12
Der Arzt schritt an der niedrigen Mauer entlang, die den Kirchhof umgab. Der Wind wehte ihm das schwarze Haar ins Gesicht. Er schob es immer wieder zurück und ließ dabei den Weg nicht aus den Augen, der mittlerweile fast ganz von der Abenddämmerung verschluckt worden war. Verdammte Kate, wo blieb sie bloß? Um sich zu beruhigen, betrachtete er die Kirche St. Gothian, die ihm seit Kindertagen immer Trost und Frieden geschenkt hatte.
Man hatte die Kirche auf einem alten Druiden-Altar errichtet, und dieser älteste Teil des Landes schien heute Abend mit Valentine in Verbindung treten zu wollen. Der Wind erzählte ihm Geschichten von wilden Barbaren, die das Dorf heimgesucht und die Frauen geraubt hatten. Der Arzt spürte, wie ihm das Blut durch die Adern rauschte.
Wozu sich mit einem Priester abmühen, die Wikinger hatten für ihr Treiben auch nicht erst einen Vikar gefragt. Valentine wollte nur noch das Mädchen mit dem pechschwarzen Haar und den flinken grauen Augen, den festen Brüsten und den einladenden weichen Hüften. Er würde sie sich über die Schulter werfen und dann davontragen nach.
Der Arzt presste sich die Hände an die Schläfen, um diese
Bilder aus seinem Kopf zu zwingen. Er spürte die Halskette überdeutlich. Der Splitter rief Lust und Begierden in ihm hervor.
Der Kristall schwächte seine Abwehrkräfte immer mehr und zerstörte seinen Charakter, seine Würde und seine Ehre.
Doch als er eine Hand unter den Umhang schob und nach der Kette griff, schien diese sich nicht vom Fleck rühren zu wollen. Sich den rechten Arm auszureißen, wäre einfacher gewesen.
Und überhaupt war der Stein sein Freund, schwächte ihn nicht, sondern machte ihn immer stärker und stärker. Die Magie des Kristalls stand ihm nun zur freien Verfügung. Aber nur, solange noch Tageslicht herrschte. Er leckte sich über die Lippen. Vielleicht sollte er nicht länger auf die junge Frau warten.
Am besten suchte er den Vikar sofort auf und besprach alles mit ihm, solange er sich noch halbwegs auf die Hochzeit konzentrieren konnte und nicht nur daran dachte, Kate ins Bett zu bekommen.
Das Pfarrhaus befand sich hinter der Kirche, und Valentine lief quer über den Friedhof darauf zu. Viele Dörfler fürchteten sich selbst bei hellem Tageslicht vor dem Kirchhof. Aber Valentine arbeitete schon zu lange als Arzt, um sich noch vor dem Tod zu fürchten ... bis ihn der erste eisige Hauch umwehte. Wie frostkalte Finger, die ihm über den Nacken strichen. Er bekam eine Gänsehaut, blieb stehen und sah sich um. Valentine war auf den ältesten Teil des Friedhofs gelangt. Viele Grabsteine waren umgefallen oder zerbrochen, und wirkten wie das Gebiss eines Drachens. Der Arzt konnte die meisten der verwitterten Inschriften nicht mehr entziffern. Aber das musste er auch nicht, denn er wusste, wer hier beerdigt lag und warum ihm das Stück Land feindlich gesonnen zu sein schien. In dieser Ecke lagen die Mortmains, die Todfeinde der St. Legers.
Valentine fuhr zurück, um dem Bösen zu entgehen, das hier fast körperlich spürbar nach ihm griff. Dabei prallte er gegen einen Grabstein, der neuer aussah als die anderen.
Evelyn Mortmain
1761-1789
Valentine erinnerte sich, wie sehr es ihn als Kind empört hatte, dass diese durch und durch böse Frau, die versucht hatte, seine Eltern zu ermorden, auf dem geweihten Boden von St. Gothian beigesetzt werden sollte. Evelyn hatte ein gewaltsames Ende gefunden - wie fast alle Mortmains vor ihr.
