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8

Im Hafen herrschte die übliche Betriebsamkeit. Stauer trugen Kisten und Fässer die Gangways hinauf, alte Seemänner mit ihrem Seesack auf dem Rücken suchten nach einer neuen Heuer, Wagen fuhren so nah wie möglich an die Kaimauer heran, und Passagiere überwachten das Entladen ihres Gepäcks. Doch selbst in diesem Gewimmel fiel der Gentleman in dem marineblauen Reisemantel auf - vor allem den Damen. Eine straffe militärische Haltung war ihm eigen, und er strahlte eine ruhige Würde aus. Silberne Fäden durchzogen sein dunkles und gepflegtes Haar. Und seine Züge wirkten wie gemeißelt. Für einen Seemann sah er etwas blass aus, aber jedes weibliche Wesen, das seiner ansichtig wurde, hielt ihn sofort für den Kapitän eines der stolzen Schiffe im Hafen.

Dabei fühlte sich Rafe Mortmain im Moment nicht so recht wohl in seiner Haut. Er eilte an der Reihe der wartenden Kutschen entlang und hielt seinen Handkoffer besonders gut fest. Der Captain starrte stur geradeaus und nahm mit niemandem Augenkontakt auf - und das nicht nur deshalb, weil er immer noch glaubte, steckbrieflich gesucht zu werden.

Der Mann fühlte sich ungewohnt unsicher, wie jemand, der unerwartet dem Tod im letzten Moment von der Schippe gehüpft war.

Eigentlich hätte er nämlich längst tot sein müssen. Er verstand nicht, was ihn davor bewahrt hatte. Rafe atmete tief ein und genoss den Geschmack der würzigen Seeluft. Was für ein Wunder, immer noch am Leben zu sein. Aber nur die eine Hälfte von ihm freute sich, während die andere zunehmend unruhiger wurde. Am Abend vor Allerheiligen war ihm etwas höchst Sonderbares zugestoßen.

Wie viel Zeit war seitdem vergangen? Ein Tag oder deren drei? Sein Erinnerungsvermögen hatte ziemlich nachgelassen. Er wusste weder, wie er aus Torrecombe fortgekommen, noch, wie er nach Falmouth gelangt war - oder dort seine versteckte Kiste mit Kleidungsstücken und Geld wieder an sich gebracht hatte. Als Rafe heute Morgen im Red Lion Inn erwacht war, hatte ihn jedoch weniger der Gedächtnisverlust als vielmehr sein ungepflegtes Äußeres erschreckt. Er war zwar kein besonders eitler Mann, aber ein Mindestmaß an Pflege war auch ihm wichtig.

Nachdem er sich von einem Barbier hatte herrichten lassen, fühlte er sich wieder halbwegs wie ein Mensch. Zum wiederholten Mal hob sich seine Hand an den Hals. Die Kette war immer noch fort. Irgendwie war es ihm gelungen, das verdammte Ding endgültig loszuwerden. Wenn er nur wüsste, wie ...

Rafe erinnerte sich dunkel an ein einsam gelegenes Haus am Meer... an Valentine St. Leger, der ihn im Stürzen aufgefangen hatte ... an den Kristallsplitter... und danach an nichts mehr.

Ob der Arzt mit dem Kristall auch Rafes Krankheit übernommen hatte? Ob Valentine überhaupt noch lebte? Aber vielleicht griff der Splitter einen St. Leger nicht an. Immerhin stammte er ja aus dem Familienschwert.

Außerdem war Valentine immer rechtschaffen gewesen. Gut möglich, dass das Böse, das dem Kristall innewohnte, einem solchen Menschen gar nichts anhaben konnte...

