Dunkle Wolken hingen über dem uralten Turm. Ein Unwetter kündigte sich an. Selbst die Sonne schien sich zurückzuziehen, als Kate die steinerne Wendeltreppe bestieg. Vielleicht hatte sie ja Glück, und Prospero hatte sich wieder in die Unterwelt zurückgezogen ... Die junge Frau verachtete sich für so feige Wünsche. Sie musste den alten Zauberer unbedingt sprechen. Nur, wie wollte sie ihn um Hilfe bitten?
»Erinnert Ihr Euch an das Zauberbüchlein, das ich nicht anfassen durfte? Nun, irgendwie habe ich es mir ausgeborgt und, na ja, dann ist es mir irgendwie verloren gegangen ...« Ach, weshalb sich den Kopf zerbrechen? Wenn sie vor Prospero stünde, würde sie ja doch keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbringen. Sie zwang sich weiter hinauf. Als sie auf dem Absatz angelangt war, spähte sie vorsichtig über die Schwelle. Ein Feuer brannte unheimlich in dem großen offenen Kamin, das keine Wärme zu verbreiten schien. Kate zitterte vor feuchter Kälte.
Die merkwürdigen Flammen erzeugten aber ausreichend Licht, das in jede Ecke der Kammer strahlte. Kate erkannte alles wieder, das riesige Bett, die Regale mit den Fläschchen, die vielen Bücher und den kleinen Schreibtisch.
Dann entdeckte sie den alten Zauberer, und ihr stockte der Atem. Der Feuerschein badete ihn in goldenen Schein, während er irgendeinen uralten Text studierte. Erwirkte wie ein gelehrter Ritter, der Erfüllung in der Entzifferung alter Schriften fand. Auch ließen ihn die breiten Schultern, die dunkle Haut und die stämmigen Beine durchaus wirklich erscheinen.
Bis auf einen kleinen Schönheitsfehler: Ritter und Buch schwebten in der Luft.
Als Kate eintrat, hob er nicht einmal den Blick. Schritt für Schritt schlich sie auf ihn zu und kam sich wie ein kleines Bettelmädchen vor, das sich einem großen König näherte. »P-prospero ... Herr...«
Jetzt hob der Vorfahr den Kopf und betrachtete sie durch seine dichten Wimpern. »Ah, Fräulein Kate.« Sie beschlich das eigenartige Gefühl, dass er sie erwartet hatte. Und offenbar versetzte ihr Anblick ihn nicht in unbändigen Zorn.
Aber das würde sich sicher gleich ändern, wenn sie ihm den Grund ihres Kommens erläuterte. »Und was verschafft mir die Ehre und das Vergnügen Eures Besuchs? Seid Ihr gar wegen weiteren Unterrichts in Fragen der richtigen Körperhaltung erschienen?« »Nein, das nicht, ich ... nur ... ich muss Euch etwas sagen ...«
Sie konnte nicht weitersprechen, denn ihr Blick fiel auf das Buch, in dem er bis eben gelesen hatte. In Leder gebunden und mit einem Drachenemblem verziert... Das fehlende Zauberbuch? Offenbar hatte es Flügel bekommen und war zu seinem Meister zurückgeflogen. Kate fühlte sich so erleichtert, dass ihr ganz schwindlig wurde. Doch das verwandelte sich rasch in Empörung: »Ihr habt das Buch aus meiner Kammer entwendet!«
Prospero nickte höflich.
