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5

Der Feuerring stieg höher und schleuderte Funken in den schwarzen Vorhang der Nacht. Unheimlicher Lichtschein umwaberte den uralten Stein. Seit Jahrhunderten hatte man hier kein Feuer mehr entzündet; nicht seit der Herrschaft Oliver Cromwells, als man sich erzählte, Hexen würden am Fuße dieses Monolithen ihre teuflischen Rituale durchführen. Doch zeigte sich hier heute Nacht nur eine Frau. In ihrem wehenden schwarzen Umhang wirkte sie durchaus wie eine Zauberin. Der Wind fuhr ihr durch das rabenschwarze Haar, und die Flammen erzeugten vielerlei Farben auf ihren blassen Wangen. Ihre Augen brannten beinahe noch grimmiger als das Feuer. Jeder, der hier zufällig vorbeikäme, würde sofort glauben, es habe ihn in eine Hexenversammlung verschlagen, und die Beine in die Hand nehmen.

Aber während Kate neues Holz in die Flammen warf, fühlte sie sich ganz und gar nicht wie eine mächtige, schreckliche Zauberin, sondern eher wie ein Kind, das mit dem Feuer spielte.

Die junge Frau hustete von dem Rauch, den der Wind ihr ins Gesicht blies, und zog sich in den Schutz des großen Steins zurück. Mit brennenden Augen sah sie sich um und versuchte, sich zu beruhigen.

Der Hügel, auf dem sie stand, bot normalerweise einen einmaligen Ausblick auf die Ländereien der St. Legers. Aber heute Nacht war das Land in der Finsternis verborgen. Und das Meer viel weiter unten brüllte wie ein Untier, das mit seinen Klauen gegen die Küste schlug. Trotz des warmen Umhangs und des lodernden Feuers fror Kate. Sie hatte noch nie Angst vor der Dunkelheit gehabt, aber heute schien einiges in der Luft zu liegen. Halloween, die Nacht vor Allerheiligen, war angebrochen. In dieser Nacht sollte sich, so erzählte man sich, die Grenze zwischen dieser und der nächsten Welt auflösen, sodass ruhelose Geister von der einen in die andere spazieren könnten.

Tatsächlich schien diese Nacht selbst zum Leben erwacht zu sein. Wie ein Tier heulte der Wind durch die Bäume, die Wolken warfen unheimliche Schatten auf den Mond, und immer wieder raschelte es im Heidekraut. Ein Wiesel oder ein Dachs, redete Kate sich ein. Doch jedes Mal, wenn sie sich rasch umdrehte, war nichts zu sehen. Dafür klopfte ihr Herz umso lauter.

Jeder, der seine fünf Sinne noch beisammen hatte, würde sich heute Nacht nicht hier draußen aufhalten, sondern bei den Freudenfeuern bleiben, die in den Dörfern angezündet wurden.

Kate wünschte, sie hätte das auch getan, um mit den anderen um die Flammen herumtanzen und so die Geister und Dämonen für ein weiteres Jahr zu verscheuchen. Aber nein, sie wollte ja einen eigenen dunklen Zauber bewirken. Mit zitternden Fingern griff sie in ihren Umhang und zog das gestohlene Buch heraus. Die ganze Zeit befürchtete sie, Prospero könne jeden Moment in einer Rauchsäule vor ihr aufsteigen und ihr voller Zorn sein Buch entreißen!

Verwirrt fragte sich die junge Frau, warum der Urahn noch nicht eingeschritten war. Seit zwei Tagen hatte sie das Bändchen nun schon in ihrem Besitz. Bestimmt war ihm doch längst aufgefallen, dass das Buch fehlte; und er konnte sich auch sagen, wer es ihm gestohlen hatte. Wenn er sein Eigentum nicht zurückverlangte, dann wohl nur aus dem Grund, ihr diesen üblen Streich mit gleicher Münze heimzuzahlen.

Vielleicht hatte der großmächtige Zauberer sie ja auch hereingelegt. Womöglich hatte er sie getäuscht, und sie glaubte nur, ein Zauberbuch eingesteckt zu haben. Nicht auszudenken, wenn sich das Bändchen als Werk voller wertlosem Unsinn entpuppen sollte ... Nein, diese Möglichkeit wollte Kate nicht in Betracht ziehen. Sie strich über das Drachenzeichen, das man in den Einband gepresst hatte, und glaubte, die Macht zu spüren, die zwischen den brüchigen Seiten steckte. Der gerissene Prospero hatte seine persönlichen Notizen in einer Geheimschrift niedergelegt, ha, das glaubte er aber auch nur! Kate hatte in ihnen sofort ägyptische Hieroglyphen wiedererkannt. Valentine, der als fortschrittlicher Gelehrter allen Neuerungen offen stand, hatte sich auch mit der neuen Wissenschaft der Ägyptologie befasst - und seine Schülerin in der alten Bilderschrift unterwiesen. Beim Unterricht hatte er manchmal geglaubt, ihr zu viel abzuverlangen, und sie gefragt, ob sie das nicht alles furchtbar langweile.

»Aber nein«, hatte sie sofort widersprochen. Wie sollte sie Val nur begreiflich machen, dass sie, die ihre Jugend in London verbracht hatte, erst durch ihn erkannte, wie schmal die Straßen dort waren? Sein geduldiger Unterricht und seine liebe zu den Büchern hatte ihr die Augen für ferne und vergangene Orte und Zeiten geöffnet.

»Mir macht es Spaß, alles über die Pyramiden, die Pharaonen und die Hirtoklüfen -« »Hieroglyphen«, verbesserte er sie damals sanft. »Ja, genau. Es kommt mir vor, als würden wir eine ganz besondere Sprache lernen, die nur wir beide verstehen können ... als würdest du mir genug vertrauen, um ein Riesengeheimnis mit mir zu teilen.« »Aber ich vertraue dir doch grenzenlos, Kate.« Diese Worte hatten sie gewärmt, sie, die man von frühesten Zeiten an immer nur als Diebin und Lügnerin beschimpft hatte ...

Ja, der Arzt vertraut dir. Er hält dich für seine wahre und vollkommen vertrauenswürdige Freundin - die seine Familie und ihre Traditionen achtet und ehrt... die nie etwas tun würde, was ihm schaden könnte!

Kate zuckte unter der unerwarteten Attacke ihres schlechten Gewissens zusammen.

»Aber ich will ihm doch gar nicht schaden«, rechtfertigte sie sich vor sich selbst. Was sollte denn an dem, was sie hier vorhatte, so schlimm sein. Die anderen Mädchen im Dorf setzten doch auch Liebeszauber ein, um ihren Auserwählten zu bekommen.

Was bist du doch für eine ausgemachte Lügnerin, Kate Fitzleger!