Mortmain hielt inne. Hatte er wirklich das gedacht? Man könnte glauben, er wolle nicht, dass es Valentine schlecht gehe. Dabei hatte er doch Monate damit verbracht, seine Rache an den St. Legers vorzubereiten. Lance' Bruder war immer schon sein erbittertster Feind gewesen ... Rafe rieb sich die Schläfen und versuchte, den alten Hass auf diese Familie in sich wiederzufinden. Doch all die dunklen Empfindungen, die ihn über Jahre begleitet hatten, schienen mit einem Mal zerstoben zu sein. Er fühlte sich wie eine abgewischte Schiefertafel. Schließlich zuckte er die Schultern. Solche Überlegungen führten zu nichts. Besser, er machte sich Gedanken um die Zukunft.

Mit einer Hand schirmte Rafe die Augen vor dem grellen Sonnenlicht ab und ließ den Blick über den Wald von Masten wandern, bis er die Venturer ausmachte, ein Handelsschiff, auf dem er eine Passage nach Malaysia gebucht hatte.

Im Grunde war ihm das Ziel gleichgültig, solange er nur Seegang unter den Füßen spürte und das Klatschen der Wellen an den Rumpf hörte. Das Wasser hier im Hafen schien ihm schon von fremden Ländern zu flüstern, von Freiheit und Abenteuer - und er verspürte eine Sehnsucht, wie er sie seit seinen Jünglingsjahren nicht mehr erlebt hatte.

Nichts hielt ihn mehr hier, und Cornwall hatte ihm ohnehin nie viel bedeutet. Wie allen Mortmains hatte dieser Landstrich auch ihm nur Unglück gebracht. Wenn er es diesmal verließ, würde er keinen Blick mehr zurückwerfen. Die Venturer würde heute Abend mit der Flut auslaufen, und bis dahin blieb ihm noch viel Zeit. So betrat Rafe einen Gasthof in der Nähe des Hafens und nahm eine leichte Mahlzeit zu sich. Sicher wäre es klüger gewesen, wenn er bis zum Abend in einer dunklen Ecke des Schankraums sitzen geblieben wäre. Aber dann lockte ihn die See so stark, dass er wieder hinaustrat und die reine Meeresluft tief einsog.

Mortmain lief über das Kopfsteinpflaster und genoss es, wie scharf seine Sinne wieder arbeiteten. Er kam an einem Fass vorbei, das den Bewohnern eines Hauses als Regentonne diente. Hier fand er nach dem Barbierbesuch endlich Gelegenheit, sein »nacktes« Antlitz zu betrachten. Wann war er nur so grau geworden? Sein einstmals volles schwarzes Haar zeigte sich nun von Silberfäden durchzogen. Für einen Mann, der die Vierzig überschritten hatte, sicher nichts Ungewöhnliches.

Aber warum wirkten seine Züge nicht ebenso alt? Mit dem Vollbart schien auch das Alter sein Gesicht verlassen zu haben.

»Mama! Mama! Lass mich nicht zurück!«

Der Schrei aus einem Kindermund durchfuhr ihn von Kopf bis Fuß. Halb fürchtete er schon, wieder von seinem Albtraum befallen zu werden.

»Mama, bitte!«

Als das Kind erneut schrie, drehte Rafe sich um. Nicht weit von ihm und vor den Häusern am Wasser versuchte eine Frau in einem Schal und einer Haube, sich von einem kleinen, schmächtigen Jungen zu befreien. Die Nöte der beiden riefen bei den Vorübergehenden wenig Mitgefühl hervor. Rafe wusste auch nicht zu sagen, warum er selbst nicht weiterging. Nach allem, was ihm widerfahren war, ließ ihn das Leid der anderen kalt.

Nur waren diese beiden keine völlig Fremden, wie er beim genaueren Hinsehen feststellte. Er hatte die Frau und den Jungen erst kürzlich kennen gelernt - oder lag das schon eine halbe Ewigkeit zurück?

In einer Scheune auf einem heruntergekommenen alten Bauernhof außerhalb von Falmouth. Plötzlich sah er wieder Corrine Brewer vor sich, wie sie ihm zum Abschied alles Gute wünschte.

Ja, Corrine Brewer, die törichte und viel zu vertrauensselige Witwe, die ihn in ihrem Schuppen hatte übernachten lassen und ihm auch noch ihr einziges Pferd verkauft hatte. Und der Kleine musste ihr Sohn sein ... Charley, ja richtig, das war sein Name.