Er wollte diesen Teil des Friedhofs verlassen und wie gewohnt umgehen. Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Und er konnte den Blick nicht von dem Grabstein wenden. Zum ersten Mal ging ihm auf, wie jung Evelyn gestorben war. Nicht einmal dreißig war sie geworden und hatte ihr Leben mit Rache und Hass vergeudet. Verbitterung und Kummer befielen ihn, und seine Augen brannten, bis die Tränen kamen. Er weinte um Evelyn Mortmain, betrauerte sie wie seine eigene Mutter! Wie, zur Hölle, war es möglich, dass er wie Rafe Mortmain empfand?
Endlich konnte er sich lösen, und prallte gegen eine alte Eiche. Er wischte sich über das Gesicht und versuchte noch einmal angestrengt, sich an die Ereignisse am Vorabend von Allerheiligen zu erinnern. Ein Abend wie dieser, mit wilden Windböen und einem Gewitter, das sich in der Ferne zusammenbraute ...
Rafe war, dem Sterben nahe, zu ihm gekommen ... Valentine hatte versucht, ihm zu helfen, ihm die Schmerzen zu nehmen ... und dabei war es zwischen ihnen zu einem Austausch gekommen ... Nicht nur der Kristallsplitter hatte den Besitzer gewechselt.
Valentine hatte das ungute Gefühl, dass seine Seele nicht mehr ihm allein gehörte!
Val war nicht da.
Kate lief mit klopfendem Herzen den Weg hinunter und versuchte, keine Panik zu bekommen. Sein Hengst war am Friedhofstor angebunden und stampfte unruhig mit den Hufen.
Der Arzt würde sein Pferd nie so zurücklassen, erst recht nicht, wenn sich ein Unwetter ankündigte. In ihrer Not war Kate zum Pfarrhaus gelaufen, aber Mr. Trimble hatte sich über ihre Frage sehr erstaunt gezeigt. Dr. St. Leger, nein, den habe er den ganzen Tag noch nicht zu Gesicht bekommen.
Auch im Dragon's Fire wusste niemand Bescheid. Genauso wenig wie in Effies Cottage. Wo mochte Val bloß stecken?
Als sie sich auf den Weg zum Schieferhaus machte, kam ihr Jem Sparkins entgegen, der ebenfalls nach seinem Herrn suchte.
»Das sieht dem Doktor gar nicht ähnlich, nein, tut es nicht, den ganzen Tag zu verschwinden, ohne jemandem nie nicht Bescheid zu sagen«, teilte Jem ihr mit sorgenzerfurchter Stirn mit. »Bei allem, was recht ist, Miss, Master Valentine benimmt sich die ganze Zeit nicht so, wie man ihn kennt, nee nicht.«
Kate konnte ihm nicht in die Augen sehen, weil sie genau zu wissen glaubte, wer für diesen Wandel verantwortlich war. Ihre Wege trennten sich. Während Jem die Straßen außerhalb des Dorfes absuchen wollte, kehrte die junge Frau zur Kirche zurück.
Dort angekommen, fiel ihr ein, dass sie noch gar nicht im Gotteshaus nachgesehen hatte. Das kleine Steingebäude wirkte aber viel zu düster und still, als dass sich jemand darin aufhalten mochte.
Wollte sie denn lieber hier draußen stehen und Däumchen drehen?
Kate lief die wenigen Stufen zu dem kleinen Portal hinauf. Sie öffnete die schwere Tür. Das Innere der Kirche wirkte nicht sehr einladend auf sie.
An einem Abend mit Unwetterwarnung sah die Kirche ganz anders aus als an einem Sonntagmorgen, wenn sich hier die ganze Gemeinde versammelte. Altar, Kanzel, Taufbecken und sogar das prachtvolle Relief an der gegenüberliegenden Wand verloren sich in den Schatten. »Val?«, rief Kate leise.
Sie erhielt nur schwer lastendes Schweigen zur Antwort. Die junge Frau wollte schon wieder gehen, als ein Blitz über den Himmel zuckte und sie in dessen Licht Val entdeckte.