»Davon hättet Ihr mich aber in Kenntnis setzen müssen. Stattdessen ließet Ihr mich in dem Glauben, ich hätte das Bändchen verlegt!«
Er sah sie erschrocken an: »Was habe ich getan? Mein gestohlenes Eigentum zurückerlangt und dann auch noch versäumt, Euch davon in Kenntnis zu setzen? Wie unentschuldbar von mir. Edelste Dame, ich erflehe Eure Vergebung!«
»Habt Ihr auch nur eine Ahnung, welche Sorgen ich mir gemacht habe seit Halloween?«
»In der Tat, eine verdrießliche Nacht. Merkwürdige Nachrichten drangen an mein Ohr. Von einem halb wilden Zigeunermädchen, das vor dem alten stehenden Stein ein Feuer entzündet haben sollte. Und dann kam auch noch der grässliche Sturm hinzu. Das alles dürfte ausreichen, einem Albträume zu verschaffen ... von einschlagenden Blitzen, von einem brennenden Dorf und von den Bewohnern, die einen durch die Straßen jagen ... Brrr!« Prospero schüttelte sich.
Kate starrte ihn mit offenem Mund an. Woher wusste er von ihren schlimmen Träumen. Darauf gab es nur eine Antwort: »Ihr habt mir diese Nachtmahr eingegeben!« Der Vorfahr rieb sich die Nägel der linken Hand am Hemd, ehe er antwortete: »Nur eine meiner bescheidenen kleinen Begabungen.«
»Wie konntet Ihr mir so etwas antun!«, schrie Kate. »Dieser Traum war einfach schrecklich!« »Nun, ich hoffte, ich könnte Euch eine Lektion darüber erteilen, was es heißt, sich mit schwarzer Magie zu befassen. Aber offenbar hat das nicht viel gefruchtet, denn Ihr seid ja schon wieder hier.«
Er verdrehte die Augen wie jemand, der viel zu erdulden hat, und hielt sein Buch so weit wie möglich fern von ihr. Ihm war nämlich nicht entgangen, dass Ihr Blick immer wieder zu dem Bändchen wanderte. »Bitte, bitte, bitte«, flehte die junge Frau. »Ich brauche das Buch, und ich brauche Eure Hilfe. Ganz dringend.« »Ich fürchte, mich zu wiederholen, denn meines Wissens habe ich Euch bereits davon in Kenntnis gesetzt, dass ich mich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten der Sterblichen einmische.«
»Von wegen, Ihr tut doch nichts anderes. Wann immer es Euch gefällt, mengt Ihr Euch ein!« Die Worte waren über ihre Lippen auf und davon, ehe sie darüber nachdenken konnte. Dabei wollte sie ihn vor allen Dingen nicht verärgern.
Prospero erstarrte für einen Moment und gestattete sich dann ein Lächeln. »Das könnte man so sagen. Aber aus Herzensangelegenheiten halte ich mich wirklich heraus. Wenn Ihr also vor mich getreten seid, um mich wieder mit Eurem dämlichen Liebeszauber zu plagen -« »Nein, im Gegenteil! Ich will einen Zauber aufheben. Einen, den ich selbst gewoben habe!« »Ihr habt einen Zauber bewirkt? Ich fürchte, mein Fräulein, Ihr seid da einem Anflug von Größenwahn erlegen.« »Ich habe es aber doch vermocht. Mit der Hilfe Eures Buches.«
»Unmöglich. Ihr seid gar nicht in der Lage, meine Geheimschrift zu entziffern.«
»Von wegen Eure Geheimschrift! Das sind altägyptische Hieroglyphen, und ich versichere Euch, viele Gelehrte sehen sich in der Lage, solche Texte zu lesen und zu übersetzen.«
Das schien dem alten Zauberer überhaupt nicht zu gefallen. »Dann vermochtet Ihr also in meinem Buch zu lesen?« »Och, das war ganz leicht... Na ja, nicht ganz. Irgendwas muss ich wohl gründlich missverstanden haben, sonst wäre die Beschwörung nicht so fürchterlich schief gegangen. Ich habe nämlich den Liebeszauber nicht nur auf einen Mann gelegt, sondern auf deren zwei.« Der Vorfahr starrte sie für einen Moment an und brach dann in schallendes Gelächter aus. »Euch ist eine Doublette gelungen? Zwei Männer mit einem Zauber? Und das schon beim ersten Versuch? Mein Kompliment, Mylady.«
»Ich bin aber nicht gekommen, um mir gratulieren zu lassen. Ihr könnt Euch ja gar nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, von zwei Männern bedrängt zu werden, die dann auch noch im Duell gegeneinander antreten wollen!«
»Die meisten Frauen würden so etwas aber als angenehm aufregend empfinden.« »Ich bin aber nicht wie die meisten Frauen.« »Ja, zu der Erkenntnis gelange ich auch gerade.« Kate glaubte tatsächlich so etwas wie Bewunderung in seinem Blick zu erkennen.