Was wollten die beiden denn hier in der Stadt? Und warum sollten sie sich trennen? Doch natürlich hatte er damit herzlich wenig zu schaffen.

Rafe wollte schon weitergehen, als ihm eine andere Frau auffiel. Sie stand im Eingang des Hauses, vor dem sich Corrine und Charley aufhielten, und sie trug bessere Kleidung als die Bäuerin. Aber ihre weiße Haube wirkte so streng wie ihre Miene.

Corrine ging vor ihrem Sohn in die Hocke und versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. »Bitte, Mama, geh nicht. Geh doch nicht!« Sie strich dem Jungen durchs Haar und flüsterte ihm etwas zu.

Die andere Frau kam die Vortreppe herunter: »Um der liebe Gottes willen, Corrine, lasst uns dem ein Ende machen. Gebt mir das Geld, und dann geht.« Die Mutter richtete sich wieder auf, und Charley klammerte sich mit beiden Händen an den Saum ihrer Stola. Sie reichte der Frau eine kleine Geldbörse. Was, zum Henker, ging dort vor?, fragte sich Rafe.

Corrine beugte sich hinab, um ihren Sohn zum Abschied zu küssen. Aber nun verlor die andere Frau jede Geduld und entriss den Knaben seiner Mutter. Corrines Wehklagen ging in Charleys Geschrei unter. Er streckte beide Hände nach ihr aus und wurde doch immer weiter von ihr fortgezogen.

Der schwarz gekleidete Drachen zerrte Corrines Sohn hinter sich her.

»Was geht das dich an?«, fragte sich Rafe murmelnd. Doch er konnte sich einfach nicht abwenden und weitergehen. Corrine starrte ihrem Sohn hinterher. Doch mehr noch als ihre Miene wurde Rafe Charleys Gesichtsausdruck unerträglich: zu Tode geängstigt, verletzt und im Vertrauen zutiefst getäuscht.

Das Schluchzen des Knaben riss in Rafe Wunden auf, die er längst vernarbt geglaubt hatte. Noch ehe ihm bewusst wurde, was er tat, stürmte er los, an Corrine vorbei und auf die andere Frau zu. »Lasst sofort den Jungen los!«

Sein Befehlston ließ beide Frauen zusammenfahren und stehen bleiben. Sogar Charley verstummte und starrte Mortmain an. »Hä?«, machte die Alte.

»Ich habe gesagt, Ihr sollt den Jungen loslassen!« Sie schaute ihn verwundert an, und Rafe bemerkte beim Näherkommen, dass diese Frau nur wenig Angenehmes an sich hatte. Früher mochte sie einmal ganz hübsch gewesen sein, aber das musste schon lange her sein. Mittlerweile waren ihr Blick und ihre Züge kalt und erbarmungslos - eine Miene, wie Rafe sie nur zu gut kannte. Sie erholte sich rasch wieder von ihrem Schrecken und entgegnete: »Ihr seid wohl übergeschnappt, was?« Gut möglich, sagte sich Rafe; denn sein merkwürdiges

Verhalten konnte er nun nicht mehr auf den Kristallsplitter zurückführen.

»Lasst den Jungen los, damit er wieder zu seiner Mutter kann.«

»Von allen unverschämten -«, fauchte die Alte, fuhr dann aber streng fort: »Verzieht Euch, Sir, sonst rufe ich den Schutzmann!«

Die Drohung mit der Polizei hätte Rafe zur Vernunft bringen sollen. Aber bevor er nachdenken konnte, tauchte Corrine schon neben ihm auf und zog ihn am Ärmel. »Bitte, Sir. Vielen Dank für Euer Einschreiten, aber Ihr versteht nicht. Diese Lady dort stiehlt mir nicht meinen Sohn und tut auch nichts -«

