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3

Die schmalen Stufen wanden sich in undurchdringliche Finsternis hinauf, und der Wind heulte durch die Schießscharten. Der alte Turm schien nicht nur räumlich weit vom neuen Flügel entfernt zu sein, ihm fehlte auch die Wärme von Menschen.

Mit bang schlagendem Herzen schlich Kate sich weiter voran und schützte die Kerzenflamme mit einer Hand vor der Zugluft. Auch versuchte sie, nicht an die Geistergeschichten zu denken, die Lance St. Leger ihr gern erzählte. Gänsehautgeschichten darüber, wie er Lord Prospero in diesem Turm begegnet war - wie der alte Zauberer unter Blitz und Donner erschienen war - wie seine Dämonenaugen gefunkelt hatten ... Natürlich hatte Lance sich das alles nur ausgedacht, um ihr einen Schrecken einzujagen. Wenn dagegen Val ihr solche Geschichten berichtet hätte, hätte Kate ihm sicher alles geglaubt. Ihr Held log nämlich nie; und er hatte ihr versichert, noch nie einem Gespenst begegnet zu sein. Val ... Seine dunklen Augen und sein trauriges Lächeln erschienen vor ihrem geistigen Auge und suchten sie schlimmer heim, als ein Geist das jemals vermocht hätte. Und so lähmte nicht die Furcht vor einem lange toten Zauberer ihre Schritte, sondern das schlechte Gewissen gegenüber einem Sterblichen, der noch lebte.

Die junge Frau hatte plötzlich das Gefühl, ihn und seine ganze Familie zu hintergehen. Alle St. Legers hatten sich, jeder auf seine Weise, ihr gegenüber als herzlich und freundlich erwiesen. Und wie wollte sie ihnen diese Güte entgelten? Indem sie ihnen die uralten Geheimnisse stehlen, die Tradition des Brautsuchers überlisten und die Schwarzen Künste gegen den Mann einsetzen würde, der sich immer als ihr treuester Freund erwiesen hatte. Aber blieb ihr denn eine Wahl? Wollte sie zur alten, versponnenen Jungfer werden wie ihre Adoptivmutter Effie? Sollte sie danebenstehen und einfach zuschauen, wie Valentine sich der Einsamkeit hingab, wie er sich opferte, um dieser schrecklichen Sage und seinen sonderbaren Fähigkeiten gerecht zu werden?

Wenn es je einen Mann gegeben hatte, der eine Frau brauchte, die ihm in Liebe zugetan war und nach ihm sah, dann Valentine St. Leger. Vielleicht würde sie ihm nicht die perfekte Ehefrau sein und sicher auch nicht so vollkommen wie ein auserwählte Braut, aber sie wäre immer noch besser für ihn als überhaupt keine Gefährtin. Mit neu gefundener Entschlossenheit lief sie weiter und achtete nur darauf, nicht auf den im Laufe von Jahrhunderten ausgetretenen Stufen auszugleiten. Die Wendeltreppe schien überhaupt kein Ende nehmen zu wollen. Gerade als sie verzweifeln wollte, gelangte sie unvermittelt vor die Turmkammer ...

Trotz Vals Versicherungen, hier gäbe es keine Gespenster, erstarrte Kate, schloss die Augen und musste mehrmals tief durchatmen, um sich zu wappnen ... Wogegen eigentlich? Einen plötzlichen Blitz? Ein grässlich verunstaltetes Koboldgesicht, das unvermittelt aus dem Dunkel hervortrat? Oder gegen einen toten Zauberer, der mit Knochenfingern nach ihr griff?

Nachdem einige Sekunden vergangen waren, ohne dass sich irgendetwas ereignet hatte, wagte Kate es, die Kerze hochzuhalten und sich umzusehen. Sie fühlte sich in ein anderes Jahrhundert versetzt. Der schwache Kerzenschein wanderte über ein gewaltiges Bett mit Brokatvorhängen. In die Pfosten hatte man alte keltische Schriftzeichen geschnitzt, die genauso geheimnisvoll und unverständlich wirkten wie die Ansammlung von Flaschen und Gefäßen auf einem Regal nicht weit davon. Kate nahm staunend einen kleinen Schreibtisch, eine schwere Truhe aus Eichenholz und ein Buchregal wahr, in dem sich dickleibige Bände aneinander drängten. Das alles wirkte gut erhalten und nicht so, als sei es viele hundert Jahre alt.

Eigentlich hatte sie hier Spinnweben und dicke Staubschichten erwartet. Aber alles wirkte peinlich sauber und poliert. Sogar das Bett war aufgeschlagen, so als würde sein Besitzer, der vor fünfhundert Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, jeden Moment zurückkehren.

