15
Reeve Trewithan flog durch die Tür der Schänke und landete im Dreck des Stallhofs. Blutend und benommen blieb er liegen. Die Gäste im Dragon's Fire hingen an den Fenstern, und die Dörfler, die vorbeikamen, blieben neugierig stehen. Zwar hatten alle schon einmal eine Wirtshausschlägerei gesehen, aber keine, an der der sanfte Dr. St. Leger beteiligt war.
Schon kam Valentine herausgestürmt, um sich erneut auf seinen Gegner zu stürzen. Der hatte sich inzwischen wieder aufrappeln können, holte mit einer Faust umständlich nach Val aus und traf ihn nicht.
Dafür verpasste der Arzt ihm eine harte Gerade ans Kinn, und der folgte ein linker Schwinger in den Bauch des Mannes.
Stöhnend brach Reeve zusammen, aber Valentine wollte noch nicht von ihm ablassen. Wieder und wieder hieb er auf den Gegner ein.
»Val! Sofort aufhören! Hör auf! Der Mann hat mehr als genug!«
Die Stimme ertönte wie aus sehr weiter Ferne, und der Arzt ließ sich nicht aufhalten. »Val, es ist genug!«
Zwei starke Arme legten sich von hinten um ihn und rissen ihn von Reeve fort. Val befreite sich mit einem tiefen
Knurren aus dem Griff und wirbelte zu seinem neuen Gegner herum. »Val!«
Endlich drang die Stimme in sein Bewusstsein, und Valentine sah sich seinem Bruder gegenüber. Lance' Blick wirkte auf den Arzt wie ein Eimer Wasser ins Gesicht. Vals Wut verflog, und er ließ den Arm sinken. Als Lance ihn losließ, zitterten ihm die Knie. Er musste husten, und ein brennender Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, Der Arzt schloss die Augen, bis das merkwürdige Stechen vergangen war.
Als er sich wieder im Griff hatte, starrte er voller Abscheu auf das, was er angerichtet hatte.
Reeve lag ausgestreckt vor ihm, und sein Gesicht war vor lauter blutenden und blutunterlaufenen Stellen kaum wiederzuerkennen. Sofort entstand in ihm der dringende Wunsch, dem Verletzten auf seine besondere Weise zu helfen.
Doch noch ehe er sich in Bewegung setzte, erhielt er einen Stoß, und Carrie Trewithan stürmte an ihm vorbei. Sie fiel mit einem schrillen Schrei vor ihrem Mann auf die Knie und hob seinen Kopf.
»Ganz ruhig«, beruhigte sie Reeve. »Alles wird wieder gut.« Sie drückte sein Gesicht an ihre Brust und fing an zu weinen.
Als Valentine zu ihr ging und ihr eine Hand auf die Schulter legte, zuckte sie vor ihm zurück und starrte ihn an wie einen Fremden.
»Dr. St. Leger, wie konntet Ihr das tun?« Er hatte ihr doch nur helfen wollen. Als Dank starrte sie ihn an, als sei er der Leibhaftige. Als Val sich umsah, bemerkte er, dass auch die anderen ihn anstarrten, bestenfalls mit gemischten Gefühlen, meist aber mit Unverständnis. Sogar sein eigener Zwillingsbruder bildete keine Ausnahme.
Doch Lance reagierte als Erster. »Das war's, alles ist vorbei«, wandte er sich an die Gaffer. »Du da, komm her, und hilf Mrs. Trewithan, ihren Mann nach Hause zu schaffen.«
Die Menge zerstreute sich auf Befehl des Burgherrn von Castle Leger. Val stand da, fühlte sich erschöpft und ärgerte sich. Der Splitter an seiner Brust pochte wieder.