»Himmel noch mal, Corrine!«, fuhr die Alte dazwischen. »Es besteht wohl kaum Anlass für Euch, dem da Eure Beweggründe zu erklären. Er ist doch nichts weiter als ein Fremder.«

»Nein, ist er nicht!«, rief Charley mit seiner hellen Stimme. Er riss sich von der Frau los, rannte zu seiner Mutter und sah sie mit tränenfeuchten Augen an: »Das ist doch Mr. Moore!«

Rafe fuhr zusammen, als er den Knaben seinen falschen Namen nennen hörte. Er hätte nie geglaubt, dass jemand ihn ohne Vollbart wiedererkannte. Spätestens jetzt bereute er, sich eingemischt zu haben. Doch da sah ihn Corrine mit ihren großen, staunenden Augen an. »Mr. Moore?«

Nun schämte er sich dafür, in ihrer Scheune so schmutzig, zerlumpt und ungepflegt erschienen zu sein. Deswegen nickte er nur kurz zur Antwort.

»Es freut mich, Euch so wohlauf zu sehen, Sir. Als Ihr unsere Farm verlassen habt, wirktet Ihr so krank, dass ich mir große Sorgen um Euch machte.«

Sie hatte sich um ihn Sorgen gemacht? Sogar große? Er runzelte die Stirn und schämte sich noch mehr - weil er nach dem Fortritt keinen Gedanken mehr an sie verschwendet hatte.

»Und wer soll das sein, dieser Mr. Moore?«, verlangte die Alte argwöhnisch zu erfahren.

»Der Gentleman, der uns unseren Wallach abgekauft hat!«, strahlte Corrine.

»Er scheint sich ja wirklich sehr für Euch zu interessieren ... ungewöhnlich bei einer so kurzen Bekanntschaft.« »Etwas mehr Interesse an Eurer Umwelt könnte Euch auch nicht schaden. Darf ich fragen, wer, zum Donnerwetter, Ihr seid?«

Die Alte keuchte empört, und so übernahm Corrine rasch das Antworten: »Eine Base zweiten Grades, Mrs. Olivia Macauley. Ich habe eine Stellung als Kindermädchen bei einer Kaufmannsfamilie hier in Falmouth angenommen. Die erlaubt mir aber natürlich nicht, auch Charley mitzubringen. Olivia hat sich freundlicherweise bereit erklärt, den Jungen bei sich aufzunehmen, 'und ich bin mir sicher, dass sie ihn mit Liebe und Wärme behandeln wird.«

»Den Teufel wird sie tun. Ich habe in den Gesichtern einiger Geier mehr Mitgefühl gesehen als in ihrem.« Die Alte stand kurz vor einem Erstickungsanfall: »W-wie könnt Ihr es wagen ...«

»Wenn diese Base zweiten Grades so freundlich ist, wie Ihr meint«, fuhr Rafe aber schon fort, »warum verlangt sie dann Geld dafür, Euren Sohn zu nehmen? »Na ja, nun, ich konnte doch wohl schlecht ... erwarten ...«, stammelte Corrine.

»Und warum nicht?«, entgegnete Mortmain. »Sie scheint doch ein deutlich besseres Auskommen zu haben als Ihr.« »Ich bin nicht so reich«, plusterte sich Mrs. Macauley jetzt auf, »um jedem dahergelaufenen, bedürftigen Verwandten Großzügigkeit erweisen zu können. Kleine Jungen können nämlich sehr teuer sein!« »Das deckt sich leider nicht mit meiner Erfahrung«, gab Rafe giftig zurück. »Eigentlich scheinen sie sehr, sehr billig zu sein, sonst würden sie nicht von so vielen für entbehrlich gehalten werden.«

Er bereute seine bitteren Worte sogleich, denn darunter zuckte nicht etwa der alte Drache zusammen, sondern nur Corrine.