Ein Gedanke, bei dem sie fröstelte. Die junge Frau verdrängte ihn rasch und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das, was sie hier gefunden hatte: Prosperos geheimen Wissensschatz, seine Zaubersprüche. Kate trat entschlossen vor das Buchregal und kniete sich davor hin. An ihr wunderschönes Abendkleid dachte sie nicht. Sie stellte die Kerze neben sich ab und nahm sich ein Buch nach dem anderen vor.

Handgeschriebene Texte, die aus Zeiten stammten, als der Buchdruck noch nicht erfunden war, und zusammengesammelt aus aller Herren Länder. Kein einziges Manuskript war in Englisch abgefasst.

Das konnte Kate jedoch nicht abschrecken. Valentine hatte sich immer mit Fremdsprachen befasst, und diese Begeisterung teilte er seit vielen Jahren mit Kate. Dank seines hervorragenden Unterrichts sprach die junge Frau fließend Französisch und Spanisch, kam mit Latein und Altgriechisch gut zurecht und verstand sogar etwas Italienisch, Deutsch und Gälisch.

Aber jede Übersetzung nahm Zeit in Anspruch, und sie befürchtete, dass ihr davon nicht allzu viel blieb. Mindestens eine Stunde musste bereits vergangen sein, seit sie Val davongelaufen war. Er musste sich bereits die größten Sorgen machen und hatte vermutlich das ganze Gesinde in die Nacht hinausgeschickt, um nach Kate zu suchen.

Da blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich den vielversprechendsten Text auszusuchen und mitzunehmen. Sie wischte sich die feuchten Hände am Umhang ab und suchte noch einmal die Buchreihen ab. Ein Werk stach ihr besonders ins Auge, ein schmales Bändchen von so hohem Alter, dass es bei der leisesten Berührung zu Staub zu zerfallen drohte.

Sie zog das Buch vorsichtig heraus. Kein Autor oder Titel zierte das knarzende Leder des Einbands - dafür stieg ein Drache aus einer Lampe des Wissens, und darunter befand sich ein eingravierter lateinischer Merkspruch.

»Derjenige, welcher ... große Macht ... besitzt, muss diese ... weise gebrauchen«, übersetzte Kate leise und ergriffen. Diese Worte hatte sie doch schon einmal irgendwo gehört.

Ja, das Familienmotto der St. Legers, geprägt von dem Stammvater, der am ehesten Anlass hatte, die Wahrheit hinter diesem Sinnspruch zu kennen. Bei diesem Bändchen musste es sich um Prosperos Tage-oder Notizbuch handeln, dessen Seiten er mit eigener Hand gefüllt hatte.

Die junge Frau bebte vor Aufregung. Sie wähnte sich im Besitz der Zaubersprüche des alten Magiers. Mit zitternden Fingern schlug sie das Werk auf... »Stellt das sofort wieder zurück!«

Die Worte drangen wie ein eisiger Hauch an ihren Nacken, und ein frostiger Schauer lief ihr über den Rücken. Kate stieß einen spitzen Schrei aus und klappte das Buch wieder zu.

Dann spähte sie vorsichtig hierhin und dorthin, konnte aber niemanden in der Kammer entdecken, nur Schatten, die sich in ihrer überhitzten Phantasie zu allem Möglichen formten ...

Kate schnaubte und konnte es nicht fassen, wie schreckhaft sie war.

»Du Angsthase!,« schalt sie sich laut. Dennoch würde sie das Bändchen jetzt einstecken und damit verschwinden. Sie nahm das Buch und die Kerze und erhob sich.

»Seid Ihr schwerhörig? Ich habe gesagt, Ihr sollt das zurückstellen!«

»Oh!«, entfuhr es der jungen Frau. Das hatte sie sich nun wirklich nicht eingebildet, die Stimme war wie ein Henkerbeil herabgesaust. In ihrem Schrecken fiel Kate auf die Knie und ließ Buch und Kerze fallen. Der Halter rollte davon, und dabei erlosch die Flamme. Die junge Frau fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Nur durch die Schießscharten drang ein wenig Mondschein herein.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und für einen Moment wagte sie es nicht einmal, zu atmen.

Ein rauer Wind fegte durch den Raum, ließ die Buchseiten flattern und entzündete alle Fackeln an den Wänden in einem wahren Funkenregen.

Kate kreischte, riss das Bändchen an sich und schützte damit ihre Augen vor der plötzlichen blendenden Helligkeit. Eine halbe Ewigkeit verging, ehe sie sich getraute, das Büchlein wieder sinken zu lassen. Das Gespenst stand unmittelbar vor ihr und ragte turmhoch über ihr auf. Prospero schien die ganze Kammer auszufüllen. Er trug ein schwarzes Hemd, golddurchwirkt, und auf den Schultern einen scharlachroten Umhang, der den idealen Rahmen für seine wehende dunkle Haarmähne bot, so schwarz wie der Bart und der sorgfältig getrimmte Schnauzbart.