Ja, leider. Was sie hier tat, unterschied sich sehr von dem oft albernen Aberglauben der jungen Frauen im Dorf. Letztere wandten harmlose Mittelchen an, zum Beispiel, sich Salz über die Schulter werfen, während Kate sich auf die schwärzeste Magie einließ. Sie wollte Kräfte heraufbeschwören, die sich leicht als zu stark für sie erweisen könnten.

Wie leicht könnte etwas schief gehen?

Kate blickte in die tanzenden Flammen und glaubte für einen Moment, darin seine dunklen Augen zu erkennen, die sie anstarrten ... und auch noch seine Stimme zu vernehmen:

Weil es stets große Gefahren in sich birgt, in Herzensangelegenheiten Magie einzusetzen.

Kate schrie auf und fiel auf den Hintern. Sie starrte vorsichtig noch einmal in die Flammen, bis sie sich ausreichend davon überzeugt hatte, dass sie nicht mehr als ein herunterfallendes Scheit gesehen hatte. Und was sie für Prosperos Stimme gehalten hatte, war nicht mehr als das Zischen und Prasseln des Feuers gewesen. Doch dieser Satz ließ ihr keine Ruhe. Was hatte der Zauberer mit seinen Worten gemeint? Was sollte denn schon gefährlich daran sein, einen Liebeszauber zu weben? Zu dumm, dass sie neulich nicht nachgefragt hatte. Sie könnte das Unternehmen immer noch abblasen, das Feuer löschen und ins Dorf zurückschleichen. Vielleicht sogar zu Vals Cottage laufen und ihn bitten, sie einzulassen. Wenn sie wie ein verlorenes Kätzchen vor ihn trat, das Schutz vor einem nahenden Sturm suchte, würde er ihr sofort die Tür öffnen und sie nicht mit Fragen überschütten, sondern sie einfach in seine starken Arme nehmen, ihren Kopf an seine Brust drücken und sie endlos lange festhalten...

NEIN!, ermahnte Kate sich streng. Dazu würde es ganz gewiss nicht kommen. So wie sie sich ihm neulich an den Hals geworfen hatte, würde er sich hüten, sie auch nur zu berühren. Freundlich, aber bestimmt würde er Kate auffordern, doch besser zu Effie zu gehen. Wenn sie nicht den Mut aufbrachte, diesen Zauber heute Nacht zu beschwören, würde sie nie wieder Vals starke Arme um sich spüren.

Sie nahm das Buch in beide Hände und stellte sich wie eine Priesterin aus längst vergangenen Zeiten vor den stehenden Stein.

Ein dumpfes Grollen erfüllte die Nacht, so als wolle der Himmel selbst sie warnen. Kate blickte ängstlich hinauf zum Firmament und sah einen Blitz, der in deutlicher Entfernung den Himmel spaltete. Nur ein Gewitter, das heraufzog.

Die junge Frau konnte wieder ruhiger atmen. Sie musste sich aber beeilen, sonst würde der Regen ihr Feuer löschen.

»Ach, Val, verzeih mir bitte, was ich jetzt tue. Aber du lässt mir keine andere Wahl.«

Kate atmete tief durch und öffnete das alte Zauberbuch.

Der Schankraum im »Drachenfeuer«, in dem es für gewöhnlich laut zuging, lag heute Abend vollkommen verlassen da. Nur Reeve Trewithan hockte wie üblich an dem abgenutzten Eichentisch und nippte an dem letzten Bier, das er sich für heute leisten konnte. Schaumflocken hingen ihm im grauen Kinnbart, und er hatte sich das strähnige Haar aus der Stirn geschoben.

Sein einst straffer Körper drohte vorzeitig zu verweichlichen. Sein vorgewölbter Buch stieß gegen die Tischkante, als er zum Fenster hinaus auf das närrische Treiben seiner Nachbarn schaute.

Auf dem Dorfanger hatte man Freudenfeuer entzündet, und die Silhouetten von Tänzern hüpften im Takt zu den Fiedeln vor den Flammen auf und ab. Die Musik, der Lärm und das Lachen drangen selbst durch die dicken Mauern der Schänke.

»Was für eine Bande von abergläubischen Trotteln«, murmelte Reeve und wandte sich wieder seinem Krug zu. Er schien der einzige Mann in ganz Torrecombe mit genug Grips im Kopf zu sein, diesem Halloween-Schwachsinn keinerlei Beachtung zu schenken. Na gut, mit Ausnahme vielleicht noch von dem jungen Burschen, der sich in der dunkelsten Ecke auf der Bank lümmelte und düster in sein Whiskey-Glas starrte. Trewithan dachte säuerlich, dass dieser Jüngling zu denjenigen gehörte, die alle Mädchen im Dorf verrückt machten. Er hatte die schweren, sinnlichen und melancholischen Lippen, bei denen alle jungen Hühner den Verstand verloren. Sein schwarzes Haar tat ein Übriges, und seine dunklen Augen wiesen dichte schwarze Wimpern auf, um die ihn jede Frau beneidet hätte.

Die Hakennase, wenn schon nicht die elegante Kleidung, wies ihn eindeutig als St. Leger aus. Reeve fluchte leise. Er konnte sich nicht an den Namen dieses Jünglings erinnern. Jedenfalls keiner von der Burg. Vermutlich ein entfernter Vetter.

Aber was interessierte ihn das schon. Mochte ganz Torrecombe diese Familie mit ihrer eigentümlichen Art und ihren geheimnisvollen Wegen auch verehren, Reeve konnte sie allesamt nicht leiden. Vor allem diesen Arzt, Dr. Valentine St. Leger, nicht. Aufdringlicher Mistkerl. Wollte ihm Vorschriften darüber machen, wie er seine Frau zu behandeln habe. Drohte sogar damit, dass Carries nächstes Kind sie das Leben kosten würde. Und hetzte seine Frau auch noch gegen ihn auf, sie solle sich vor ihren ehelichen Pflichten drücken!

Der Arzt lebte ja wie ein Mönch, da konnte er leicht solche Ratschläge geben. Aber Reeve war ein richtiger Mann, und als solcher hatte er Bedürfnisse. Er nahm einen zu tiefen Schluck und hätte fast den Krug geleert. Gerade noch rechtzeitig konnte er ihn wieder absetzen. Dabei fiel ihm auf, dass der Wirt ihn mit seinen schwarzen Schweinsäuglein fixierte. Mr. Wentworth würde ihn bestimmt zur Tür hinausbefördern, sobald er den letzten Tropfen getrunken hatte.

Jetzt näherte sich der Mann lässig Reeves Tisch. In seiner gestreiften Seidenweste und den glänzenden Lederstiefeln wirkte er eher wie ein Kaufmann als wie ein Schankwirt vom Lande.