Mit hängendem Kopf sagte die Mutter: »Ich wollte meinen Sohn nicht loswerden, Mr. Moore. Aber mir blieb leider keine andere Wahl.«

»Jetzt reicht's mir aber endgültig, Corrine!«, schimpfte Mrs. Macauley. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, hier herumzustehen, während Ihr mit diesem sauberen Mr. Moore ein Schwätzchen haltet. Entscheidet Euch: Soll ich den Knaben für Euch übernehmen oder nicht?« »Ja«, antwortete Corrine. »Nein«, entgegnete Mortmain.

Die Mutter starrte ihn an, weil sie nicht wusste, was der Mann mit seiner ständigen Einmischung bezweckte. Mrs. Macauley faltete die Arme vor der mageren Brust. »Ich verstehe allmählich, Corrine. Eure Vermählung mit diesem dahergelaufenen Seemann war schon schlimm genug. Aber jetzt scheint Ihr einen weiteren Mann von solch niederer Güte gefunden zu haben.« »N-nein!«, stammelte Corinne Brewer und lief rot an. »Mr. Moore ist nicht... ich versichere Euch ...« »Nun, meine Liebe, diesmal braucht Ihr nicht mit meinem Mitgefühl zu rechnen.«

»Gern, solange Ihr nicht mit Corrines Geld rechnet«, entgegnete Rafe und riss der Frau rasch die kleine Börse aus der Hand.

Mrs. Macauley schoss Mortmain einen vernichtenden Blick zu, stürmte ins Haus zurück und warf hinter sich die Tür ins Schloss.

Alle Befriedigung darüber, der bösartigen alten Vettel die Suppe versalzen zu haben, verging Rafe, als er Corrines Gesicht sah. Sie drohte jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.

»Ach, Mr. Moore, was habt Ihr mir da nur angetan?« »Nichts«, antwortete er knurriger als beabsichtigt. »Euch davor bewahrt, einen schlimmen Fehler zu begehen.« »Aber Olivia ist meine einzige Verwandte! Bei wem soll ich Charley denn jetzt unterbringen?« Darüber hatte Mortmain noch nicht nachgedacht. Da schob sich eine kleine, warme Hand in die seine. Charley strahlte ihn wie einen Helden an. Rafe wusste nicht, wie viel der kleine Junge von dem verstanden hatte, was hier gerade vor sich gegangen war. Aber zumindest hatte er begriffen, dass er nicht bei Mrs. Macauley bleiben musste.

»Wie geht es Rufus, Sir?«, fragte der Knabe und wischte sich die letzten Tränen von den sommersprossigen Wangen.

Rafe konnte sich nicht entsinnen, wo er den Klepper gelassen hatte. Vermutlich einem Pferdemetzger verkauft. »Äh, dem geht es gut. Er steht im Stall, bei ... bei ...«In seiner Not drückte er die Hand des Kleinen in die seiner Mutter. »Bitte sehr, Euer Sohn.«

»Und wohin soll ich ihn bringen?« Corrine lachte schrill. »Den Hof besitze ich nicht länger. Den haben nun die Gläubiger meines Mannes ... Ach, ich hatte es alles so gut vorbereitet. Olivia mag ja nicht die Güte in Person sein, aber sie wohnt in einem schönen Haus. In meiner neuen Stellung bekomme ich gutes Geld, und ich brauche selbst nur wenig. Da hätte ich etwas beiseite legen können. Damit Charley einmal in die Schule kann ... damit eines Tages aus ihm ein Gentleman werden wird ... Vielleicht sogar ein Arzt oder ein Anwalt...«

Mortmain sah die Mutter ernst an: »Glaubt Ihr, Euren Charley dränge es nach einem schönen Haus, einer Schule oder Euren ehrgeizigen Plänen. Glaubt Ihr wirklich, etwas davon könne das wettmachen, was ihm -« Er unterbrach sich, weil ihm rechtzeitig eingefallen war, dass er nicht seine eigene Mutter vor sich hatte. Mit seinem Ausbruch erreichte er nicht mehr, als Charley zu ängstigen und Corrine in neue Tränenausbrüche zu treiben.

