9
Valentine stieg langsam aus dem Zweispänner und stützte sich schwer auf den Gehstock. Einer der Stallknechte von Burg Leger eilte herbei und kümmerte sich um Vulkan. Das alte Ross war es nicht gewöhnt, angebunden an einen Wagen hinterherzulaufen. Aber Valentine hatte sich heute Morgen nicht in der Lage gesehen, selbst bei seinem alten Reittier aufzusitzen.
Was für ein trauriger Unterschied zum gestrigen Tag, als er auf dem feurigen Hengst über den Strand galoppiert war. Er würde Sturm wohl nie wieder besteigen können. Das Wunder hatte sein Ende gefunden, die Magie war vorüber. In den langen Nachtstunden hatte er sich das klar gemacht und sich damit abgefunden. Nur eine Schwierigkeit blieb ihm noch: Wie sollte er das Kate beibringen?
Aber warum denn? So muss es nicht sein, du kannst alle Wunder zurückhaben. Leg nur die Kette mit dem Kristallsplitter wieder an ...
Die Stimme redete mit viel Überzeugungskraft auf ihn ein. Der Splitter ruhte in seiner Westentasche - dort, wo sich eigentlich die Uhr befinden sollte. Ja, es wäre wirklich ganz einfach.
Nein! Der Arzt zog die Hand zurück, die sich schon auf halbem Weg zur Westentasche befunden hatte. Die ganze Nacht hindurch hatte der Splitter ihn zu locken versucht. Und jetzt schien er schon wieder damit zu beginnen ... Der Kristall konnte einen süchtig machen - fast so stark wie Opium. Je eher er ihn dem rechtmäßigen Besitzer, seinem Bruder Lance, zurückgab, desto besser. Valentine humpelte auf das neue Areal des Anwesens zu. Normalerweise hatte ihn dieser Anblick von fünfhundert Jahren Geschichte stets mit Stolz erfüllt. Aber heute bedrückte ihn die Historie dieses Ortes. Er eilte, so gut es ging, durch den Garten und entdeckte seine Mutter Madeline, die trotz der frühen Stunde bereits in den Blumenbeeten arbeitete.
Madeline St. Leger hatte noch nie zu den Frauen gehört, die den lieben langen Tag auf einem Diwan ruhten und alle Arbeiten dem Dienstpersonal überließen. Besonders um den Garten hatte sie sich immer selbst gekümmert.
Sie trug den gewohnten blauen Kittel und den Strohhut, den sie sich mit einem Schal am Kopf festgebunden hatte. Das flammende Rot ihres Haars war in den letzten Jahrzehnten verblasst, hatte aber nichts von seiner Ausstrahlung verloren.
Madelines Schönheit würde niemals vergehen, und ihre Augen strahlten immer noch mit ihrer eigenen Kraft. Als sie ihren Sohn kommen sah, richtete sie sich auf. »Valentine!«
Obwohl sein Bein das sofort mit Schmerzen quittierte, vollführte er eine höfische Verbeugung. So hielten er und Lance es schon seit der Kindheit, als sie Ritter der Tafelrunde gespielt hatten und natürlich allen Damen mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet waren. »Gott zum Gruße, Euer Hoheit!«
»Auch Euch, Sir Galahad.« Madeline ließ sich sofort auf das Spiel ein, nannte ihn bei seinem Ritternamen und grüßte ihn mit einem Hofknicks. Doch als Valentine ihre Hand an seine Lippen führen wollte, zog sie die rasch zurück und wischte sie sich an der Schürze ab. »O nein, mein Lieber, wie dein Vater sich auszudrücken beliebt, habe ich den ganzen Morgen im Dreck herumgewühlt.«
Doch dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Dabei betrachtete sie ihn genau. Eigentlich war sein Vater Anatole derjenige, der mit seinen besonderen St.-Leger-Gaben den Menschen ins Herz schauen konnte. Aber seine Mutter hatte einen verteufelt guten Blick und bemerkte oft genug einiges, das Val lieber für sich behalten hätte.
Er entzog sich ihren prüfenden Blicken, indem er ihren Korb hochhob. Auch das bestrafte sein Knie sofort. Verdammt, mit dem Bein wurde es immer schlimmer. Mit zusammengebissenen Zähnen reichte er Madeline den Korb. Ob sie das bemerkte oder nicht, sie war auf jeden Fall klug genug, keine Bemerkung darüber zu machen.