Er kniete mit gesenktem Kopf in der ersten Bankreihe. Sie glaubte, er bete dort, und eilte zu ihm, doch im Näherkommen entdeckte sie, dass ihr Liebster die Fäuste gegeneinander presste und am ganzen Körper zitterte. »Val?« Sie berührte ihn leicht an der Schulter. Er zuckte zurück, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. Mit seiner bleichen Gesichtsfarbe und den tief in den Höhlen liegenden Augen wirkte er wie jemand, der große Angst litt. Dabei war gerade er immer so mutig und auch in der größten Gefahr ruhig geblieben. »Was ist mit dir?«, fragte sie besorgt. »Fehlt dir etwas?«
Er murmelte kaum hörbar ihren Namen, schlang die Arme um ihre Hüfte und vergrub sein Gesicht in ihrem Umhang. Val hielt sie so fest, als stellte sie seinen einzigen Halt in einer Welt des Wahnsinns dar. Kate strich ihm übers Haar und versuchte ihn zu beruhigen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was ihm eigentlich widerfahren war.
Endlich ließ er sie wieder los, und Kate setzte sich neben ihn auf die Bank. Sie strich ihm die Strähnen aus dem Gesicht und beobachtete seine Miene genau. »Mein Gott, Val, bist du krank?« »Nein.«
Sie betastete seine Stirn. Sie fühlte sich feucht und kalt an. Aber er schob ihre Hand beiseite. »Ich bin von uns beiden der Arzt und sollte eigentlich wissen, ob mir etwas fehlt oder nicht.«
»Dann sag mir, was geschehen ist. Du siehst nämlich aus, als sei dir ein Gespenst begegnet.« Er lachte zu laut. »Vielleicht ist das ja auch so. Aber dieser Geist gehört nicht zu mir.«
Diese Antwort ergab nun überhaupt keinen Sinn. Val beunruhigte sie immer mehr, auch als er sich erhob und tief durchatmete.
Danach schien er wieder der Alte zu sein und brachte sogar ein Lächeln zustande.
»Nun schau mich nicht so an, Kate. Ich war es lediglich müde, noch länger auf dich zu warten, und bin in die Kirche gegangen. Wo bist du denn so lange geblieben?« »Tut mir Leid, aber das, was ich für Effie erledigen musste, hat doch länger als erwartet gedauert.« Was war ihr denn da über die Lippen gekommen? Sie hasste es, Val belügen zu müssen. Aber er hob mit zwei Fingern ihr Gesicht und sah sie streng an: »Du warst doch hoffentlich nicht schon wieder mit ihm zusammen, oder?«
»W-wen meinst du?«, stammelte sie. Wie hatte Val denn von ihrem Treffen mit Prospero erfahren? »Mit diesem Trottel Victor. Wen sollte ich denn sonst meinen?«
»Ach so. Nein, natürlich war ich nicht mit ihm zusammen.« Kate entspannte sich. Sie war erleichtert, dass ihr Geheimnis gewahrt blieb. Auf der anderen Seite verdross es sie doch, dass er immer noch glaubte, sie habe etwas mit einem anderen Mann.
Wenn Val seine Eifersucht nicht im Zaum hielt, stand ihr ein langer und schwieriger Monat bevor, bis sie endlich den Zauberbann von Victor nehmen konnte. Sie wollte ihn auf andere Gedanken bringen, legte ihm die Arme um den Hals und wollte ihn küssen.
Doch er schob sie von sich. »Du solltest besser gehen, ehe der Sturm losbricht.«
Dabei wäre sie viel lieber bei ihm geblieben. Und sei es nur, um herauszufinden, warum so vieles zwischen ihnen schief zu laufen schien.
»Du solltest auch gehen«, entgegnete die junge Frau. »Jem sucht dich nämlich schon überall. Mrs. McGintys Enkel ist ins Schieferhaus gekommen. Der Zustand seiner Großmutter hat sich wohl ziemlich verschlechtert.« Kate erhob sich, denn sicher würde Val jetzt gleich aufbrechen - wie er es immer tat, wenn jemand in Not seine Dienste benötigte.
Doch zu ihrer Verwunderung blieb er einfach stehen. Als er bemerkte, wie sie ihn anstarrte, zuckte er die Schultern. »Mrs. McGinty geht es doch andauernd schlechter. Der Frau fehlt aber nicht wirklich etwas. Sie leidet an Rheuma und seit dem Tod ihres Mannes an Einsamkeit.