So beendete er den Satz versöhnlicher: »Alles, was der Junge will, ist, mit Euch zusammen zu sein.« »Wo denn? Im Armenhaus? Oder im Schuldturm?« Sie sank auf die erste Stufe und ließ den Kopf hängen. Rafe erkannte an ihren Schultern, dass sie schluchzte. Das erschreckte den Knaben, und er schlang seiner Mutter die dünnen Arme um den Hals. »Weine doch nicht, Mama, alles wird gut werden. Ich kümmere mich um dich, denn ich kann fest arbeiten!« Doch die Worte ihres Sohnes lösten nur noch mehr Tränen bei der jungen Frau aus, und bald weinten beide gemeinsam.

Rafe wich einen Schritt zurück. Er hatte noch nie gewusst, wie er mit einer heulenden Frau umzugehen hatte, und sie deshalb stets fortgeschickt.

Aber jetzt sollte wohl besser er von hier verschwinden. Hatte er denn noch nicht genug Schaden angerichtet? Und schlimmer noch, er konnte sich nicht erklären, was ihn überhaupt zum Eingreifen bewogen hatte. Seit wann spielte er sich zum Beschützer von Witwen und Waisen auf? So etwas hatte er bislang lieber solchen Trotteln wie Valentine St. Leger überlassen. Der würde ja selbst noch seinem schlimmsten Feind beistehen ... Rafe erhielt eine neue Erinnerung: Er lag auf dem Boden eines Hauses und litt Todesschmerzen. Dr. St. Leger beugte sich über ihn und tat irgendetwas ... Mortmain wusste, dass Valentine besondere Heilkräfte nachgesagt wurden. Offenbar hatte Lance' Bruder ihm in jener Nacht nicht nur die Krankheit, sondern auch all das Gift aus der Seele genommen.

Erschüttert wollte Rafe nur noch davonlaufen. Er murmelte eine Entschuldigung, aber Corrine hörte ihn kaum. Der Captain rannte los und fand den Handkoffer, den er bei seinem Anfall von Menschlichkeit vorhin fallen lassen hatte. Was für ein Glück, dass man ihn noch nicht gestohlen hatte. Und nun nichts wie fort zum Hafen und zur geistigen Gesundheit.

Corrine würde sich und ihren Sohn schön irgendwie durchbringen. Vielleicht versöhnte sie sich ja mit Olivia wieder. Wie dem auch sei, das Ganze ging Rafe nichts mehr an.

Aber während er tüchtig ausschritt, überkam ihn immer stärker der Drang, sich noch einmal nach den beiden umzusehen. Und sei es nur ein flüchtiger Blick über die Schulter.

Verdammt, die beiden hockten immer noch wie zwei Häufchen Elend auf der untersten Stufe. Und auf der würden sie auch im übertragenen Sinn landen, wie Rafe aus eigener Erfahrung nur zu gut wusste.

Seine Schritte wurden langsamer. Er warf einen verzweifelten Blick auf den Hafen, wo Schiffsmasten, Meer und die Ferne lockten - das Leben, das er sich immer gewünscht hatte.

Er wäre ein Narr, wenn er auf all das verzichten und zu der Mutter und ihrem Sohn zurückkehren würde. »Ach, zur Hölle!« Rafe musste vollkommen den Verstand verloren haben. Oder Valentine hatte ihn in jener Nacht verzaubert und der Besessenheit übergeben. Ein letzter Blick zum Hafen, zu Freiheit und Abenteuer... »Hört auf zu weinen!«, raunzte er Corrine in dem rauen Tonfall an, mit dem er an Bord eines Schiffes Befehle gab. »Solche Katzenmusik hilft nämlich nie weiter.« Die Mutter schien zu derselben Schlussfolgerung gelangt zu sein. Sie blickte zu Rafe auf, hatte einen Arm um ihren Sohn gelegt und wischte sich mit der freien Hand die Tränen fort.