Die Menschen hier hatten Lance immer schon gehorcht. Wenn sein Bruder Reeve Trewithan zusammengeschlagen hätte, hätten sie ihm bestimmt Beifall geklatscht. Ja, wo der gnädige Herr hinlangte, wuchs kein Gras mehr. Aber wenn der heilige Valentine sich so etwas erlaubte, löste er damit nur Ekel und Empörung aus. Die Menschen, die ihn sonst um Hilfe anflehten, wandten sich nun angewidert von ihm ab. Sollte sie doch alle der Teufel holen! Val wollte höhnisch lächeln, aber seine Kehle zog sich vor Schmerzen zusammen. Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon, um so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und dieses elende Dorf zu bringen. »Warte!«
Aber er hörte nicht auf seinen Bruder. Der Letzte, mit dem er jetzt reden wollte, war Lance. Der hielt ja doch nur ein Dutzend oder mehr Fragen für ihn bereit. Der Arzt lief in Richtung Strand und wollte nur noch fort. Burg Leger war genauso wenig sein Heim wie das Schieferhaus. Er warf einen Blick auf die Klippen, auf das Land, das er einmal so sehr geliebt hatte ... Nein, hier gehörte er nicht mehr hin. Hier war er immer nur ein Außenseiter gewesen, und - »Val!« Sein Bruder befand sich direkt hinter ihm. »Bitte, so warte doch einen Moment. Erklär mir bitte, was sich dort abgespielt hat.«
»Wonach hat es denn ausgesehen? Ich habe ein wenig die Beherrschung verloren.«
»Was, du? Der Heilige St. Valentine?«
»Nenn mich nie wieder so! Nie wieder! Ich finde diesen Scherz schon lange nicht mehr komisch.«
»Val, fühlst du dich noch gut?«
»Ja, bestens! Und hör auf, mich anzustarren, als wüsstest du nicht, wer ich bin.«
»Vielleicht weiß ich das ja auch nicht mehr. Womit hat Reeve dich denn so wütend gemacht?« »Mit nichts.« Der Mann hatte tatsächlich nichts Ungewöhnliches getan, sondern nur wieder in der Schänke herumgehangen. Aber mit einem Mal hatte Val in ihm einen jener brutalen Kerle gesehen, gegen die er sich früher nie zur Wehr gesetzt hatte, die seine Geduld auf eine harte Probe gestellt hatten ...
Etwas hatte angefangen sich mit Macht in ihm zu regen, wie ein Raubtier, das aus seinem Käfig will...
Der Arzt musste husten. Dann sagte er: »Bei Trewithan hat mich einfach die Wut gepackt. Aber immerhin habe ich ihn nicht totgeschlagen, also vergessen wir das Ganze, ja?«
»Verdammt, Val, du solltest aber mit jemandem darüber reden. Seit Wochen bist du ein ganz anderer. Du gehst uns aus dem Weg, und wir machen uns langsam Sorgen um dich.«
Früher hätte das Mitgefühl in Lance' Augen ihm Trost geschenkt, doch heute ärgerte es ihn zusätzlich. »Du hättest dir besser Sorgen um mich gemacht, als ich noch ein Krüppel war.«
»Verzeih, natürlich habe ich mich gefreut, als ich sehen durfte, wie gut du wieder laufen kannst, aber -« »Das glaube ich gern, warst du damit doch auch dein altes schlechtes Gewissen los, was, Bruderherz?« Lance zuckte zusammen und erbleichte. Val wusste, wie sehr er seinem Bruder wehtat, aber nun, da seine Verbitterung sich einmal Bahn geschaffen hatte, sollte alles gesagt werden.
»Deinem dummköpfigen Wagemut in der Schlacht hatte ich es zu verdanken, nicht mehr laufen zu können. Ja, Lance, du hast wirklich Grund, dich darüber zu freuen, mich wieder wohlauf zu sehen.«
Wie gut es tat, seinem Zwillingsbruder alles heimzuzahlen, und -
Nein! Der Kristall zwang ihn dazu. Val schloss eine Hand um den Splitter, so als wolle er ihn sich von der Brust reißen. Aber die dazu nötige Kraft hatte er nicht. »Geh weg, Lance. Lass mich einfach in Ruhe!« »Ich lasse dich nicht allein, und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem du mir damals auf dem spanischen Schlachtfeld beigestanden hast: Weil ich dein Bruder bin!« Der Arzt schüttelte nur den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Zu seinem Verdruss hielt Lance mit ihm Schritt und ließ sich nicht abschütteln. Eine ganze Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. »Val«, meinte Lance dann zögernd, »auch wenn du nicht mit mir reden willst, es gibt da eine Angelegenheit, über die ich mit dir sprechen muss.«
»Tatsächlich?«, fragte der jüngere Zwillingsbruder unwillig.
»Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll, aber mir kommen immer häufiger dumme Gerüchte über dich und Kate zu Ohren. Natürlich gebe ich nichts darauf, doch -«
»Das solltest du aber. Jedes Wort ist wahr.«
»Du wirst doch wohl das Mädchen nicht verführt haben. Niemals!«
»Dazu bedurfte es auch keiner großen Verführungskunst. Sie begehrte mich genauso sehr wie ich sie.« Lance geriet aus dem Tritt und starrte ihn so fassungslos an, dass sein Bruder ebenfalls stehen blieb. Am liebsten hätte Val Lance ins Gesicht geschlagen. »Jetzt schaust du dumm, was, Bruderherz? Du warst ja so überzeugt davon, dass Kate etwas mit diesem Trottel Victor anfangen würde; dass sie vielleicht an mir Gefallen finden könnte, kam dir nie in den Sinn, nicht wahr?« »Nein, Val, so habe ich nicht gedacht. Ich glaubte nur, dass du ... meinte, dass du ...«
»Dass ich mit meinem verkrüppelten Bein kein richtiger Mann mehr wäre, was?«
»Warum gerade Kate? Ich weiß natürlich, dass sie in dich verschossen war. Aber sie ist ja noch recht jung, und du bist alt genug, um es besser zu wissen, dass -« »Kate nicht meine erwählte Braut ist, nicht wahr? Ich will kein Wort mehr über unsere Tradition und die Familiensage hören. Wäre ich doch nur nie als St. Leger geboren worden!«
»Val, das kannst du unmöglich ernst meinen!« »Doch, noch nie ist mir etwas so ernst gewesen. Du hast deine große Liebe gefunden und kannst bis ans Ende aller Zeiten deine große Romanze genießen. Aber was wird aus mir? Was habe ich eigentlich verbrochen, um zu einem solchen Schicksal verurteilt zu werden? Bis an mein Ende unverheiratet bleiben zu müssen?« »Nichts, Val. Ehrlich gesagt habe ich Effies Weigerung, dir eine Braut zu suchen, auch nie verstanden. Aber du wirktest immer so, als hättest du dich damit abgefunden.« »Dann hättest du vielleicht mal genauer hinsehen müssen.« »Ja, das hätte ich tun sollen. Mein Versäumnis tut mir Leid.«
Val wollte weggehen, aber Lance stellte sich ihm in den Weg. Der Kristallsplitter pochte heftig. »Jetzt hör mir gut zu. Ich gehe auf der Stelle zu Effie und verlange von ihr -«
»Verstehst du denn nicht?«, unterbrach ihn sein Bruder. »Dafür ist es schon zu spät! Selbst wenn Effie mir eine Braut fände, wollte ich sie nicht haben, denn ich liebe Kate und will keine andere.«
»Dann kann dir nur noch Gott helfen. Du hast die Familienchronik lange genug studiert, um zu wissen, was dir bei einer Weigerung blüht.« »Ich fühle mich bereits wie ein Verdammter.« »Und ich werde nicht untätig daneben stehen, wenn es dich und Kate in den Untergang zieht.« Der Arzt erkannte, wie ernst es seinem Bruder war. »Verdammt, hast du dich noch nicht genug eingemischt, indem du Effie dabei geholfen hast, diese verwünschte Reise nach London zu machen? Aber Kate wird keinen Fuß in die Kutsche setzen, sondern hier bleiben.« »Val, nun lass doch einmal vernünftig mit dir reden -« Der Arzt packte ihn am Kragen. »Ich habe dir einmal das Leben gerettet, Lance. Zwing mich nicht, das zu bereuen. Ich schwöre, dass ich jeden vernichten werde, der sich zwischen mich und Kate stellen will. Das gilt auch für dich!«
Lance wehrte sich nicht gegen den Griff. »Val, du bist nicht mehr ganz bei dir. Bitte, lass mich dir helfen.« Er spricht mit mir, als hätte ich den Verstand verloren, dachte Val, und schwärzester Zorn brandete in ihm auf - wie ein Ungeheuer, das man von der Kette lässt.
»Du kannst nur eines für mich tun: Halte dich von mir fern!«
Der Arzt kehrte seinem Bruder den Rücken zu und lief den Strand hinunter. Er hoffte, dass Lance genug Einsicht hatte, ihm diesmal nicht zu folgen. Als er sich eine Minute später umdrehte, zog sein Bruder gerade mit hängenden Schultern ab. Val fühlte gewaltigen Triumph in sich und hätte am liebsten laut gelacht...
Doch da mischte sich Bestürzung in seine unbändige Freude. Was hatte er nur getan? Sich seinem Bruder noch mehr entfremdet.
Er sah Lance hinterher und wäre am liebsten zu ihm gelaufen, um ihm alles zu erzählen. Das, was sich an Halloween zugetragen hatte, was zwischen Rafe Mortmain und ihm geschehen war, und von dem Kristallsplitter. Schließlich war Lance sein Bruder.
Und als Erstes nimmt Lance dir dann die Halskette ab. Er nimmt dir deine Macht und deine Gesundheit. Und zum Schluss nimmt er dir auch noch Kate weg. Willst du das? »Nein!«, schwor sich Valentine und umschloss besitzergreifend den Stein an seinem Hals. Mit einem Gefühl der Verlorenheit lief er weiter.