»Nun, Mr. Trewithan, ich hoffe, das Bier war zu Eurer Zufriedenheit«, sagte Wentworth. »Ich habe doch dafür bezahlt, oder etwa nicht?« Der Wirt legte seine gepflegten Hände auf die Lehne eines Stuhls, der ganz in der Nähe stand, und ließ sich von Reeves sauertöpfischer Miene nicht beeindrucken. »Eine wirkliche Überraschung, Euch heute Abend hier zu sehen. Man sollte doch meinen, Ihr hättet Euch den anderen da draußen angeschlossen, um mit ihnen zu feiern und Spaß zu haben.«

»Wenn man das Spaß nennt, wenn man albern herumhüpft und sich dabei am Feuer den Arsch ansengt.« Wentworth lächelte und nickte in Richtung des finsteren Jünglings in der dunklen Ecke. »Offenbar teilt der junge Herr dort Eure Ansichten.«

»Zum Teufel mit ihm.« Reeve warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Nur ein dummer Bengel. Seht nur, wie er in sein Glas starrt. Wer ist das überhaupt, zum Donnerwetter?«

»Sir Victor St. Leger, der Enkel des verstorbenen Captains Hadrian St. Leger.«

»Ach ja, an die alte Saufnase kann ich mich noch erinnern. Man sollte meinen, er hätte seinem Enkel beigebracht, dass Whiskey zum Trinken da ist und nicht nur zum Anschauen.« »Ich glaube, Master Victor versucht nur, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen.«

»Wofür denn? Seinen Whiskey zu trinken?«, höhnte Trewithan.

»Nein, für die Hochzeit. Bekommt Ihr denn gar nichts vom Klatsch und Tratsch im Dorf mit? Miss Effie Fitzleger, die Brautsucherin, hat dem jungen Herrn Mol-lie Grey gefunden. Master Victor soll ihr heute Abend den Antrag machen. Aber wenn man ihn so sieht, könnte man meinen, Miss Effies Wahl begeistere ihn nicht nachdrücklich.«

»Da kann ich ihn gut verstehen. Miss Mollie ist eine dürre Bohnenstange und an der Brust platt wie eine Flunder.«

»Ein großer Busen ist aber nicht alles, worauf man bei der Brautsuche Ausschau halten sollte«, entgegnete Mr. Wentworth.

Nein, stimmte Reeve in Gedanken zu, auch Durchhaltevermögen spielte eine Rolle. Dann zuckte er die Schultern. Dieser ganze Mist mit den St. Legers und ihren auserwählten Bräuten gehörte auch zu dem abergläubischen Unsinn im Dorf.

Andererseits hätte er früher auch gern einen Brautsucher gehabt, der ihm die Richtige fand. Vermutlich hätte sogar die blödsinnige Effie ihm eine Bessere besorgt als die, welche er sich selbst ausgesucht hatte. Damals war ihm Carrie ja ganz passabel erschienen, vor allem ihre großen Brüste. Aber wer hätte gedacht, dass sie sich als zu schwächlich erweisen sollte, die beiden wesentlichen Aufgaben einer Ehefrau zu erfüllen - nämlich Kinder zu gebären und ihrem Ehemann zu Willen zu sein. Er hob noch einmal seinen Krug und spähte hinein. Enttäuscht stellte er fest, dass nicht einmal mehr ein Mund voll Bier darin enthalten war. Reeve kramte noch einmal in seinem leeren Geldbeutel und warf dem Wirt einen erwartungsvollen Blick zu.

Nein, Mr. Wentworth würde ihn nicht anschreiben lassen. Nicht so wie früher, als die Zeiten noch besser gewesen waren.

Der Vorgänger von Mr. Wentworth, Silas Braggs, war ein Erzhaiunke gewesen. Ein Schmuggler und ein Dieb dazu. Manche tuschelten sogar, er habe auch einen Mord auf dem Kerbholz. Vor acht Jahren war Braggs dann wie von Zauberhand verschwunden ...

Zusammen mit diesem eingebildeten Zoll-Offizier, Captain Mortmain. Man konnte Braggs zu seiner Zeit ja viel vorwerfen, aber einen Stammkunden hätte er nie verdursten lassen.

Mr. Wentworth hingegen, der sich so gern für einen Gentleman hielt, bewies in dieser Frage eine schon bösartige Knausrigkeit. Manchmal weigerte er sich sogar, Reeve zu bedienen, obwohl er Geld in der Tasche hatte. »Heute gibt's für Euch nichts mehr, Mr. Trewithan«, erklärte das selbstgerechte Arschloch. »Geht nach Hause, und hebt etwas von dem Geld für Eure Familie auf.« Wenn er wohlmeinende Worte hören wollte, ging er lieber gleich zum Vikar, dachte Reeve, ließ die letzten Reste im Krug kreisen und fragte sich, wie seine Chancen stehen mochten; Victor St. Leger.

Aber nein, der Jüngling hatte seinen Whiskey hinuntergestürzt und schlich zur Tür wie jemand, der sich auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung befindet. Reeve seufzte. Dann sollte er sich wohl auch aufmachen. Als er in Richtung Ausgang schlurfte, räumte Mr. Wentworth sein Glas ab und rief ihm hinterher: »Einen schönen Abend noch, Mr. Trewithan! Ach ja, richtet Eurer Frau doch meine herzlichen Glückwünsche zur Geburt ihrer Tochter aus!«

Ihre Tochter? Als wenn die verwünschte Frau das alles ganz allein in die Wege geleitet hätte! Er wart dem Wirt einen wütenden Blick zu und begab sich nach draußen. Eisiger Wind empfing ihn, und er steuerte sein Zuhause an. Sein Heim voller Bälger, einem schreienden Baby, einer kalten Frau und einem leeren Bett. Reeve war in so schlechter Stimmung, dass er den Feiernden tunlichst aus dem weg ging. Er schritt den Pfad hinauf, der um das Dorf herumführte, und stieß gegen einen Mann, dem ebenfalls der Sinn nicht nach Freudenfeuern zu stehen schien.

»Verdammt, Bursche!«, fuhr Reeve den Unbekannten an. »Warum zieht Ihr nicht die Kapuze aus dem Gesicht, damit Ihr den Weg sehen könnt?«

Er wollte sich an ihm vorbeischieben, aber der Fremde hielt ihn unerwartet fest.

»Ihr werdet verzeihen, Freund«, krächzte eine Stimme aus den Tiefen der Kapuze, »aber vielleicht könnt Ihr Euch für mich als nützlich erweisen.« Trewithan wollte schon entgegnen, dass es nicht zu seinen Gepflogenheiten gehöre, sich irgendwem als nützlich zu erweisen, aber etwas an der Ausstrahlung des Mannes hielt ihn zurück. Das und die Hand an seinem Handgelenk, deren Finger ebenso hart wie kalt Zugriffen. »Was - was wollt Ihr denn von mir?« »Lediglich eine Auskunft.«

Der Mann ließ seine Hand los, und Reeve trat erleichtert einen Schritt zurück.