So sah doch kein Dämon aus. Nein, dieses Gespenst hatte eine Hakennase, aristokratische Wangenknochen und sinnliche Lippen. Richtig, er ähnelte frappierend dem Portrait, das schon so lange in der Großen Halle hing. »Pro-Prospero?«, krächzte sie, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte.

»Da seid Ihr mir um einiges voraus, denn ich kenne Euch nicht.« Der Urahn sah auf sie hinab. Bei näherem Betrachten wirkten seine Augen irgendwie exotisch, und ihrem Blick konnte man kaum widerstehen. Prospero streckte eine Hand aus, die einfach aus seinem weiten Ärmel zu wachsen schien. Für ein Gespenst besaß er eine auffällig bronzebraune Haut. Seine Finger wirkten so lang und elegant, dass Kate sich schließlich ein Herz fasste und ihre Hand ausstreckte, um die seine zu ergreifen. Fast hatte sie schon vergessen, dass es sich bei ihrem Gegenüber um ein Gespenst handelte, als ihre rechte Hand durch seine hindurchfuhr, was ein eigenartiges Gefühl bei ihr auslöste, so als sei sie von einem frostkalten Blitz getroffen worden ...

Kate riss ihre Hand rasch zurück. Offensichtlich hatte der Urahn ihr nicht wie ein Gentleman begegnen und ihr beim Aufstehen helfen wollen.

Seine Hand blieb ausgestreckt, und er verlangte in eindeutig befehlendem Tonfall: »Mein Buch, wenn das nicht zu viele Umstände bereitet.«

Aber die junge Frau presste das Bändchen an sich und schüttelte entschieden den Kopf. Sie wusste nicht, wie sie es angestellt hatte, diesen Geist aus seinem Grab zu rufen, aber das musste etwas mit diesem Buch zu tun haben. Und wenn es so wertvoll war, wollte sie es nicht ohne Gegenleistung zurückgeben.

Doch der Wettstreit zwischen ihnen währte nicht sehr lange. Mit einer beiläufigen Handbewegung sorgte er dafür, dass sich das Buch aus ihrem Griff löste. Mit einem leisen Schrei verfolgte Kate, wie das Bändchen zu seinem rechtmäßigen Besitzer schwebte. Prospero legte das Werk auf den Schreibtisch, wo Kate es nicht ohne weiteres erreichen konnte, dann wandte er sich wieder ihr zu. In seinem Gesicht brannten keine Höllenfeuer, wie Lance ihr weiszumachen versucht hatte, aber seinem gestrengen Blick war durchaus zuzutrauen, einen ausgewachsenen Mann in Asche zu verwandeln - und erst recht ein schlankes Mädchen.

Aber Kate hatte noch nie vor jemandem gekuscht, nicht einmal vor der alten Crockett, wenn sie mit der Peitsche kam. Warum also jetzt damit anfangen. Das Herz schlug ihr zwar bis zum Hals, aber sie stand auf und erklärte dem Urahn mit allem Trotz, den sie aufbieten konnte: »Ich habe keine Angst vor Euch, kein bisschen.« »Tatsächlich?« Er zog eine Augenbraue hoch, betrachtete sie eingehender und schritt langsam auf sie zu. Die junge Frau wich ein Stück vor ihm zurück. »Mir macht es nicht das Geringste aus«, bluffte sie, »dass Ihr ein schrecklicher Zauberer seid. Denn ich bin selbst so eine Art Hexe.«

»Eine Hexe, die sich bei mir Zaubersprüche ausborgen kommt?«, spottete er.

»Na, Ihr braucht das Bändchen ja nicht so dringend. Schließlich sind es Jahre her, seit Lance Euch hier zum letzten Mal gesehen hat.«

Prospero kam ihr immer noch näher und zwang sie, sich so weit zurückzuziehen, bis nur noch die Wand hinter ihr war. Und dabei blieb ihm auch noch Zeit, spöttisch auf ihre Worte zu reagieren. »Tatsächlich? Ich hätte geschworen, es seien bereits Jahrzehnte.«

Etwas Nachdenkliches, fast Wehmütiges tauchte kurz in seinem Blick auf, verschwand aber genauso rasch wieder.

Dann betrachtete er Kate von neuem streng.