»Wie schön, dich wiederzusehen, Valentine. Dein Vater hat sich erst gestern beschwert, dass du überhaupt nicht mehr herkommst, weil du so weit fortgezogen bist.« Der Arzt seufzte. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und sein Bein schmerzte wie die Hölle. Da bedurfte es all seiner Kraft, geduldig zu bleiben: »So weit fort, Mutter? Aber ich bin doch nur ans andere Ende des Dorfes gezogen!«
»Nun, mein Lieber, du kennst doch deinen Vater.« »Ja. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er seine ganze Familie auf Burg Leger eingesperrt und wie ein grimmiger Drache bewacht. Deswegen ist er auch nach
Norden gereist, um nämlich Feuer auf Marius zu spucken, bis dieser hierher zurückkehrt.«
»Das könnte durchaus sein. Die beiden sind immer schon wie Brüder gewesen. Marius freut sich bestimmt, ihn wiederzusehen, auch wenn er faucht und Feuer spuckt.« Das Kichern erstarb auf ihren Lippen und machte einer sehnsuchtsvollen Miene Platz.
»Dein Vater ist erst einen Tag fort, und schon vermisse ich ihn fürchterlich.«
Valentine wusste, wie nahe die beiden sich auch noch nach einunddreißig Ehejahren standen. Sie lebten die Sage der St. Legers und hatten nur Augen füreinander. Der Weiseste aller neueren Brautsucher, Septimus Fitzleger, hatte hier wirklich eine hervorragende Wahl getroffen. Das Gleiche konnte man auch von Valentines Zwillingsbruder Lance und seiner Rosalind sagen. Oder von Vetter Caleb und dessen Braut. Und von den vielen weiteren glücklichen St. Legers...
Verstörende Gedanken befielen ihn, und er rieb sich die müden Augen.
»Valentine? Was ist mit dir, mein Lieber. Irgendetwas stimmt doch nicht.« Seine Mutter sah ihn besorgt an. »Nein, es ist nichts«, antwortete er etwas zu rasch und fügte hinzu: »Ich bin heute nur etwas müde und noch nicht richtig wach.«
Aber seine Gedanken nahmen eine so schwarze Färbung an, dass er selbst darüber erschreckte. Fast glaubte er, den Steinsplitter zu spüren, der ihn mit unterdrückter Wut erfüllte. Er musste das verdammte Ding so schnell wie möglich loswerden.
»Mama, weilt Lance heute auf der Burg?«
»Ja, er müsste in seinem Arbeitszimmer sein.«
»Fein, ich will nämlich etwas mit ihm bereden.« Er küsste seine Mutter auf die Stirn und humpelte dann eilig davon, ehe sie all die Fragen stellen konnte, die sich bereits hinter ihrer Stirn zusammenballten.
Madeline sah ihm lange hinterher. Für eine Mutter ist es nicht recht, ein Kind den anderen vorzuziehen. Und sie liebte ihren wilden Sohn Lance und ihre drei Töchter abgöttisch. Aber für den ruhigen Valentine hatte sie immer besonders viel übrig gehabt. Vielleicht, weil er schon seit frühester Jugend die Liebe zu den Büchern mit ihr geteilt hatte, vielleicht auch wegen seiner Sanftheit und seinem grenzenlosen Mitgefühl.
Sie beide hatten sich immer sehr nahe gestanden. Und heute hatte er sie zum ersten Mal angelogen.
Der Arzt reichte einem Diener seinen Mantel und begab sich zum Arbeitszimmer im hinteren Teil des Hauses. Heute fiel ihm das Laufen noch schwerer als gewöhnlich. Und mit jedem Schritt schien auch der Kristallsplitter an Gewicht zu gewinnen. Ist doch lachhaft, sagte er sich. Nur ein dummes Stück Gestein, und seine Phantasie spielte verrückt.
Doch als er die Tür erreichte, musste er erst einen Moment verschnaufen. Dann klopfte er matt an und erhielt keine Antwort. Leise öffnete Valentine und trat ein. Das Arbeitszimmer strahlte eine sehr männliche Atmosphäre aus. Eichenholztäfelung bedeckte die Wände, an denen Drucke mit Jagdszenen hingen. Sein Bruder hockte vornübergebeugt an seinem Schreibtisch, der sich am Ende des Raumes befand. Er hatte die Jacke abgelegt, die Hemdsärmel hochgekrempelt und einen entnervten Gesichtsausdruck. Vielleicht weil er sich mit einem Brief abplagen musste, was noch nie zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört hatte.