»Man hat mir mitgeteilt, Dr. Valentine St. Leger wohne nicht mehr in der Burg auf dem Hügel dort?«

»Ja, das stimmt. Er hat ein Cottage nahe am Dorf gemietet. Da kann er sich wohl besser in die Ehebetten von ehrlichen —«

Trewithan unterbrach sich lieber und leckte sich über die Lippen. Woher sollte er wissen, ob es sich bei diesem Fremden nicht um einen alten Freund des Arztes handelte?

»Und wo steht dieses Cottage?«, fragte der Verhüllte. »Eine halbe Meile diesen Weg hinunter. Nicht weit vom Strand. Man nennt es das Schieferhaus, und es -« »Nicht nötig, ich kenne den Ort.« »Ach? Dann seid Ihr wohl schon einmal hier gewesen?« Neugier verscheuchte seine Übellaunigkeit. Er spähte unter die Kapuze und wünschte im selben Moment, das nicht getan zu haben.

Seelenlose schwarze Augen starrten ihn fiebrig aus einem leichenblassen Gesicht mit einem wilden Bart an. Reeve prallte unwillkürlich zurück und stolperte über einen Stein.

Panik befiel ihn, ohne dass er einen Grund dafür nennen konnte. Als er sich wieder aufgerappelt hatte und am liebsten davongerannt wäre, stellte er fest, dass er allein war. War der Fremde einfach verschwunden ... oder hatte Reeve sich das alles nur eingebildet? »Verdammt!«, murmelte er und stellte fest, dass er zitterte. Bei Gott, er war nie abergläubisch gewesen, aber seine Nachbarn sollten in dieser Nacht besonders wild tanzen, um die Dämonen aus dem Dorf fern zu halten.

Das Schieferhaus erhob sich unweit der Küste, ein abgelegenes, zweistöckiges Cottage, das als Nachbarschaft nicht mehr als Sanddünen, Grasbüschel und Möwen hatte. Das einzige Licht drang aus der Bibliothek im hinteren Teil des Hauses. Hier drängten sich die Regale so dicht an dicht, dass man meinen konnte, in eine Bücherhöhle geraten zu sein.

Jem Sparkins entzündete noch ein paar Kerzen und lief dann in der ganzen Kammer umher, um zu überprüfen, ob alle Fensterläden geschlossen waren und kein Windstoß sie aufreißen konnte.

»Mir gefällt die Vorstellung nicht, Euch heute Abend allein zu lassen, Sir«, sagte Jem und warf einen besorgten Blick auf seinen Herrn, der neben dem Feuer im Ohrensessel saß.

Valentine St. Leger lehnte gegen die Kissen und hatte sein krankes Bein auf den Fußschemel gelegt. Der Gehstock lehnte griffbereit nicht weit von ihm. Eine braune Decke lag auf seinem Schoss, um ihn gegen die Nachtkälte zu schützen. Und auf der ruhte natürlich ein aufgeschlagenes Buch.

Doch während der letzten halben Stunde hatte der Arzt sich nicht so recht auf die Abhandlung über Kräutermedizin konzentrieren können. Er starrte in den offenen Kamin, sah dort aber nicht die prasselnden Flammen, sondern einen mondbeschienenen Garten und eine junge Frau, die sich mit verzweifelter Miene von ihm entfernte. Das sind meine Schmerzen, Valentine St. Leger, und nicht deine!

Ach, Kate. Er unterdrückte einen schweren Seufzer und wusste nur zu gut, wie das Mädchen sich aufführen konnte, wenn sie verletzt war. Wie ein verwundetes Tier schlug sie dann wild um sich und vertrieb damit alle, die ihr helfen wollten...

Doch vor ihm war sie noch nie davongelaufen. Und vor allem das hatte den Arzt tiefer getroffen als alles andere. Seit ihrer Geburtstagsnacht war Kate ihm aus dem Weg gegangen. Zwei Tage war das nun her. Valentine hatte sich auf den Weg zu Effies Cottage gemacht, um sich nach dem Befinden der jungen Frau zu erkundigen. Aber Kate hatte nur eine Magd zu ihm geschickt und ihm ausrichten lassen, dass die junge Dame heute an Kopfschmerzen leide und keine Besucher empfangen könne. Kopfschmerzen? Valentine hätte beinahe laut über dieses Schauspiel gelacht, wenn er sich nicht wirklich Sorgen um das Mädchen gemacht hätte. Kate hatte in ihrem ganzen Leben noch nie Kopfschmerzen gehabt, die bereitete sie nur den anderen. »Sir? Dr. St. Leger?«

Der Arzt brauchte einen Moment, um in die Gegenwart zurückzukehren. »Habt Ihr etwas gesagt, Jem?«

»Ja, Sir, nämlich dass ich Euch heute Nacht nur ungern allein lasse, besonders an Halloween.«

»Wieso denn das? Befürchtet Ihr, ein Kobold käme durch den Kamin, um mich zu holen?«

Der Jüngling verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Nein, Sir. Ich glaube, nicht einmal ein Geist würde es wagen, sich mit den St. Legers anzulegen. Aber Ihr habt bereits Sallie und Lucas frei gegeben, um die Freudenfeuer zu besuchen, und jetzt, da ...«

Jem brach ab und blickte unglücklich drein. Der Arzt verstand aber auch so sehr wohl, was ihn beschäftigte: Jemand sollte bleiben und nach dem Mann mit dem verkrüppelten Bein sehen.

Valentine hatte sonst nie so bittere Gedanken und unterdrückte sie jetzt rasch. »Ich glaube, Jem, für ein paar Stunden kann ich durchaus selbst auf mich aufpassen. Und jetzt sputet Euch, sonst ist der ganze Spaß vorbei!« Der junge Mann öffnete den Mund, aber Valentine schickte ihn fort. Seine Bediensteten liebten und schätzten ihn. Doch sie wussten, wann Widerspruch zwecklos war.

»Dann gute Nacht, Sir.« Der getreue Jem schlurfte davon, sah sich nicht noch einmal um, machte aber einen sehr unglücklichen Eindruck.

Als die Haustür ins Schloss gefallen war, senkte sich eine eigenartige Stille über die Bibliothek, in der man lediglich das Prasseln des Feuers und den Wind zu hören bekam, welcher über das Dach rauschte und an den Läden zerrte.

Der Arzt streckte sich in seinem Sessel aus. Er hatte einen anstrengenden Nachmittag hinter sich. Entlang der ganzen Küste hatte er Kranke versorgen müssen und sich nach dem Moment gesehnt, an dem er allein mit seinen Büchern und einem Glas Brandy vor dem offenen Kamin sitzen konnte.

Doch jetzt, da sein Wunsch in Erfüllung gegangen war, fühlte er sich seltsam ruhelos. Zum wiederholten Mal setzte er die Brille auf, versuchte zu lesen und gab das nach wenigen Minuten auf.

