Warum eigentlich nicht, verdammt noch mal? Kate würde bestimmt nichts dagegen haben. Sie hatte ihm mehr als einmal bewiesen, wie willig sie war und dass sie es kaum abwarten konnte ... Was, zum Henker, dachte er denn da? Er presste die Hände gegen die Schläfen, so als könne er auf diese Weise die dunklen Begierden in ihm zerquetschen. Nach Kate gelüstete es ihn, seinem wilden Mädchen, seiner besten Freundin. Heute Nachmittag hätte er sie beinahe auf dem Sofa vergewaltigt! Erst recht erschreckte ihn, dass diese Gefahr noch nicht gebannt war. Er wollte Kate immer noch haben und scherte sich keinen Deut um die Folgen. Er dachte an die Familientradition, nach der ein männlicher St. Leger genau spürte, wenn für ihn der Zeitpunkt kam, sich mit einer Frau zusammenzutun. Dann schien sich ein Fieber in seinem Blut auszubreiten. Der Arzt sagte sich, dass das nicht schlimmer sein konnte als das, was er jetzt durchmachte. Aber Kate war ja nicht seine auserwählte Braut! Ihm blieb nur eines zu tun übrig. Er musste sich von Kate fern halten. Valentine zog die Fensterläden wieder zu, um seinen Entschluss zu unterstreichen. Nur half ihm das nicht im Mindesten. Er ertappte sich dabei, wie er die Haustür öffnen wollte. Was stimmte nicht mit ihm? Alle Skrupel und alle moralischen Grundsätze zerbröselten in ihm. Dafür drängten alle Arten von Leidenschaften nach oben.
Irgendwie schien das alles mit der letzten Nacht zu tun zu haben. Aber was genau war da eigentlich geschehen. Er lachte humorlos. Seine Finger wanderten über seine Brust und spürten die Umrisse der Halskette mit dem Kristallsplitter. Bislang war Valentine noch nicht dazu gekommen, sich das Stück genauer anzusehen. Der Arzt zog die Kette hervor und betrachtete sie. Nur ein kleines abgebrochenes Stück aus dem Kristall im Knauf des St.-Leger-Schwerts - und dennoch funkelte es mit hypnotischer Kraft.
Valentine konnte sich nicht darauf besinnen, wie er an diese Kette gelangt war. Nur einer konnte ihm eine Antwort darauf geben: Rafe Mortmain.
Aber musste er überhaupt die Hintergründe erfahren? Reichte es nicht, dass das Schwert nun wieder vollständig gemacht werden konnte?
Er strich über den Splitter, und der schien alles zu enthalten, was er sich immer gewünscht hatte ... Nein. Valentine blinzelte und schloss die Hand um den Kristall. Der Splitter übte einen starken Einfluss auf ihn aus. Er sollte ihn seinem rechtmäßigen Besitzer übergeben, seinem Bruder Lance, dem gegenwärtigen Träger des Familienschwerts.
Der Arzt nahm die Kette ab und wunderte sich darüber, wie schwer ihm das fiel. Dann steckte er sie in eine alte, leere Geldbörse, die er in der Schreibtischschublade aufbewahrte.
Kaum hatte er die Lade geschlossen und konnte den Splitter nicht mehr sehen, erhielt er die Quittung dafür. Die Schmerzen in seinem Bein kehrten mit einer Macht zurück, als wollten sie sich an ihm rächen. Valentine musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien. Mühsam erreichte er das Sofa und ließ sich darauf fallen. Allem Anschein nach war dieses Wunder vorüber. Er musste den Kristall wieder anlegen, dann vergingen die Schmerzen, fuhr es ihm durch den Sinn. Doch kaum hatte er sich aufgerappelt, warnte ihn eine innere Stimme. Der Arzt ließ sich auf die Kissen fallen und massierte sein Knie. Es schmerzte wie damals, als er sich die Verletzung zugezogen hatte. An jenem Tag, an dem er seinen Bruder Lance verwundet auf dem Schlachtfeld in Spanien gefunden hatte.
Lance war ein Mal zu oft tollkühn gewesen. Valentine öffnete sich ihm und übernahm von ihm die Schmerzen ... Und irgendwie war alles furchtbar schief gelaufen .,. Jetzt stand ihm bei der Erinnerung der Schweiß auf der
Stirn. Der Arzt hatte nie genau verstanden, was an jenem Tag passiert war. Offenbar hatte er von seinem Bruder viel mehr als nur die Wundschmerzen erhalten ... In dieser Sekunde tauchte eine neue Erinnerung in ihm auf:
Er kniete in der Diele, beugte sich über einen Mann, um ihm zu helfen...
Valentine versuchte angestrengt, mehr herauszufinden ... Ein Sturm hatte gewütet, vor ihm war die Halskette mit dem Splitter aufgetaucht, und etwas hatte seinen Unterarm umklammert...
Warum setzte sein Gedächtnis immer wieder aus? Doch gleichzeitig spürte er die Gewissheit, dass sein Leben davon abhinge, sich an alles zu erinnern. Etwas Dunkles und Schreckliches hatte sich in der zurückliegenden Nacht ereignet. Etwas, das mit dem Sturm, dem Kristall und einer generationenalten Feindschaft zu tun hatte... Rafe Mortmain!