»Jetzt, wo Ihr es sagt, fällt mir ein, Euch tatsächlich schon einmal gesehen zu haben. Doch ich glaube, das war nicht nackt tanzend und her umspringend auf dem Blocksberg.«

Sein Sarkasmus traf sie wie ein Hieb.

»Also gut«, murmelte die junge Frau schließlich, »ich bin keine Hexe. Ich heiße Kate Fitzleger, und ich wohne unten im Dorf.«

»Die kleine Katherine Fitzleger? Der junge Wildfang, der hier in Männerhosen herumstolzierte? Und in der Großen Halle mit den Schwertern gespielt hat?« »Ja«, bestätigte sie und fühlte sich gar nicht wohl dabei, dass er so viel über sie wusste; und das umso mehr, da sie vor dieser Nacht gar nicht richtig von seiner Existenz überzeugt gewesen war.

Nun trat der Geist einen Schritt zurück und betrachtete sie mit einem so lüsternen Blick von Kopf bis Fuß, dass ihr die Röte in die Wangen schoss.

»Ihr seid ein Stück gewachsen«, bemerkte der Zauberer. Kate ärgerte sich, dass sie binnen weniger Minuten zum zweiten Mal errötete, wo ihr das doch sonst in zwei Jahren kaum ein Mal widerfuhr. Sie hatte plötzlich zu viele Hände, zupfte und zog an ihrem Umhang und wünschte sich tief im Innern, dass Val sie einmal so ansähe. Eigentlich war sie aber davon überzeugt, dass sie ihren Liebsten irgendwann so weit bringen, ihn dazu bewegen könnte, sich so sehr in sie zu verlieben, dass er die Familientraditionen, die Sag«; und den Fluch vollkommen vergaß ...

Wenn sie nur einen Blick in dieses Bändchen dort hinten werfen dürfte.

Prospero schien ihre Gedanken zu lesen, denn er stellte sich zwischen sie und den Schreibtisch. »Dann darf ich also vermuten, mein Fräulein, dass Lance St. Leger Euch von seinen Begegnungen mit mir berichtet hat. Ihr scheint mir eine ziemliche Närrin zu sein, Euch dennoch hierher in den Turm zu wagen.«

»Ach, ich habe ihm nicht geglaubt und dachte, er erfinde so was nur, um mich zu erschrecken. Zu meinem Glück bekomme ich aber nicht so leicht Angst.« »Das ist mir nicht verborgen geblieben«, grinste der Geist. »Und Ihr seid auch nicht halb so abstoßend, wie Lance Euch beschrieben hat.«

»Abstoßend? Bei St. Georg! Ich werde diesen Knaben lehren müssen, dass man mich zu meiner Zeit für einen der bestaussehendsten Männer gehalten hat!« Und eitel sind wir kein bisschen, dachte Kate, als Prospero jetzt auch noch seine Schnurrbartenden glatt strich. Ein recht menschlicher Zug, der ihr diesen großmächtigen Zauberer nicht mehr ganz so großmächtig erscheinen ließ. Und im gleichen Maß nahm ihre Verkrampfung ab.

»Ich glaube nicht, dass Lance Euch damit beleidigen wollte. Er beschrieb Euch nur so, um mich aufzuziehen. Darin ist er nämlich sehr gut.«

»Ganz recht, ich erinnere mich«, bemerkte der Urahn und schwieg dann nachdenklich, um sich nach einem Moment zu erkundigen: »Und wie geht es diesem Tunichtgut und seiner reizenden Braut?«

»Lance und Rosalind geht es sehr gut, und sie sind so verliebt wie eh und je. Sie haben einen mittlerweile dreijährigen Sohn, der auf den Namen John getauft worden ist. Aber jeder nennt ihn Jack.«

»Wie erschütternd einfallslos«, brummte Prospero, aber Kate bemerkte, wie seine Züge weicher wurden. Er kehrte ihr den Rücken zu und streifte durch seine Kammer, schob die Vorhänge seines Betts beiseite und öffnete den Deckel der Truhe ... so als suche er nach etwas, das ihm noch von früher bekannt war.

Genau das, was jeder Normalsterbliche auch getan hätte, wenn er jahrelang, äh, jahrzehntelang fort gewesen wäre. Nur hätte Kate niemals in Prospero einen Normalsterblichen gesehen, selbst dann nicht, wenn er noch am Leben gewesen wäre.

Etwas Geheimnisvolles ging von ihm aus, und jede seiner Bewegungen hatte etwas von der Arroganz eines großen Feldherrn. Eigentlich hatte die junge Frau überhaupt keine Angst mehr vor Prospero. Sie betrachtete ihn mit Staunen und Ergriffenheit, aber nicht mit Furcht. Und sie fragte sich, wo er all die vergangenen Jahre oder Jahrzehnte verbracht haben mochte. In einer Art Vorhölle? In der Unterwelt?