Vielleicht war es ja im Haus zu ruhig. Obwohl sein Haus als kleines Cottage bezeichnet wurde, bot es doch Raum genug für ein halbes Dutzend Rangen, die den ganzen Tag im Haus herumtobten, und für eine Ehefrau, die hierhin und dorthin lief, um alle zu versorgen und das Abendbrot zuzubereiten.

Groß genug für die Familie, die er niemals haben würde, dachte Valentine bitter.

Was für ein Glück, dass ihm dieses Anwesen nicht gehörte. Er hatte es von seinem Onkel, Dr. Marius St. Leger, gemietet. Marius war eine Generation älter als Valentine, sein väterlicher Freund, sein Lehrer und wohl auch sein Vorbild. Aber im letzten Sommer hatte der alte Arzt einen Lehrstuhl an der Medizinischen Fakultät der Universität von Edinburgh angenommen.

Valentines Vater, Anatole St. Leger, hatte das tief getroffen, denn er sah Marius schon immer als seinen besten Freund an.

»Cornwall ist dein Zuhause!«, hatte er sich aufgeregt. »Warum will jemand von hier fort? Und dann auch noch mir nichts, dir nichts nach Schottland?« Marius hatte nur gelächelt und eine ausweichende Antwort gegeben. Aber Valentine verstand die Gründe seines Onkels sehr gut, denn die fanden sich immer noch auf dem Kaminsims, der so etwas wie einen Schrein für Marius' verlorene Liebe darstellte: ein Paar gelbe Handschuhe, ein verblichenes Haarband und ein Fächer lagen um das Miniatur-Porträt von Anne Syler gruppiert - seine auserwählte Braut.

Der junge Arzt hatte damals der Familientradition keine Folge geleistet und sich zu lange nicht um seine Zukünftige gekümmert. Als er dann endlich Zeit für sie gefunden hatte, war sie in seinen Armen gestorben. Deswegen konnte Valentine dem Onkel sehr gut nachempfinden, dass er dringend von hier fortwollte. Zu viele Jahre schon suchten ihn die Erinnerungen an Anne heim ... quälte ihn die Freude glücklich verheirateter St. Legers wie Anatole oder Lance. Die hatten ihre auserwählte Braut geheiratet, und Marius wusste, dass ihm solche Freuden nie mehr offen stehen würden. Manchmal fragte sich Valentine, ob es ihm nicht noch schlechter als seinem Onkel ging; der hatte wenigstens die Chance erhalten, sein Glück zu finden, und sie nicht genutzt. Valentine selbst aber sollte nicht einmal eine solche Gelegenheit erhoffen.

Vielleicht, wenn er ebenfalls ein alter Mann geworden war, würde es ihn auch aus Cornwall forttreiben ...

Wie lange noch bis dahin? Er schlug die Decke zurück, legte die Brille beiseite, ergriff seinen Stock und richtete sich rasch auf.

Zu rasch, denn ein heftiger, stechender Schmerz im Knie ließ ihn gleich wieder in den Sessel zurücksinken. Scharf einatmend beugte er sich vor, um sein Bein zu massieren. Er spürte die steinhart verkrampften Muskeln unter dem Knie und wusste, dass ihm wieder eine qualvolle Nacht bevorstand. In den frühen Morgenstunden würde er es dann wohl nicht mehr aushalten und erneut Laudanum einnehmen. Die opiumhaltige Tinktur linderte zwar die Schmerzen, aber er verachtete sich selbst dafür, darauf angewiesen zu sein.

Der Arzt zwang sich noch einmal hoch und lief in der Bibliothek herum, um die Steifheit des Beins zu lösen. Aus der Ferne hörte er ein Rumpeln und Grollen, aber sein Knie hatte ihm schon längst mitgeteilt, dass ein Gewitter aufzog. Wie schön, dachte er sarkastisch, einen so zuverlässigen Wettervorhersager zu besitzen. Er humpelte zum Fenster und starrte in die finstere Nacht. Die Mondsichel wurde immer wieder von den vorbeirasenden Wolken verdeckt. Kein Wunder, wenn die Dörfler heute Nacht herumsprangen und ihre Mistgabeln schwangen, um alle Hexen zu verjagen, die Torrecombe auch nur nahe kommen sollten.

Valentine fragte sich traurig, ob Kate wohl ebenfalls zu den Freudenfeuern gegangen war. Er hoffte es für sie. Immer noch besser, als in ihrer Stube zu hocken und sich zu grämen. Die wilde Kate hatte immer großes Vergnügen an den Halloween-Feiern gehabt, und sie war ebenfalls mit wehendem schwarzem Haar und brennenden Augen um die Flammen herumgetanzt.

Der Arzt wäre es zufrieden gewesen, ihr nur dabei zuzusehen. Aber damit hatte sich das Mädchen nie begnügt. Sie zog an ihm und bestand darauf, dass er mit ihr tanze.

Was für eine Narretei! Aber Valentine hatte ihrem Bitten ja noch nie widerstehen können. Und tatsächlich gelang es ihr, ihn alles vergessen zu lassen - seine Würde, seine Schmerzen und sein Humpeln. So war er nach Kräften mit ihr gesprungen und gehüpft, bis er lachend und atemlos nicht mehr konnte.

Im Lauf der Jahre hatten sie beide jede Menge Dämonen vertrieben. Aber damit war jetzt Schluss. Nie mehr wieder. Er konnte ja sein kaputtes Bein ertragen und - mit einigen Einschränkungen - auch, dass er nie eine Braut haben würde. Aber wenn er nun auch noch auf Kates Freundschaft verzichten müsste, erschiene ihm das Leben überhaupt nicht mehr lebenswert.

Valentine schluckte, als er sich dieses letzten Gedankens bewusst wurde. Er schloss die Läden vor dem Fenster, durch das er gerade nach draußen geschaut hatte, und machte sich auf den Weg zum Bett.

Als er durch die Diele humpelte, ertönte unvermittelt die Türglocke.

Kate?

Valentine spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Das Mädchen schlich sich oft von zu Hause fort, um ihn zu den unmöglichsten Zeiten zu besuchen; obwohl er ihr schon sooft gepredigt hatte, wie gefährlich das sei. Aber seine Hoffnung zerstob so rasch, wie sie gekommen war. Kate würde nie an der Haustür klingeln, sondern ums Haus herumlaufen und an die Fenster der Bibliothek hämmern, bis er sie einließ.

Die Einzigen, die die Glocke betätigten, waren seine Patienten oder deren Anverwandte, die in ihrer Not seinen Rat suchten.

»Grundgütiger, nicht jetzt«, murmelte er. Valentine fühlte sich wirklich reit fürs Bett, und sein Knie brannte wie Feuer.

Es klingelte noch einmal, und der Arzt überlegte schon, so zu tun, als habe er nichts gehört. Aber das würde er natürlich nie tun. Niemals, denn er war derjenige, der anderen die Pein nehmen konnte.