Früher war Lance ein ungestümer Bursche gewesen, und erst Ehe und Vaterschaft hatten ihn gezähmt. Das Lächeln, das so viele weibliche Herzen betört hatte, schenkte er heute ausschließlich seiner Frau Rosalind. Valentine bemerkte, dass sein Bruder sich in den letzten Jahren überhaupt nicht verändert zu haben schien. Der jüngere Zwillingsbruder spürte oft genug jedes Einzelne seiner mittlerweile zweiunddreißig Jahre. Aber Lance sah man dieses Alter gewiss nicht an. Das blasse Morgenlicht, das durch die Fenster einfiel, betonte seine breiten Schultern und kräftigen bloßen Arme.
Die beiden hatten das gleiche Haar, die gleiche Hakennase und die gleichen Augen. Aber darüber hinaus ähnelten sie sich wenig. Lance war der Ältere von ihnen und hatte an einem kalten dreizehnten Februar kurz vor Mitternacht das Licht der Welt erblickt. Valentine war wie immer seinem Bruder hinterhergelaufen und ihm erst in den frühen Morgenstunden gefolgt.
Der Arzt betastete die Umrisse des Splitters in seiner Westentasche.
Wenn Lance an jenem Tag in Spanien nicht so rücksichtslos gegen sich selbst gewesen wäre, hättest du niemals deine Fähigkeiten zu seiner Rettung einsetzen müssen. Dein Bruder hätte an deiner Stelle das lahme Bein verdient... Aber Lance hatte nie ein solches Opfer gewünscht. Valentine hatte das freiwillig und gern getan - und er würde es jederzeit wieder tun. Denn er liebte und bewunderte seinen Bruder.
Verstört darüber, so etwas überhaupt zu denken, klopfte er fester an.
Lance hob den Kopf und drehte sich um. Ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. »Val! Na, das ist ja mal eine gelungene Überraschung!«
Die Brüder gaben sich die Hand und klopften sich auf die Schulter. Der Arzt spürte, dass er seinen Bruder tatsächlich über alles liebte, aber es gab Tage wie den heutigen, da Lance ihm doch etwas zu stürmisch war. »Du bist der Mann, mit dem ich dringend reden muss«, begann Lance, und dann platzte es schon aus ihm heraus: »Herrgott, was hast du denn angestellt? Du siehst ja zum Fürchten aus!«
»Danke«, entgegnete Valentine. »Du hast dich auch gut gehalten.«
Er suchte sich einen freien Stuhl und ließ sich auf dem Kissen nieder.
»Verdammt, Val«, tadelte sein Bruder, »du bist wieder die ganze Nacht aufgeblieben, nicht wahr? Und hast bedenkenlos deine besonderen Fähigkeiten eingesetzt, gib es zu!«
»Nein, habe ich nicht, verdammt noch mal!«, fiel Valentine ihm ins Wort, ehe Lance seinen üblichen Vortrag halten konnte, den der Arzt heute nicht ertragen hätte. Doch ein Gedanke hielt sich hartnäckig in seinem Kopf. Wann hatte er seine besondere Gabe zum letzten Mal eingesetzt?
Bei Rafe Mortmain ... Der Mann hatte ihn verzweifelt angesehen und sich in seinem Ärmel festgekrallt... Das Bild verschwand ebenso rasch, wie es gekommen war.
»Ich habe mich nicht um Patienten gekümmert, sondern ...«
Sollte er ihm davon berichten, wie der »heilige« Valentine beinahe über ein junges Mädchen hergefallen wäre? »Ich hatte nur wieder eine meiner schlimmen Nächte.« Eigentlich hätte er es dabei bewenden lassen sollen, aber irgendetwas bohrte und drängte in ihm.
Lance nahm ihm die Entscheidung ab: »Man hört ja Erstaunliches von dir. Caleb erzählte, du hättest seinen weißen Hengst gekauft.« »Stimmt. Ja und?«
»Val, dieses Ross hat den Teufel im Leib!« »Und du glaubst, mit so etwas käme ich nicht zurecht?« »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« Aber Valentine spürte, dass sein älterer Bruder genau das zum Ausdruck hatte bringen wollen. Und ihn ärgerte vor allem, dass Lance damit mehr Recht hatte, als er vermutlich ahnte. »Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, denn ich bin inzwischen zu Verstand gekommen. Würdest du so freundlich sein, mir den Hengst abzunehmen?«
Der Arzt erschrak beinahe darüber, wie unwillig er dieses Angebot machte ...