»Nun, der Mann, den ich liebe, ist eifersüchtig. Und dem anderen habe ich mit meiner Zurückweisung das Herz gebrochen. Dabei wollte ich doch nie jemandem wehtun.«
»Meine liebe Kate«, sprach Prospero, »gut möglich, dass Ihr Euch wegen nichts besorgt. Einen solchen Liebeszauber zu bewirken, erweist sich als höchst schwierig, selbst mit der Hilfe meines Buches. Könnte es nicht sein, dass sich Eure beiden Verehrer auch ohne Nachhilfe durch Zauberkünste in Euch verliebt haben?« Kate seufzte. Wie gern hätte sie das geglaubt. Weniger im Falle Victor, dafür aber umso mehr bei Val. Wenn man sich vorstellte, dass er sich wirklich unsterblich in sie verliebt hatte, sodass er seiner Familie und deren Fluch trotzen wollte...
Aber leider wusste sie es besser. »Ich fürchte, so liebreizend bin ich nicht. Selbst meine Mutter wollte mich nicht haben und gab mich fort...« »Das erging mir bei meiner ebenso.« »Wie, dann seid Ihr auch ein Bastard?« »Ja, und das in des Wortes mehrfacher Bedeutung. So würden meine Geliebten nicht anstehen, mich Euch zu beschreiben.«
Kate hielt den Atem an. Er wollte sie nicht in eine Kröte verwandeln und schien sogar gewillt zu sein, ihr beizustehen. Jetzt bloß nichts kaputtmachen. »Was verlangt Ihr denn nun genau von mir?«, fragte Prospero schließlich.
»Oh, nichts Besonderes. Nur den Zauber wieder rückgängig machen.«
»Mehr nicht?« Prospero lachte trocken. »Damit wir uns richtig verstehen: Bei beiden Männern oder nur bei einem?«
»Natürlich nur bei dem, den ich aus Versehen mit verzaubert habe.«
»Dann scheint Euch der Erstere aber sehr wichtig zu sein.«
»Ich würde alles auf mich nehmen, um mit ihm zusammen sein zu können.«
»Also gut«, seufzte er, »dann will ich mal sehen, was sich machen lässt.«
»Danke, vielen, vielen Dank!« Sie stürmte auf ihn zu, um ihn zu küssen - was natürlich unmöglich war. »Eine zauberhafte Vorstellung, mein Fräulein. Vergesst trotzdem nicht, dass ich Euch nichts versprechen kann.
Ich will es lediglich versuchen.« Er öffnet sein Bändchen und blätterte darin.
Die junge Frau stellte sich neben ihn. Einerseits erfüllte sie Hoffnung, andererseits aber auch Furcht. Er würde bestimmt von ihr die Namen der beiden Verehrer erfahren wollen.