Also stützte er sich schwer auf seinen Stock, öffnete die Haustür, um Nacht und Wind einzulassen. Eine schwere Schattengestalt stürzte sich unvermittelt auf ihn. Valentine schrie erschrocken auf und taumelte zurück. Aber der Fremde lastete weiterhin wie ein Gewicht auf ihm und drohte ihn unter sich zu begraben. Der Arzt wich noch weiter zurück, als der Fremde von ihm abrutschte und auf den Boden sank. Valentine gelang es, die Tür ins Schloss zu werfen, ehe der Wind das Licht in der Diele ausblasen konnte. Erst dann konnte er nachschauen, was ihm da ins Haus geweht worden war. Ein Mann, der bäuchlings auf dem Dielenboden lag. Sein Schrecken verflog, und er spürte die Energie in sich zusammenströmen, die sich immer dann meldete, wenn er gebraucht wurde. Er kniete sich neben den Bewusstlo-sen hin und versuchte, ihn umzudrehen. Die Kapuze glitt zurück und legte ein bärtiges Gesicht frei. Der Arzt entdeckte nirgendwo äußere Verletzungen, obwohl es dem Fremden offensichtlich sehr schlecht ging. Er atmete rasselnd, und seine Haut glühte. Valentine musste ihn in sein Behandlungszimmer schaffen, um ihn genauer untersuchen zu können. Aber wie sollte ihm das bei diesem großen und kräftigen Mann gelingen? Ihm würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als den Fremden hier auf dem kalten Boden zu behandeln ... In diesem Moment zuckte der Kranke heftig zusammen und schlug die Augen auf. Sein Blick blieb schließlich an Valentine hängen.

»Ganz ruhig«, redete St. Leger auf ihn ein. »Keine Sorge, ich bin Arzt und werde Euch helfen.« »Leger!«, keuchte der Fremde. »Valentine St. Leger!« »Ihr kennt mich?«, fragte der junge Arzt überrascht. Er betrachtete den Fremden genauer und versuchte, sich ihn ohne Bart vorzustellen. Vor allem die Stimme rief eine vage Erinnerung in ihm hervor.

Als der Kranke aber ein typisches höhnisches Lächeln aufsetzte, lief es Valentine wie Eis den Rücken hinunter. »Rafe!«, flüsterte er entsetzt. »Rafe Mortmain!«

Das Unwetter kam vom Meer. Kate hatte noch nie Wolken so rasch heransausen sehen. Wie bei einem umgekippten Tintenfass breitete sich die Schwärze über den ganzen Himmel aus, füllte selbst die hintersten Ecken und überdeckte dann den Mond.

Der Wind schien die Seiten aus dem Buch herausreißen zu wollen. Mit klopfendem Herzen zwang sie sich zur Eile. Im roten Glühen des Feuers überflog sie die fremdartigen Schriftzeichen. Seit zwei Tagen studierte sie schon Prosperos Notizen, aber das Übersetzen fiel ihr immer noch schwer.

»Des Nachts sollst aufsuchen - Einen Ort von großer Magie«, stimmte sie den Zaubersingsang an. Kate warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter auf den stehenden Stein. Ein Ort von größerer Magie ließ sich wohl in der ganzen Gegend nicht finden. Und kein besserer Tag als der Vorabend zu Allerheiligen ...

Der Wind riss ihr die Seite aus der Hand, und sie musste sie erst wieder glatt streichen, um fortfahren zu können: »Auf die Flammen nun lege - Das Symbol deines Herzenswunsches - Die Initialen deiner Leidenschaft - In festes schwarzes Feuer geritzt...«

Die junge Frau hatte eine ganze Weile gebraucht, um herauszufinden, was damit gemein war. Festes schwarzes Feuer - damit konnte Prospero nur Kohle gemeint haben, oder? Und darauf ließen sich auch Buchstaben ritzen.

Kate zog das Stück Kohle aus ihrer Umhängetasche, auf das sie die Buchstaben Y und S gekratzt hatte. Sie zögerte lange, doch dann atmete sie tief durch und warf die Kohle in die Flammen.

Sie prallte gegen einen glimmenden Scheit und löste einen Funkenregen aus. Die junge Frau zuckte zurück und presste das Buch an sich. Als sie wieder in das Feuer sah, ließ sich von dem Kohlestück nichts mehr erkennen. Aber nein, dort steckte es - im Zentrum des Scheiterhaufens, wo die Flammen blauweiß brannten. Kate starrte wie gebannt darauf und wartete mit angehaltenem Atem, dass sich etwas tat...

... bis ihr einfiel, dass sie den Zauber noch nicht zu Ende gesprochen hatte. Sie schaute wieder ins Buch. »Nun sprich die rechten Worte -«

Jetzt wurde es richtig schwierig. Die Silben und Bildwörter des Altägyptischen ließen sich entziffern. Aber damit wusste man noch lange nicht, wie sie ausgesprochen wurden. Eine falsche Betonung konnte den Sinn entstellen und eine Katastrophe heraufbeschwören. Ein lauter Donnerschlag kündigte an, dass der Sturm schon ziemlich nahe war, und der Wind zog und zerrte an ihr. Man hätte meinen können, die Nacht selbst wolle Kate zum Innehalten bewegen.

»Mut, Mädchen«, versuchte Kate sich gut zuzureden. Sie leckte sich über die Lippen, schloss die Augen und flüsterte: »Mithcaril bocurm epps.«

Ein schwerer Donnerschlag ließ das Cottage erbeben, und das Licht der Dielenlampe flackerte über das wachsbleiche Gesicht des Mannes, der ausgebreitet vor Valentine lag.

»Rafe Mortmain«, entfuhr es dem Arzt erneut, so als wolle er seinen Augen nicht trauen. Und im selben Moment riss er seine Hand zurück, als habe er gerade versucht, einen Wolf zu streicheln.

Rafe lachte laut, bis ihn ein Hustenanfall packte. »Bin nicht... hier, um ... Euch etwas ... anzutun«, erklärte Mortmain, als er wieder sprechen konnte. »Ihr könnt... es mit... eigenen Augen ... sehen ... Bin nicht... in der ... Verfassung, Euch... umzubringen, nicht... einmal mich ... selbst... Kein Grund ... also, Euch ... zu sorgen ...« Kein Grund? Wohl höchstens der, dass sie beide sich bei ihrer letzten Begegnung einen Zweikampf auf Leben und Tod geliefert hatten. Rafe hatte ihn schließlich im »Drachenfeuer« die Treppe hinuntergeworfen, und sein Spießgeselle hatte Valentine in den Rücken geschossen.

Danach hätte nicht viel gefehlt, und er wäre in der Familiengruft unter der Kirche St. Gothian zu Staub zerfallen, wenn er nicht über so ungewöhnliche Heilkräfte verfügt hätte.