Irgendetwas Besonderes musste in dem Bändchen stehen, wenn er sofort herbeigestürmt kam. Ach, könnte sie doch nur einen klitzekleinen Blick hineinwerfen ...

Während der Zauberer den Inhalt der Truhe in Augenschein nahm, stellte er ihr eine Frage nach der anderen über die restlichen Familienmitglieder. Kate gab ihm brav Antwort, schlich sich dabei aber Zoll um Zoll von der Wand fort und auf den Schreibtisch zu. »... Nein, Dr. Marius St. Leger ist letzten Sommer aus dem Dorf fortgezogen. Er hat einen Lehrauftrag an der Medizinischen Fakultät von Edinburgh angenommen ... Von Lord Anatoles Töchtern sind Leonie und Phoebe unter der Haube. Seine Jüngste, Mariah, heiratet in Bälde einen schottischen Gutsherrn. Als Einziger ist nur Valentine noch unverbandelt.«

Aber nicht mehr lange, schwor sie sich, richtete den Blick auf den Geist und griff mit einer Hand nach dem Buch. Prospero bewegte sich so rasch, dass ihre Sinne nicht folgen konnten. Kate vermochte noch nicht einmal zu sagen, ob er. herbeigelaufen oder -geflogen gekommen war. Eben noch beugte der Zauberer sich über die Truhe, und im nächsten tauchte er zwischen ihr und dem Schreibtisch auf und legte eine Hand auf seinen kostbaren Schatz.

Verdammter Kerl! Die junge Frau kochte vor Wut. Er war doch nur ein Geist. Wenn sie einfach durch ihn hindurch nach dem Buch griffe, was könnte er schon dagegen tun? Ihre Finger schlössen sich um das Buch, aber für eine Hand, die nicht körperlich war, leisteten Prosperos Finger erstaunlichen Widerstand. Auch schien das Bändchen plötzlich mindestens eine Tonne zu wiegen. Doch der Magier schien sich nicht über ihre Frechheit zu ärgern, sondern eher zu belustigen. Für eine Weile belächelte er Kates fruchtlose Bemühungen, dann wurde ihm das wohl zu langweilig.

Er vollführte mit der anderen Hand eine lässige Geste, und die junge Frau wurde plötzlich wie von zwei unsichtbaren Händen hochgehoben.

Während sie noch einen leisen Schrei von sich gab, flog sie schon rückwärts zum Bett. Der kurze Flug hinterließ ein Schwindelgefühl in ihr, dennoch wollte sie gleich wieder aufspringen.

Ein stahlharter Blick von Prospero ließ sie jedoch davon Abstand nehmen. Dafür warf sie ihm einen wütenden Blick zurück.

»Verzeiht, Mylady, aber Ihr seid die dickköpfigste Frau, welche mir je untergekommen ist. Was hofft Ihr denn in dem vermaledeiten Buch zu finden, dass Ihr dafür jedes Wagnis auf Euch nehmen wollt?« »Einen Bannspruch. Einen kleinen Zauber.« »Welcher Art?«

Sie getraute sich nicht so recht, ihn anzusehen, weil er ja doch nur wieder Scherz mit ihr treiben würde. Aber irgendwann musste es ja einmal heraus: »Einen Liebeszauber.«

Der Urahn lachte nicht, sah sie nur überrascht an: »Ich käme nie auf den Gedanken, dass eine junge Dame von Euren, äh, Vorzügen so etwas nötig hätte.« »Dann lernt Ihr eben jetzt etwas dazu«, entgegnete sie eher traurig als patzig. »Alles andere habe ich schon ausprobiert, sogar um seine Hand angehalten.« »Ihr habt Eurem Herzallerliebsten einen Antrag gemacht?« »Ja ... und er hat abgelehnt.«

»Warum habt Ihr nicht eine Pistole auf ihn gerichtet und ihn gezwungen, mit Euch vor den Altar zu treten?« »Das hätte ich versuchen können, aber vermutlich hätte er sich lieber erschießen lassen.« Prospero strich sich über den Bart und wog ihre Worte ab. Aber ein Funkeln blitzte in seinen Augenwinkeln. »Bei allern, was recht ist, seit meiner Zeit hat sich auf dieser schönen Welt doch einiges geändert. Dennoch meine ich, das war nicht unbedingt der klügste Weg, einen jungen Mann für sich zu vereinnahmen.«

»Dann helft mir!«, rief Kate. »Warum schlagt Ihr nicht einfach Euer Buch auf und nennt mir einen Zauber, mit dem ich ihn gewinnen kann!«