Prospero zog die Stirn in immer tiefere Falten. Dann meinte er: »Ja, so könnte es gehen. Kommt in einem Monat wieder zu mir.«
»In einem Monat?«, rief die junge Frau. »Ich hatte gehofft, Ihr könntet gleich etwas bewirken. Vermögt Ihr nicht, den Vorgang etwas zu beschleunigen?« Der Vorfahr zog die Brauen hoch und höher. »Selbst ich kann nicht die Bewegung des Himmels beeinflussen. Wenn man überhaupt etwas an Eurem Zauber ändern kann, dann nur in der gleichen Mondphase, in der Ihr ihn ursprünglich gewoben habt.«
»Oh.« Kate konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. »Ich dürfte mich wohl schon glücklich preisen, wenn meine beiden Galane sich bis dahin nicht umgebracht haben.«
»Dann solltet Ihr dafür sorgen, dass sie sich nicht in die Quere kommen.«
»In einem so kleinen Dorf? Wie sollte das denn gehen?« »Ich bin mir sicher, dass jemandem wie Euch das eine oder andere einfallen wird.«
Die junge Frau wollte widersprechen, aber Prospero brachte mit einer Handbewegung das Feuer im Kamin zum Erlöschen. Jetzt erkannte sie, dass sie nur das Funkeln der vielen Facetten eines Kristalls erlebt hatte. Neugierig folgte Kate dem Zauberer zum Kamin. »Was ist das für ein wunderliches Ding?«
»Das Ergebnis eines Versuchs, den ich zu meinen Lebzeiten durchführte. Da hatte ich mich nämlich der Alchemie zugewandt.«
Er nahm den Stein in die Hand. Sein Licht brannte so hell, dass Kate ihre Augen abschirmen musste. »Dieser Kristall gehörte zu einem viel größeren Stein, den ich selbst geschaffen habe. Aber dann ist leider etwas furchtbar schief gegangen. Es gab eine Explosion, und als der Rauch sich verzogen hatte, waren nur noch ein paar Teile übrig. Eines davon findet sich im Knauf des Familienschwerts. Und dieses hier habe ich behalten.« Er hielt ihr den Stein hin, aber als Kate ihn berühren wollte, riss er den Kristall zurück. »Dieser Stein birgt große Gefahren, besonders wenn er hinfällt und ein Stück von ihm abbricht. Dieser Splitter entwickelt nämlich, weil er vom Ganzen getrennt ist, die merkwürdigsten Eigenschaften und kann sogar den Tod bringen. Wer ihn berührt, der reagiert unvorhersehbar und schwankt in seinen Stimmungen von Minute zu Minute.«
»Warum habt Ihr so etwas Gefährliches denn überhaupt erfunden?«, wollte die junge Frau wissen. »Ich wette, als Alchimist wart Ihr vor allem darauf aus, Blei in Gold zu verwandeln, nicht wahr?«
»Nein, an Gold war mir nicht gelegen. Ich war schon vermögend genug. Ich erstrebte vielmehr die Unsterblichkeit.« Er lächelte sie spöttisch an. »Deswegen Obacht, mein Fräulein, wenn Ihr schwarze Magie einsetzt. Am Ende werden Eure Wünsche nämlich wahr. Doch nicht unbedingt so, wie Ihr Euch das vorgestellt habt.« Kate schüttelte sich und runzelte die Stirn. Aber sie kam nicht mehr dazu, ihn weiter zu befragen, denn er kehrte ihr den Rücken zu und schloss den Kristall wieder weg. Die einsetzende Dunkelheit erinnerte die junge Frau daran, dass sie sich mit Val an der Kirche treffen wollte. Was hatte er noch gesagt? Sie dürfe unter gar keinen Umständen nach Einbruch der Dunkelheit zu ihm kommen? Sie machte sich rasch auf den Weg und konnte Castle Leger verlassen, ohne jemandem zu begegnen. Doch hoch über ihr schwebte ein Gespenst über den Zinnen. Prospero verfolgte Kates weiteres Treiben und fragte sich, welcher Teufel ihn ritt, dass er sich gegen seine Gewohnheit wieder in die Angelegenheiten der Sterblichen einmischte.
Warum ausgerechnet dieses Mädchen? Ihm fiel darauf nur eine Antwort ein: »Ich muss den Verstand verloren haben.« Schließlich hatte er sich auch noch um andere Dinge zu kümmern.
Das Gefühl, das sich etwas Bedrohliches Castle Leger näherte, hatte sich noch nicht legen wollen. Prospero war auch noch nicht dahinter gekommen, was es sein könnte. Nur dass Kate irgendwie darin verstrickt war und in höchster Gefahr schwebte.