Rafe mochte schwach und hilflos erscheinen, aber der Arzt wusste genau, dass ein verwundeter Wolf gefährlicher war als jedes andere Raubtier. »Vermag Euch ... jetzt nichts ... zu tun ... Allein Euch ... zu finden ... hat mich ... alle Kraft ... gekostet ... Bin auch ... nur gekommen ... Euch das ... zu geben ...«

Er griff in seinen Mantel, und Valentine befürchtete, im nächsten Moment erschossen oder erdolcht zu werden. Doch dann überraschte Rafe ihn, als er sich plötzlich aufrichtete und seinen Unterarm festhielt. »Hier ... nehmt das ...«

Bevor der Arzt sich befreien konnte, drückte Mortmain ihm etwas in die Hand und fiel wieder auf den Boden zurück. Die Anstrengung brachte ihn an den Rand des Zusammenbruchs.

»Geschafft... getan«, murmelte der Mann, und tiefste Zufriedenheit breitete sich auf seiner Miene aus. Valentine brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen. Dann öffnete er die Hand, um nachzusehen, was Rafe ihm gegeben hatte.

Vor Verwunderung blieb ihm der Mund offen stehen: Auf seinem Handteller lag eine Silberkette, und an der hing ein Stück Kristall von unvergleichlicher Schönheit... Der Kristallsplitter, der ihnen vor Jahren gestohlen worden war ... vermutlich von dem Stein abgeschlagen, der den Knauf des St.-Leger-Schwerts zierte. Valentine hielt den Splitter ins Licht. Nur ein winziges Stück, aber es glitzerte wie ein Eiszapfen im Sonnenlicht und ließ die Decke der Diele in allen Regenbogenfarben erstrahlen.

»Nehmt das verdammte ... Ding weg!«, krächzte der Mortmain und drehte den Kopf zur anderen Seite, als würde das Licht des Splitters ihn verbrennen. Erst nach einiger Anstrengung gelang es dem Arzt, den Blick von dem Stück Kristall abzuwenden. Er legte sich die Kette um den Hals und verbarg den Stein unter dem Hemd.

Tausend Fragen und mehr gingen ihm durch den Kopf: Also hatte Rafe die ganzen Jahre über den Splitter in seinem Besitz gehabt. Aber warum war er nach Cornwall zurückgekehrt? Nur um ihn zurückzugeben? Und warum gerade ihm, Valentine? Das Schwert war offiziell in den Besitz von Lance übergegangen, dem ältesten Sohn und damit Erben von Burg Leger. Rechtlich gesehen gehörte also ihm der Splitter.

Wo hatte der letzte Mortmain die ganzen Jahre über gesteckt? Und welche Krankheit hatte ihn befallen und so furchtbar ausgezehrt?

Ein. Blick auf den Mann überzeugte Valentine, dass er von ihm keine Antworten auf seine Fragen erhalten würde. Rafe hatte die Augen geschlossen und schien in die Bewusstlosigkeit hinüberzugleiten. Um das zu erkennen, musste man nicht Medizin studiert haben. Rafe Mortmain hatte nicht mehr lange zu leben. Valentine suchte in sich nach Triumphgefühlen , den alten Erzfeind derart am Ende zu sehen. Doch stattdessen verspürte er nur Bedauern darüber, ein Leben vorzeitig beendet zu wissen. Und wenn Rafe kein Mortmain gewesen wäre, was hätte dann alles aus ihm werden können?

Valentine griff nach dem Handgelenk des Mannes und maß ihm den Puls. Viel zu schwach. Er keuchte und röchelte, als bereite ihm das Atmen körperliche Qualen. Der Arzt entdeckte auch die angespannten Stellen im Gesicht des Mannes ...

»Bitte«, flüsterte Mortmain kaum hörbar. Valentine beugte sich über ihn, um ihn besser verstehen zu können. »Ich flehe Euch an, St.-Leger, tötet mich!« Entsetzt fuhr der Arzt zurück. Nicht zum ersten Mal bat ihn ein Patient, seinem Leiden ein Ende zu machen. Aber von dem einst so stolzen und starken Raphael Mortmain hätte er das nie erwartet.

Offenbar ging der Mann unter sehr großen Qualen zu Grunde - und Valentine wusste nicht, was er dagegen tun sollte.

Höchstens ihm die letzten Stunden ... Er spürte das vertraute Prickeln in den Händen - und schreckte entsetzt vor der bloßen Vorstellung zurück. Das wäre selbst vom gütigsten Menschen zu viel verlangt. Nicht einmal ein Heiliger würde seinem Erzfeind beistehen.

Doch noch während der junge St. Leger sich solche Gedanken machte, krümmte sich Rafe schon wieder vor Schmerzen. Eine einzelne Träne rann aus einem seiner geschlossenen Augen und verschwand im dichten Bart. Valentine bezweifelte, dass dieser hartgesottene Mann in seinem ganzen Leben schon einmal geweint hatte. Unwillkürlich ergriff er dessen Hand und drückte sie. So viel konnte er auch für einen Mortmain tun. Und ihm ein wenig von seinen Schmerzen nehmen. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe, zwang alle anderen Empfindungen aus seinem Bewusstsein und ließ seinen Geist durch die Hand in Rafe eindringen. Gleichzeitig öffnete sich sein eigenes Fleisch, und ihm entströmte die eigene Kraft, um in den Kranken einzuströmen.

Nichts.

Überhaupt nichts hatte sich getan. Kate öffnete ein Auge und spürte den ersten Regentropfen auf der Wange. Das Feuer drohte jeden Moment auszugehen, und das dumme Stück Kohle weigerte sich hartnäckig zu glühen.

Die junge Frau wusste zwar nicht, was sie eigentlich erwartet hatte, aber gewiss etwas mehr als das hier. Sie nahm sich das Buch noch einmal vor. Hatte sie die alten

Worte falsch ausgesprochen? Oder mussten sie mit mehr Überzeugung gesungen werden? »Mithcaril bocurm epps!«, rief sie.

Immer noch nichts. Kate nahm allen Mut zusammen, legte den Kopf in den Nacken und schrie die Wörter in den Wind.

Unheimliches Schweigen folgte. Dann schössen unvermittelt die Flammen hoch und tosten mit neuer, ungebremster Wut. Erschrocken fiel Kate auf ihren Hintern. Am Himmel schienen sich die Elemente auszutoben, und ein titanischer Donnerschlag ließ das ganze Hügelland erbeben.

Ein gezackter Blitz sauste herab und überzog den stehenden Stein mit Rauch und Funken. Kate zog den Kopf ein und kreischte.

Der Arzt wappnete sich in Erwartung von Rafes Schmerzen.

»O mein Gott!« Er riss entsetzt die Augen auf, weil er mit einem solchen Ansturm nicht gerechnet hat. Eine Woge von Schmerzen überspülte ihn. Doch keine körperlichen Schmerzen, die er womöglich noch ertragen hätte, sondern etwas anderes, etwas Hässliches und Erschreckendes.