»Weil es stets große Gefahren in sich birgt, in Herzensangelegenheiten Magie einzusetzen.« »Aber das habt Ihr doch auch getan. Legendär sind die Geschichten, wie viele Schöne Ihr mit Hilfe der schwarzen Magie verführt habt!«

Drei strenge Falten bildeten sich auf der Stirn des Geistes. »Ein so junges Ding wie Ihr sollte darüber aber noch nicht Bescheid wissen.«

»Dann müsst Ihr eben diskreter vorgehen!«, schoss Kate zurück und bereute das im nächsten Moment. Mit diesem Tonfall vergraulte sie ihn am Ende noch. Dabei schien der Zauberer trotz aller Belustigung ihre Sache mit Wohlwollen zu betrachten.

»Bitte, helft mir. Ihr seid doch ein so großmächtiger Zauberer, dem so etwas kaum Mühe bereiten dürfte«, verlegte Kate sich jetzt auf schamlose Schmeicheleien und warf ihm auch noch durch die Wimpern einen schmachtenden Blick zu.

Prospero zeigte sich aber eher amüsiert. »Und wer ist denn nun Euer Herzallerliebster?« »Ja, nun -«, begann sie, und plötzlich fiel es ihr ungeheuer schwer, Prospero zu erklären, dass sie einen seiner Nachfahren verzaubern wollte. Vermutlich würde er dann wirklich böse werden und sie die Treppe hinunterwerfen. »Äh, Ihr kennt ihn sicher nicht, er ist ein Gentleman hier aus Cornwall.«

»Aus gutem Hause?«

»Unbedingt«, antwortete Kate und ließ sich nichts anmerken. »Mindestens so gut wie das Eure.« »Vermögend?«

»Er hat sein Auskommen, aber ich liebe ihn nicht wegen des Geldes.«

»Dann wegen seines Aussehens?« »Auch«, sagte sie deutlich weicher, »aber noch mehr, weil er lieb, freundlich, klug und großzügig ist. Ein perfekter Gentleman, ein vornehmer Mensch, ein -« »Genug, Erbarmen!« Prospero verdrehte die Augen. »Erspart mir die vollständige Liste seiner liebenswürdigen Eigenschaften. Belassen wir es dabei, dass es sich bei ihm um eine gute Partie handelt, ja?«

»Dann helft Ihr mir also?« Sie verließ das Bett und ging auf ihn zu. Dabei legte sie alle Masken ab, ließ ihn in ihr Herz schauen und flüsterte: »Bitte ...« Der Geist betrachtete sie lange und mit undurchdringlicher Miene. Kate hatte nicht die geringste Ahnung, was hinter seiner vornehmen Stirn vor sich ging. Doch sie wagte zu hoffen ... bis er schließlich »Nein« sagte. »Aber...«

Er brachte sie mit einer erhobenen Hand zum Schweigen. »Ich habe es mir zur festen Regel gemacht, mich nicht in menschliche Angelegenheiten einzumischen.« »Das ist aber eine blöde Regel! Und ich verstehe auch nicht, was -«

»Doch will ich Euch einen Ratschlag geben.«

»Na, da bin ich aber dankbar!«, erwiderte sie verächtlich,

ehe sie fragte: »Und welchen?«

»Ihr bedürft keiner Zauberei, um diesen Mann zu erobern. Dazu müsst Ihr nicht mehr tun als Euer Haar zu entwirren und Euren Gang zu veredeln.«

Sie brauste sofort auf: »Was stimmt denn an meinem Gang nicht.«

»Oh, für einen Hauptmann, der seine Soldaten in die Schlacht führt, ist er ganz in Ordnung.« »Hört zu, ich laufe so, um am besten von einem Ort zum anderen zu kommen. Ich habe gewiss nicht vor, wie eine Zimperliese herumzutrippeln.«

»Das verlangt ja auch keiner von Euch. Aber versucht doch mal, Euch etwas eleganter zu bewegen. Tretet auf wie die Queen.«

Kate presste die Lippen zusammen, ehe es aus ihr herausplatzte: »Großartig! Dann zeigt mir doch, wie das geht!« »Ich? Ich habe keine Zeit, Bauerntrampel in Haltungsfragen zu beraten.«

»Wenn Ihr überhaupt etwas habt, dann Zeit!« Sein Blick verdüsterte sich so sehr, dass Kate befürchtete, den Bogen endgültig überspannt zu haben. Doch im nächsten Moment entspannte er sich sichtlich und lachte schallend.