Weil Lance immer alles in den Schoss gefallen ist. Er ist der älteste Sohn und damit der Erbe der Burg. Er hat eine wunderschöne Frau und einen kleinen Sohn ... Wozu braucht er da noch diesen Prachthengst?
Valentine legte die Hand auf den Splitter und glaubte, ihn pochen zu spüren. Nie zuvor hatte er seinen Bruder beneidet. Dennoch hörte er es mit Erleichterung, dass Lance das Tier ablehnte.
»Warum gibst du Caleb nicht einfach den Hengst zurück. Ich habe mehr als genug Pferde, und meine Frau würde sich nicht über einen so ungestümen Zuwachs freuen.« Ein Strahlen trat in seine Augen. »Rosalind ist nämlich schon wieder guter Hoffnung.«
»Oh ... meinen herzlichen Glückwunsch.« Warum fiel es ihm so schwer, sich für seinen Bruder zu freuen? Vielleicht, weil er auch diesmal wieder zu Rosalind musste, um ihr die Wehenschmerzen zu nehmen. Und wenn alles vorüber wäre, wäre Valentine vollkommen erschöpft, während Lance stolz seinen Nachwuchs hielte. Rosalind und Lance würden sich dann glücklich anschauen, und Valentine sich leise humpelnd aus dem Raum entfernen ...
Er musste den Splitter sofort loswerden! Der Arzt zog den kleinen Beutel aus seiner Westentasche und legte die Halskette auf seinen Handteller, ohne einen Blick auf den Anhänger zu werfen. Doch das kostete ihn ungeheure Überwindung.
Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, als er seinem Bruder den Stein reichte. Wie sollte er ihm das erklären? Vor allem das von Rafe Mortmain, dem Mann, wegen dem sie sich beinahe entzweit hätten. Vielleicht sollte er lieber damit warten, bis ihm die Geschehnisse jener Nacht wieder einfielen.
Vielleicht suchte er aber auch nur nach einer Entschuldigung, diesen Stein nicht aushändigen zu müssen. Der Arzt atmete tief durch: »Lance, es gibt da etwas, das ich dringend mit dir -«
Sein Bruder hörte ihm gar nicht zu. Er hatte wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und zog den noch nicht fertig gestellten Brief zu sich heran. »Ich muss etwas mit dir besprechen.«
»Gern, Lance, nur wenn du mir einen Moment -« »Victor ist heute Morgen bei mir gewesen.« Valentine seufzte ungeduldig. Ihm fiel es schon schwer genug, sich von dem Stein zu trennen, da musste er sich nicht auch irgendeine Belanglosigkeit über Victor anhören. Aber dann fragte er verdrossen: »Und was wollte der junge Mann?«
»Stell dir nur vor, er will Kate heiraten!« »Was? Du treibst wohl Scherze!«
»Ich wünschte, es verhielte sich so.« »Aber Victor soll doch Mollie Grey heiraten, seine auserwählte Braut!«
»Offenbar ist ihm das im Eifer des Gefechts entfallen. Nun ja, verstehen kann man es schon. Mollie ist zwar lieb, aber ein sehr einfaches Mädchen. Und ob es dir schon aufgefallen ist oder nicht, unser alter Wildfang Kate hat sich zu einer ansehnlichen jungen Dame gemausert.« Als wenn ihm das entgangen wäre. Kates Entwicklung war seine Freude und seine Folter zugleich. »Nun, Victor stand im Morgengrauen auf der Schwelle«, fuhr Lance fort, »und hat mir die sprichwörtliche Pistole auf die Brust gesetzt. Ich als Familienoberhaupt, zumindest während der Abwesenheit unseres Vaters, möge gefälligst zur Kenntnis nehmen, dass ihm die ganze Familientradition gestohlen bleiben könne. Unser Vetter ist ganz besessen von Kate und will keine andere haben.« Der Arzt musste sich am Stuhl festhalten. Nach diesen Worten drehte sich alles in seinem Kopf. Unter anderen Umständen hätte er vielleicht Victors Mut bewundert, aber hier ging es um Kate. Um seine Kate.
Seine Linke umschloss den Kristallsplitter, und das erste Rinnsal der Eifersucht entwickelte sich zu einem Sturzbach ... Aber dann atmete Valentine tief durch und erinnerte sich mit aller Kraft daran, dass das Mädchen ihm nicht gehörte.