Eine Welle voller hässlicher Gefühle - Zorn, Verbitterung und Verzweiflung. Ächzend und keuchend versuchte Valentine, die Oberhand zurückzugewinnen und den Strom zu kappen ...

Aber er bekam seine Hand nicht frei. Rafe hing an ihr wie ein Ertrinkender und drohte den Arzt mit sich hinunter in seine schwarzen Fluten zu ziehen. Alles in seinem Kopf schien zu schwimmen. Er zerrte an Rafes Hand und schlug mit seiner anderen Hand darauf.

Durch die Anstrengung schössen Funken aus dem Splitter an der Halskette.

Ein roter Schleier legte sich vor seine Augen. Offenbar drohte auch er das Bewusstsein zu verlieren. Mit der Kraft der Verzweiflung kämpfte er dagegen an und wurde doch von Moment zu Moment schwächer. Eine gewaltige Explosion betäubte seine Ohren, der ein blendender Blitz folgte. Rafes Hand entglitt seiner, und er sank zurück und ließ sich in die Dunkelheit fallen.

Der Regen prasselte zu Boden und erstickte die letzten Flammen in einem verärgerten Zischen. Kate kroch aus dem Heidekraut, unter dem sie sich versteckt hatte und wo sie bis auf die Haut durchnässt worden war. Taumelnd stolperte sie ein paar Schritte weit und fühlte sich vollkommen ausgelaugt und zerschlagen. Wie benommen starrte sie auf die Reste ihres Feuers, von dem nicht mehr als ein schwarzer Kreis auf dem Boden übrig geblieben war. Immer noch zogen schwarze Wolken über den Himmel, aber Blitz und Donner schienen an einen anderen Ort gewandert zu sein. Die junge Frau stand zitternd da. Was hatte sie getan? Ihre Erinnerung war etwas verschwommen. Sie wusste nur noch, dass sie etwas Dunkles und Gefährliches auf die Erde losgelassen hatte.

Kate presste Prosperos durchnässtes Buch an sich und rannte, so schnell sie nur konnte, nach Hause.

Jem Sparkins erreichte das Schieferhaus in dem Moment, in dem der große Regen einsetzte. Er sprang in die Diele und traf dort gleich hinter der Tür seinen Herrn auf dem Boden an.

»Doktor St. Leger! Sir! Master Valentine!«

Er erhielt keine Antwort. Die Gesichtszüge des Arztes sahen so verzerrt und unbeweglich aus, dass Jem das Schlimmste befürchtete.

Er kniete sich neben seinen Herrn. Die Gesichtshaut war weiß und eiskalt...

Der Diener musste an sich halten, um seiner aufsteigenden Panik nicht nachzugeben. Was konnte er tun? Jem rief sich das Wenige ins Gedächtnis zurück, was er als Diener eines Arztes aufgeschnappt hatte ... Frisches Wasser holen? Ihm einen Brandy unter die Nase halten? Ihm die Handgelenke reiben? Den Puls messen? Ja, das war's.

Er hob Valentines Hand, presste Zeige-und Mittelfinger auf das Handgelenk und dachte schon, seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu bekommen ... Aber nein. Der Arzt hatte einen kräftigen, regelmäßigen und gesunden Puls.

Warum lag er dann so steif und kalt da? War er gestürzt? In Ohnmacht gefallen? Von einem Einbrecher niedergeschlagen worden?

Jem sah sich rasch um. Auf den ersten Blick ließ sich hier nichts entdecken, was auf ein gewaltsames Eindringen hinwies. Womöglich hatte das kranke Knie nachgegeben, und der junge Herr hatte sich beim Sturz den Kopf angeschlagen.

Himmel und Hölle! Der Diener hatte so etwas schon seit langem kommen sehen. Vielleicht hatte in den vielen Jahren seines Dienstes für diese Familie einiges von deren besonderen Gaben auf ihn abgefärbt. Jem fuhr sich durchs Haar und überlegte fieberhaft, was er jetzt tun könnte oder musste. Da schlug Valentine die Augen auf.

Der Diener beugte sich aufgeregt über ihn.

»Dr. St. Leger? Könnt Ihr mich hören? Wie schlimm seid Ihr verletzt? Was ist geschehen? Seid Ihr gestürzt?« Valentine starrte ihn verständnislos an, und Jem befürchtete schon, sein Master wisse nicht mehr, wer er war. Doch da murmelte der Arzt: »Ich bin nicht gefallen ... sondern von einem Blitz getroffen worden.« Nun blickte der Diener verständnislos drein. »Hier im Haus, Sir? Äh, Ihr liegt hier in der Diele.« »Ja, ich weiß. Eigenartig, nicht wahr?« Ein schrecklicher Verdacht kam Jem. Der alte Mr. Peters hatte einen Schlaganfall erlitten und war seitdem nicht mehr ganz richtig im Kopf.

Der Arzt richtete sich ein Stück auf, bis er sitzen konnte. »Nein, Sir, bitte, Ihr müsst liegen bleiben«, warnte der Diener.

Aber der junge St. Leger hörte nicht auf ihn und schien unbedingt wieder auf den Beinen stehen zu wollen. Jem machte sich sofort auf die Suche nach dem Gehstock. Als er ihn fand und aufhob, stand sein Herr bereits. »Euer - Euer Stock, Master«, stammelte der Diener. Valentine sah ihn fragend an und näherte sich ihm - auf zwei gesunden Beinen.

»Euer Knie ... Sir ... Ihr humpelt ja gar nicht mehr... Was ist geschehen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ein Wunder ...« Der Arzt lief in der Diele auf und ab und betrachtete sich dann im Spiegel, als habe er sich noch nie richtig gesehen. »Ein verdammtes Wunder!«, rief Valentine und brach in lautes Lachen aus.

Jem zuckte zusammen. Wenn sein Herr so unerwartet gesund geworden war, müsste er sich doch eigentlich auch darüber freuen. Doch stattdessen kam der Diener sich wie in einem unverständlichen Traum vor.

Valentine bewegte sich mit immer größeren und kräftigeren Schritten. Dann blieb er vor der Tür stehen und trat mit voller Wucht dagegen. Mit dem kaputten Bein.

»Was haltet Ihr davon, Jem?« Der Arzt lachte wieder aus vollem Hals.

»Das - das ist wunderbar, Sir. A-aber vielleicht solltet Ihr es etwas langsamer angehen. Ihr seid nicht mehr ganz der Alte, Master.«

»Ja, ich bin wirklich ein anderer geworden, was?« Valentine beugte sich vor und studierte sein Spiegelbild mit großem Interesse. Als sich seine Lippen höhnisch zurückzogen, lief es Jem eiskalt den Rücken hinunter.