»Da habt Ihr absolut Recht, meine Liebe. Mir steht Zeit in Hülle und Fülle zur Verfügung, sogar die ganze Ewigkeit, hol mich der Teufel.« Ein trauriger Zug trat in seinen Blick. »Der Himmel nimmt mich ja sowieso nicht.« Doch schon hatte er seine belustigte Miene wieder aufgesetzt. Er winkte ihr zu: »Also gut, Mädchen, kommt her.« Kate starrte ihn fassungslos an. Sie hatte das eben nur aus Wut ausgestoßen. Wie sollte sie auch ahnen, dass er ihre zornigen Worte für bare Münze nehmen würde? Als sie seiner Aufforderung nicht rasch genug folgte, fühlte sie sich plötzlich von eisigen Händen angeschoben. Während sie solcherart auf ihn zu ging, gab er ihr Anweisungen.

»Rücken gerade halten ... Kopf hoch ... höher ... Und

nicht so Riesenschritte ... Denkt immer daran, dass Ihr eine Dame seid und kein Rekrut beim Exerzieren.« Kate verkrampfte sich, um sich gegen diese Behandlung zu wehren. Aber während sie die ganze Kammer durchschritt, kam ihr plötzlich ein ebenso verzweifelter wie hervorragender Einfall.

Als er sie wieder anweisen wollte, den Kopf höher zu halten, rief das Mädchen: »Wartet, ich weiß, was mir helfen könnte!«

Prospero gönnte ihr eine Pause, und sie lief zum Buchregal. Kate hoffte sehr, dass er ihr die Aufregung nicht anmerkte, zog das Buch mit den keltischen Zeichen heraus und legte es sich auf den Kopf. Der Geist nickte anerkennend.

Schon schwebte sie durch den Raum und lächelte, während ihr Herz schneller klopfte.

»So ist es schon viel besser«, bemerkte der Zauberer. »Ihr besitzt eine natürliche Anmut, mein Fräulein. Man könnte Euch für eine geborene Herzogin halten.« Kate verzog das Gesicht. Von wegen Herzogin. Wenn sie an die Umstände ihrer Geburt dachte, hätte sie viel eher der Galgen erwartet. Aber dann gefiel ihr die Vorstellung, eine Herzogin zu sein. Sie drehte sich um und stolzierte so wie vorhin Prospero über den Steinboden, was ihn zum Lachen brachte.

Die junge Frau musste auch lächeln und hätte darüber fast das Buch auf ihrem Kopf verloren. Sie hatte solchen Spaß, dass sie beinahe vergessen hätte, weswegen sie hergekommen war. Unvermittelt blieb sie stehen und nahm das Buch vom Kopf.

»Was liegt denn an?«, fragte der Zauberer. »Es lief doch gerade ganz gut. Warum habt Ihr aufgehört?«

Ohne ihn anzusehen, antwortete sie: »Es ist schon recht spät geworden. Effie, meine Mama, macht sich wahrscheinlich große Sorgen. Ich sollte jetzt gehen.« Sie rechnete damit, dass der große Zauberer enttäuscht sein würde. Aber er zuckte nur die Schultern und sagte: »Dann macht Euch mal auf den Weg.« Sie nahm ihren Umhang, verabschiedete sich mit einem Knicks und sagte: »Seid bedankt für den Unterricht.« »Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, Mylady«, entgegnete er freundlich mit einer prächtigen Verbeugung. »Kommt doch wieder, dann arbeiten wir an Eurem Hofknicks.«

Kate nickte und bewegte sich seitwärts zum Ausgang. Sie rechnete damit, dass sich seine Miene jeden Moment verfinstern würde. Aber das geschah nicht, und sie schlüpfte hinaus auf die Treppe - und rannte um ihr Leben. Die Kerze hatte sie liegen lassen, und auf der Treppe war es stockfinster. Irgendwie gelang es ihr, aufrecht nach unten zu kommen. Als sie die Große Halle erreichte, klopfte ihr Herz wie rasend.

Vorsichtig blieb die junge Frau stehen und lauschte. Noch immer nichts. Kein Wutschrei. Kein Blitz, den er ihr hinterherschleuderte. Prospero hatte noch nichts gemerkt! Zitternd zog sie das Buch heraus, das sie sich unter den Umhang geschoben hatte, und strich mit den Fingern über den eingravierten Drachen.

Während ihrer Zeit in London, als sie hatte stehlen müssen, um nicht zu verhungern, hatte sie sich zu einer Meisterdiebin entwickelt und sogar der alten Crockett das eine oder andere entwendet. Aber niemals hatte sie erwartet, eines Tages einen fünfhundert Jahre alten Zauberer übertölpeln zu können.