Warum haben weinende Frauen eigentlich nie ein Taschentuch dabei?, fragte er sich, als sie sich die Augen mit einem Stolaende abtupfte. Aber dann reichte er ihr das seine, das sie auch dankbar entgegennahm. Der Captain nahm ihre Reisetasche und seinen Handkoffer und sagte: »Dann los, wir gehen.« »Gehen? Wohin denn?«

»Ihr könnt doch nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag auf der Treppe Eurer Base zweiten Grades hocken bleiben.« Damit setzte er sich in Bewegung, und diesmal sah er sich nicht um, ob sie ihm folgten. Dafür hörte er bald, wie Corrine, den Jungen an der Hand, herangelaufen kam. »Mr. Moore, wartet bitte. Ich verstehe nicht so recht, was Ihr vorhabt.«

»Dann macht Euch auf eine Überraschung gefasst: Ich auch nicht!«

»Wohin führt Ihr uns denn?« »Das wüsste ich auch gern.«

»Ich soll mich heute noch im Haus von Mr. Robbins melden, um meinen Dienst antreten zu können.« »Vergesst das mal ganz schnell. Das war sowieso keine gute Idee von Euch, den eigenen Sohn wegzugeben und sich stattdessen um die missratene Brut von jemand anderem zu kümmern. Wir werden uns etwas Neues für Euch einfallen lassen.« »Aber was denn?«

»Keine Ahnung. Und jetzt hört damit auf, mich mit Fragen zu löchern.«

Rafe drehte sich zu den beiden um. Ursprünglich wollte er die Mutter mit einem strengen Blick zum Schweigen bringen. Aber die schien am Ende ihrer Kräfte zu sein und hielt sich nur noch wegen ihres Sohnes aufrecht. Auch Charley schleppte sich ermattet dahin. Rafe brauchte ihm nur ins Gesicht zu schauen, um sofort zu wissen, wie es dem Kleinen ging.

So etwas, ging ihm durch den Kopf, hatte er noch nie getan ...

Nach kurzem Zögern nahm er beide Reisetaschen in den einen Arm und zog mit dem anderen den Knaben zu sich hoch. Wie leicht der Junge doch war. Und wie vollkommen vertrauensselig. Er schmiegte sich sofort an Rafe. Der Captain spürte seltsame, bislang unbekannte Gefühle in sich aufwallen. Als er bemerkte, dass Corrine ihn ansah, fühlte er sich unbehaglich.

»Mr. Moore, erlaubt mir wenigstens, Euch noch eine Frage zu stellen.« Sie sah ihn ruhig an, und er betrachtete sie. Corrine war gewiss keine strahlende Schönheit, aber sie hatte interessante Augen. Und sie wirkte grundehrlich.

Als er nickte, fuhr sie fort: »Ich finde es unbeschreiblich nett von Euch, dass Ihr mir und Charley helfen wollt.

Aber ich verstehe Eure Beweggründe nicht. Warum habt Ihr Euch überhaupt veranlasst gesehen, vorhin einzugreifen?«

Tja, wenn er das wüsste. Er verdrehte die Augen, aber die junge Frau machte den Eindruck, als wolle sie nicht lockerlassen, bis sie eine Antwort erhalten hatte. »Nun, weil... na ja, eben weil... Ach, verdammt, weil ein Kind niemals von seiner Mutter verlassen werden darf, ganz gleich, aus welchem Grund!« Was hatte er da gesagt? War das wirklich aus seinem Mund gekommen? Mit diesen Worten hatte er Corrine Brewer mehr von sich preisgegeben als jedem anderen Menschen auf der Welt.

Ihr Blick zeigte ihm, dass sie ihn verstand, und ihre Miene drückte Mitgefühl aus. Sie streckte eine Hand aus, um ihn zu berühren, aber nach all den neuen und ungewohnten Erfahrungen des heutigen Tages konnte er nichts mehr verkraften.

So kehrte Captain Rafe Mortmain ihr abrupt den Rücken zu, setzte sich mit den Koffern in dem einen und Charley auf dem anderen Arm in Bewegung und ließ Corrine Brewer keine andere Wahl, als ihm zu folgen.