Aber auch nicht Victor. Warum regte er sich überhaupt auf. »Ob unser Vetter nun verliebt ist oder nicht, Kate wird ihm die nötige Abfuhr verpassen.« Er rechnete fest damit, dass sein Bruder ihm sofort zustimmte. Doch Lance schwieg nur und machte eine bekümmerte Miene.
»Grundgütiger, Lance, du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass unsere Freundin überhaupt einen zweiten Gedanken an den Heiratsantrag von einem solchen Luftikus verschwendet!«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.« »Kate verachtet Victor. Oder hast du schon vergessen, wie sie ihm immer damit gedroht hat, ihn eines Tages auf ein Schiff seines Großvaters zu zwingen, damit er dort nach Piratenart über die Planke gehen müsse?« »Nein, habe ich nicht, und auch nicht, dass sie dich heiraten wollte. Gott sei Dank ist sie solchen kindischen Vorstellungen mittlerweile entwachsen.« Kindisch? Lance hielt es also für kindisch, dass das Mädchen sich in Valentine verliebt hatte? Aber er konnte sich recht gut vorstellen, dass aus ihr und diesem Holzkopf Victor ein Paar würde?
Der Arzt musste an sich halten, als sein Bruder dann auch noch meinte: »Außerdem sieht Victor ganz gut aus und zeigt bei Damen ein angenehmes Auftreten. Er kann bei den Dorfschönen schon auf erstaunlich viele Eroberungen verweisen.«
»Aber nicht Kate. Bei ihr kann er niemals landen.« »Dein Wort in Gottes Ohr.« Das amtierende Familienoberhaupt ergriff wieder die Feder und machte Anstalten, den Brief zu Ende zu bringen. »Bis dahin erscheint es mir klüger, Kate fortzuschicken, weit genug, um vor aller Versuchung gefeit zu sein.«
»Was denn für eine Versuchung?« Valentine wusste nicht, ob er lachen oder fluchen sollte.
Dann ging ihm mit einiger Verspätung auf, was sein Bruder mit diesen Worten andeutete. »Sie soll fort? Wohin denn?«
Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, als Lance erst noch eine Zeile auf das Blatt schrieb, ehe er sich zu einer Antwort bequemte.
»Nach London. Du weißt, dass Effie immer schon mit ihr dorthin reisen wollte. Sie hat eine Base in Mayfair und hofft wohl, dass diese Kate in die Gesellschaft einführen kann.«
»Das ist doch nur eine von Effies versponnenen Ideen. Kate wollte noch nie eine Ballsaison in London mitmachen, und davon abgesehen hat ihre Adoptivmutter doch gar nicht die nötigen Mittel, um sich so etwas leisten zu können.«
»Deswegen schreibe ich ihr ja auch diesen Kreditbrief. So stelle ich ihr gewisse Summen zur Verfügung, die sie überall abheben kann.«
Valentine starrte seinen Bruder verständnislos an. Das konnte doch unmöglich Lance' Ernst sein. Er erhob sich ruckartig, ohne die Schmerzen in seinem Bein zu beachten. Dann starrte er auf seinen Bruder, der eben seine Unterschrift auf den Brief setzte, der Kate auf immer aus seinem Leben zu entfernen drohte.
»Verdammt, Lance, das geht nicht! Du kannst Effie doch nicht dabei helfen, Kate wegzunehmen von -« Er unterbrach sich im letzten Moment, sonst hatte er von mir gesagt.
Der Arzt umschloss mit beiden Händen den Gehstock, um sich wieder in den Griff zu bekommen. »Von Torrecombe. Kate wird sich in London niemals wohl fühlen. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn sie den Ort wiedersieht, an dem sie ihre Kindheit verbringen musste.« »Niemand will Kate ins Waisenhaus zurückbringen. Im Gegenteil, man bringt sie in einer der besten Gegenden Londons unter, und sie besucht Bälle, Gesellschaftsessen und Theateraufführungen.«
»Als wenn Kate so etwas Freude machen würde. Sie wird sich wie eine Verbannte vorkommen, die man von zu Hause vertrieben hat. Sie wird glauben, schon wieder unerwünscht zu sein. Und das alles nur wegen eines Klotzkopfes, der sich einbildet, in sie verliebt zu sein!« Lance blickte Val angesichts seines heftigen Tonfalls erstaunt an. Daraufhin senkte Valentine den Blick und schämte sich dafür, seine eigenen Wünsche über das Wohl von Kate gestellt zu haben. Er besaß keinerlei Rechte auf die junge Frau, aber er konnte es ebenso wenig ertragen, sie zu verlieren. Der Burgherr betrachtete ihn jetzt ernst: »Schau nur, es geht doch nicht nur um Victor. Wir müssen auch an die Zukunft des Mädchens denken. Hier in Torrecombe kann nicht sehr viel aus ihr werden. London wäre da deutlich idealer, um eine gute Partie zu machen. Und genau das wünschst du ihr doch auch, oder, Val?« »Selbstverständlich«, murmelte der Arzt. Bis gestern hatte er das tatsächlich gedacht. Aber dann hatte er Kate in den Armen gehalten und geküsst... Valentine lief trotz der Schmerzen einige Schritte auf und ab. Er schloss die Linke so fest um den Splitter, dass dieser ihn in die Handfläche stach.