Ich bin gut, dachte Kate, bei Gott, ich bin immer noch unheimlich gut. Fast hätte sie ein Triumphgeheul ausgestoßen, das sie sich dann doch verkniff. Außerdem ließ der alte Prospero sich bestimmt nicht lange täuschen. Wenn sie nur genug Zeit erhielt, um bis dahin den richtigen Zauberspruch zu finden und auswendig zu lernen. Bestens gelaunt presste sie das Bändchen an sich und rannte in die Dunkelheit davon.

Prospero betrachtete das Buch, das anstelle seines Bändchens auf dem Schreibtisch lag. Ein Werk mit keltischen Sagen und Geschichten. Er lächelte belustigt. Was für eine kleine Schlange! So ein wagemutiges Mädchen war ihm sein Lebtag noch nicht untergekommen. Glaubte sie wirklich, der große Prospero ließe sich so leicht hinters Licht führen?

Aber sie hatte geschickte Hände und hatte die Bücher raffiniert ausgetauscht. Der Zauberer kannte sich mit so etwas aus, hatte er sich zu seiner Zeit doch auch verschiedener Taschenspielertricks bedient.

Allerdings galt es nun zu bedenken, wie weit er Mistress Kate gewähren lassen durfte und wann er ihr Einhalt gebieten musste ... Und welchen Zauber sollte er dazu einsetzen? Einen Blitz, einen plötzlichen eisigen Wind oder einen Feuer speienden Drachen? Ja, das sollte genügen, um der unbezähmbaren Kate Vernunft und einiges an Manieren einzubläuen.

Er wollte schon die Hände zum Zauberspruch heben, hielt dann aber inne und überdachte alles noch einmal. Warum ihr nicht das Buch für eine Weile überlassen? Nun gut, einige seiner gefährlichsten Zaubersprüche standen dort niedergeschrieben, doch in einer längst ausgestorbenen Schrift und Sprache, die heute kein Sterblicher mehr verstehen oder auch nur entziffern konnte.

Der Urahn grinste in sich hinein, als er sich Kates Verdruss vorstellte, wenn sie hoffnungsfroh das Buch öffnete und dann feststellen musste, dass sie kein einziges Wort davon lesen konnte ... Vermutlich würde die junge Dame in den Turm zurückstürmen und ihm sein Büchlein wutentbrannt an den Kopf werfen.

Eigentlich hätte er auch nichts gegen ihre Rückkehr, wie er sich zu seiner Überraschung eingestehen musste. Kate erinnerte ihn an vieles, das er längst vergessen hatte ... daran, wie es war, jung und voller Leidenschaft zu sein. Die Erinnerung löste Schmerzen in ihm aus, und er verscheuchte sie rasch. Während Prospero die Fackeln löschte und in die Finsternis entschwand, wusste er schon nicht mehr, was ihn überhaupt in die Kammer gezogen hatte. Gewiss nicht die Nöte dieser liebeskranken jungen Frau. Auch hatte es ihm nie gefallen, in Castle Leger herumzuspuken. Dieses Gemäuer barg zu viele Erinnerungen an die Narreteien der Zeit, als er noch gelebt hatte. Zu oft suchte ihn diese verwünschte Burg heim. Doch im Lauf der Jahrhunderte hatte es ihn immer wieder einmal, auch gegen seinen Willen, dorthin gezogen - für gewöhnlich dann, wenn sich Unheil über seinen Nachfahren zusammenbraute.

Zum Beispiel damals, im englischen Bürgerkrieg, als die Truppen Cromwells die Burg hatten zerstören wollen. Oder im achtzehnten Jahrhundert, als Tyrus Mortmain es sich in seinen verrückten Kopf gesetzt hatte, alle St. Legers umzubringen...

Oder als Anatole St. Leger in viel zu zartem Alter allein zurückgelassen worden war. Oder erst kürzlich, als Lance St. Leger es nicht verhindert hatte, dass der wertvollste Familienbesitz, das Schwert mit dem magischen Kristall, das Prospero selbst geschmiedet hatte, gestohlen wurde.

Was mochte jetzt schon wieder anstehen? Sein Blick wanderte über die Steine der Turmkammer, als enthielten sie die Antwort.

Prospero schwebte durch die Mauern hinaus auf den Wehrgang und betrachtete die Nachtlandschaft. Selbst nach so vielen Jahrhunderten löste dieser raue Landstrich immer noch Gefühle in ihm aus.

Doch auch die Brandung, der felsige Strand und die Klippen konnten ihm keine Antwort geben. Seine Gabe der Vorahnung schien eingerostet zu sein. Vielleicht konnten auch Geister alt werden.

Aber dann spürte er es. Ein leichtes Ziehen in der Nacht, nicht mehr. Irgendwo dort draußen war etwas aufgetaucht, das Burg Leger und seine Familie bedrohte. Etwas sehr, sehr Böses.