Als er das Schieferhaus erreichte, war er vollkommen durchgefroren. Er musste sich am Gartentor festhalten, da ihn schon wieder ein Hustenanfall schüttelte. Was fehlte ihm bloß? Bei jedem anderen hätte er Schwindsucht diagnostiziert. Aber bei dem Husten handelte es sich um etwas anderes.
Die gleiche Schwärze breitete sich in seinem Innern aus, die schon Rafe gespürt hatte.
»Val!«
Ein Ruf aus einiger Entfernung. Im ersten Moment hoffte der Arzt, sein Bruder sei gekommen. Doch als er sich umdrehte, sah er Kate herbeirennen und den alten Jem Sparkins weit hinter sich lassen.
Erleichtert ließ der Arzt das Gartentor los und breitete die Arme weit aus. Sie warf sich hinein, und beide bedeckten einander mit Küssen.
»Val, ist mit dir alles in Ordnung? Jem berichtete mir, du hättest dich mit Reeve geschlagen ... Was ist denn mit deinen Händen?«
Zum ersten Mal entdeckte er seine geschwollenen Knöchel und das Blut, das von Trewithan stammen musste. Etwas Nasses fiel auf eine seiner Wunden und brannte darin. Kate hielt seine Hand und weinte um ihn. Valentine wäre einen Moment später zusammengebrochen, wenn Kate und Sparkins, der gerade hinzutrat, ihn nicht aufgefangen hätten.
Der Arzt ließ sich zum Sessel in seiner Bibliothek bringen und weigerte sich, ins Bett getragen zu werden. Kate wagte nicht, ihm zu widersprechen. Zum ersten Mal spürte sie, dass sie Angst vor Val hatte. So sanft wie möglich rieb sie seine Hände mit einer Salbe ein. Aber er schien überhaupt nichts zu spüren. Und wenn man ihm in die Augen sah, konnte man den Eindruck gewinnen, er glitte in eine andere, eine dunkle Welt hinüber. Jem erschien mit der Brandyflasche, und die junge Frau hielt Val ein gefülltes Glas an die Lippen. »Trink das.«
Er nahm nur einen winzigen Schluck und betrachtete dann mit einem Lächeln seine verbundene Hand. Aber der gequälte Ausdruck in seinen Augen brachte Kate beinahe um den Verstand.
Als sie ihm ein paar Haare aus der Stirn strich, zog er sie auf seinen Schoss. Kate schmiegte sich an ihn und hoffte, einen der guten Momente von früher zu erleben, wenn sie sich in seinen starken Armen geborgen gefühlt hatte. Aber das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein. So viel war in der letzten Zeit geschehen - und für alles war sie verantwortlich.
Höchste Zeit, dass sie den Zauberbann aufhob und Val freigab.
»Val, du siehst so erschöpft aus. Den ganzen Tag bist du herumgeritten. Ich weiß nicht einmal, wo du gewesen bist.«
»Im verlorenen Land.«
»Auf dem Besitz der Mortmains? Val, du hast mir immer aufgetragen, mich von dort fern zu halten. Was hat dich denn dorthin geführt?«
»Das weiß ich jetzt auch nicht mehr so genau. Wahrscheinlich habe ich nach Antworten gesucht.« »Aber du weißt doch schon alles über diese Sippschaft! Vor allem über Rafe Mortmain, den Schlimmsten von allen. Erst stiehlt er euer Familienschwert, und dann bringt er dich auch noch fast um!«
»Vielleicht litt er solche Schmerzen, dass er gar nicht anders konnte ... weil er furchtbar krank war.« Kate sah ihn irritiert an und fühlte ihm die Stirn. Val lachte rau. »Du glaubst, ich spreche im Fieberwahn? Womöglich hast du Recht. Aber in letzter Zeit stelle ich alles in Frage.«
Er wirkte so gehetzt und traurig, dass sie ihn einfach in die Arme nehmen musste. »Ach, mein Liebster, bald wird alles wieder gut. Warte nur den morgigen Tag ab. Am besten legst du dich bis dahin ins Bett.« »Mit dir?«, fragte er, hob ihre Fingerspitzen an seine Lippen und sah sie mit dem Blick an, den sie nur zu gut kannte. Bevor sie antworten konnte, zog er schon ihr Gesicht an das seine heran, um sie zu küssen. Kate versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien, aber er hielt sie nur noch fester und küsste sie noch leidenschaftlicher.
»Val, bitte«, murmelte sie, als seine Lippen über ihren Hals wanderten und erneut das Beben in ihr erzeugten. Als seine Hand sich auf ihre Brust legte, zitterte sie ... Mit letzter Kraft riss sie sich von ihm los. »Nein ...« stammelte sie mit wenig Überzeugungskraft und zog sich noch einen Schritt von ihm zurück.