Und ich vermag weder das eine noch das andere zu heilen.«
»Aber du fährst doch trotzdem immer wieder zu ihr und leistest ihr Gesellschaft.«
»Ach, auf meine Gesellschaft ist sie gar nicht so scharf. Sie will nur das, was alle anderen auch von mir erwarten: meine verdammte Gabe!«
»A-aber... So habe ich dich noch nie reden hören. Du hast deine Fähigkeit immer anders bezeichnet... als ...« »Als Segen? Als wunderbare Gabe? Vielleicht habe ich sie ja wirklich einmal so gesehen, aber das war ...« Er sprach nicht weiter, sondern schritt durch die Bankreihen und fuhr mit den Händen über das abgegriffene Holz. »Weißt du eigentlich, wann ich zum ersten Mal entdeckt habe, über welche Fähigkeiten ich verfüge?« »Nein.« Kate hatte immer geglaubt, wirklich alles über ihn zu wissen. Aber jetzt ging ihr auf, dass sie offenbar niemals über dieses Thema geredet hatten. »Ich war damals sechs, und Lance und ich spielten im Burggarten Verstecken. Leider konnte ich meinen Bruder nicht finden, dafür aber eines der Kinder unseres Butlers.
Sally Sparkins hatte sich unter einen Azaleenstrauch verzogen und heulte wie ein Schlosshund. Irgendwie hatte sie sich den Ellbogen aufgeschürft. Immerzu liefen bei ihr die Tränen, und ich wollte sie beruhigen. Also legte ich meine Hand auf die ihre. Aber die kleine Sally hörte nicht auf.
Ich umschloss ihre Hand fester und wünschte mir mit aller Kraft, ihr den Schmerz zu nehmen. Wenig später prickelte es in meiner Handfläche, und Energie durchströmte mich.
Irgendwann ging mir dann auf, dass Sally nicht mehr weinte. Zwar brannte dafür mein eigener Ellbogen wie Feuer, aber das spielte keine Rolle. Das Mädchens starrte mich voller Dankbarkeit an, und ich erkannte, dass ich über eine besondere Fähigkeit verfügte. Nämlich anderen die Schmerzen zu nehmen ...« Glück und Staunen erfüllten seinen Blick, doch das verging rasch.
»Ich weiß nicht, was aus mir geworden ist. Vielleicht besitze ich nicht mehr die Kraft, oder mir sind zu viele Butler-Töchter begegnet. Sie verlangen alle das Gleiche von mir...«
Er hielt sich eine Hand vor die Augen. »Ich bin es so Leid, Kate, der Einzige zu sein, der ihnen helfen kann.« Die junge Frau wollte zu ihm und ihn trösten, aber sie spürte, dass er noch mehr zu sagen hatte. »Ich habe das noch nie jemandem gegenüber eingestanden. Nicht einmal mir selbst... Jetzt bin ich natürlich nicht mehr der Held, den du immer in mir gesehen hast.« Kate hielt es nicht länger an ihrem Platz. Sie rannte zu ihm und umarmte ihn. »Ach, Val, wie kannst du denn so etwas sagen?«
Er umarmte sie ebenfalls fest und murmelte in ihr Haar: »In der letzten Zeit fühle ich mich nicht so gut. Irgendetwas tut sich in mir. Etwas Furchtbares ist mir widerfahren, und ich weiß nicht, worum es sich dabei handelt.« Kate wusste es dafür umso besser. Wie rücksichtslos sie gehandelt hatte. Nicht ein Mal hatte sie sich gefragt, was der Zauberbann Val abverlangen könnte. Nein, sie musste ihn loslassen, durfte ihn nicht länger an sich fesseln, sosehr das ihrem Herzen auch einen Stich versetzen mochte.
»Val, wie ... wie wäre es denn, wenn sich alles wieder in den früheren Zustand zurückversetzen ließe?« »Was meinst du damit?«
»Wie wäre es, wenn man die Zeit vor Halloween zurückdrehen könnte, als wir beide nur gute Freunde waren?« Er verzog das Gesicht. »Du meinst, zurück zu meinem Dasein als Krüppel, der sich dafür aufreibt, anderen zu helfen, und nicht hoffen darf, dich jemals zu lieben? Nein, da wäre ich lieber tot.«
Sie hielten sich aneinander fest, und draußen begann das Gewitter.