Seine Hände umklammerten die Sessellehnen, und sie fürchtete schon, er wolle aufspringen und zu ihr stürzen. Aber dann sah die junge Frau die unendliche Trauer in seinem Blick.
»Auch du, Kate? Auch du willst mich verlassen und dich gegen mich stellen - wie jeder andere im Dorf?« »Aber nein, Val, wie kommst du nur auf so etwas?«, entgegnete sie und fürchtete, er könne das wirklich ernst meinen. »Niemand wendet sich gegen dich, die Menschen in Torrecombe ehren und bewundern dich!« »Ja, früher einmal. Aber ich kann nicht mehr ihr Arzt sein. Ich bin müde, so müde, Kate.«
Er versuchte, sie noch einmal an sich zu ziehen. Die junge Frau musste alle Willenskraft aufbieten, um ihm zu widerstehen.
»Kate, willst du mich denn nicht mehr?«
Ach, wenn er wüsste. »Natürlich will ich dich noch, aber ich habe solche Angst.«
»Wovor denn?«
»D-dass wir zu unbesonnen sind ... und ich von dir ein Kind bekomme ...«
»Und von mir willst du kein Kind?«
Es gab wohl nichts auf der Welt, was sie lieber wollte. »Wir sind nicht verheiratet, und nach allem, was ich in meinem Leben durchgemacht habe, möchte ich nicht, dass mein Kind unehelich zur Welt kommt.« »Glaubst du denn, das würde ich zulassen? Aber du warst doch bislang immer dagegen, mit mir vor den Altar zu treten.«
Aber nur, weil er sie nicht mehr haben wollte, wenn der Zauber erst einmal aufgehoben wäre. »Nun, ich hoffe immer noch, dass wir erst den Segen deiner Familie bekommen können.«
»Das solltest du rasch vergessen. Mein Bruder schmiedet bereits Pläne, dich mir wegzunehmen. Wir hätten uns heute beinahe deswegen geschlagen.«
Die beiden Brüder wollten mit den Fäusten aufeinander losgehen? Daran war nur ihr verwünschter Zauberspruch schuld!
»Vergiss die St. Legers, die waren immer schon ein Haufen Narren. Wenn sie uns weiterhin Scherereien machen, vernichte ich die ganze Familie -« Er schwieg von einem Moment auf den anderen, als er Kates entsetzte Miene sah. »Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint. Mir widerstrebt es zutiefst, gegen meinen Bruder oder meinen Vater kämpfen zu müssen. Oder gegen sonst jemanden ... Aber Anatole St. Leger wird bald zurückerwartet, und dann setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, um uns zu trennen ... Ich weiß nicht, was ich dann tun werde ... Tod und Verdammnis! Wir müssen hier fort. Jetzt, auf der Stelle!«
»Noch heute Abend?«, fragte Kate überflüssigerweise. »Ja, sag Jem Bescheid, dass er eine Kutsche vorbereiten soll.«
Die junge Frau starrte ihn an, denn sie glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. Doch Val war es ernst mit seinen Fluchtplänen.
Als sie wie erstarrt stehen blieb, sprang er auf, lief zur Tür und rief selbst nach Jem. »Val, bitte...«
»Die Zeit für Ausflüchte ist vorüber, Kate.«
»Du musst mir noch ein wenig Zeit lassen.«
»Wozu denn? Damit du es dir wieder anders überlegen kannst? Du gehörst jetzt mir, und ich werde dich nie mehr loslassen.«
War das eine Drohung? Von Val? Erneut bekam sie Angst vor ihm. Wenn ihr nicht bald etwas einfiel, würde er sie zwingen, mit ihm durchzubrennen. »Nein, Val, ich brauche Zeit, um meine Sachen zusammenzupacken. All die Dinge, die mir lieb und teuer sind. Gib mir nur einen Tag, Val.«
Tatsächlich entspannte sich in diesem Moment seine grimmig entschlossene Miene.
»Aber gern, mein Schatz. Noch einen Tag, aber danach gibt's keine Verzögerung mehr. Morgen Abend verlassen wir diesen Ort.«
»Aber morgen Abend findet der Maskenball der St. Legers statt.«
»Umso besser. Bei all der Aufregung wird einige Zeit vergehen, ehe man uns vermisst. Ich komme mit der Kutsche zur Kreuzung auf der Burgstraße. Dort treffen wir uns. Erscheine bitte nicht später als acht Uhr abends.« Sie nickte nur.
»Du lässt mich doch nicht im Stich?« »N-nein!«
»Dann versprich es mir.«