So vieles hatte er in seinem Leben schon aufgeben und opfern müssen. Jetzt nicht auch noch Kate. Er liebte sie schließlich, und -
Nein, das kam nur von diesem verdammten Kristall, der seine Gedanken verwirrte.
Er zwang seine Linke, sich zu öffnen und den Splitter loszulassen. Doch das nutzte ihm wenig. Der Kristall hatte sein Werk bereits erledigt - und den Schild durchstoßen, den Valentine vor sein Herz gestellt hatte, um die Wahrheit nicht sehen zu müssen.
Dass er nämlich Kate über alles liebte. Trotz der Familiensage.
Am liebsten hätte er seinem Bruder den Brief weggenommen und zerrissen.
Valentine musste sich abwenden und zum Kamin humpeln, um diesem Drang nicht nachzugeben. Er lehnte sich an den Sims und bekam nur am Rande mit, wie ein Diener anklopfte und Lance eine Nachricht überbrachte. Danach zog Lance sich die Jacke wieder an und sagte: »Tut mir Leid, aber ich habe ganz vergessen, dass ich Vaters Verwalter versprochen habe, heute Morgen mit ihm auszureiten und die Sturmschäden bei unseren Pächtern in Augenschein zu nehmen.«
Dann stand sein älterer Bruder plötzlich hinter ihm: »Mach dir mal um unsere Kate keine so großen Sorgen, alter Junge. Ich bin fest davon überzeugt, dass Victor in absehbarer Zeit wieder zu Verstand kommt. Und Kate wird sicher eine prächtige Zeit in London haben. Da wäre allerdings eine Kleinigkeit, die du übernehmen könntest.«
»Und welche?« Valentine wagte es nicht, sich zu seinem Bruder umzudrehen.
»Sprich du mit Kate. Überzeug sie davon, dass die Reise nach London in ihrem Sinn ist. Auf dich hat sie doch immer gehört.«
Valentine erstarrte und konnte es einfach nicht fassen. In diesem Moment hasste er seinen Bruder. Aber er entgegnete: »Ich will sehen, was sich machen lässt.« Erst als sein Bruder den Raum verlassen hatte, konnte Valentine wieder ausatmen. Vorher hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Lance ins Gesicht geschlagen. Doch Lance war auf der Schwelle stehen geblieben und drehte sich zu ihm um: »Ach, Val, verzeih bitte, dass ich es beinahe vergessen habe - du hattest doch etwas auf dem Herzen, oder?«
Der Arzt erstickte beinahe vor Wut. Das sah seinem Bruder mal wieder ähnlich. Erst wenn es schon viel zu spät war, ging ihm auf, dass Val auch Bedürfnisse hatte ... In diesem Moment erkannte der Arzt, dass er den Kristall nicht mehr herausgeben konnte. Genauso gut hätte er sich den rechten Arm abschneiden können. »Ach, war nicht so wichtig.«
Diesmal wartete Valentine, bis die Tür sich hinter seinem Bruder geschlossen hatte. Dann zog er den Splitter aus der Westentasche und betrachtete ihn. Die Schönheit des Kristalls durchdrang seine Seele ... und erzeugte schreckliche Bilder in seinem Herzen. Von Kate, wie sie eine Kutsche bestieg ... wie sie mit ihr davonrollte ... wie sie sich kein einziges Mal mehr umdrehte ...
Oder wie sie in Victors Armen lag!
Nein, das würde sie niemals tun. Erst gestern noch hatte sie ihm bewiesen, wie sehr sie ihn liebte.
Gestern...
Gestern hatte er es ja auch noch in jeder Beziehung mit Victor aufnehmen können. Doch heute ging er wieder am Stock und wirkte noch bemitleidenswerter als vorher. Dabei hielt er das Mittel in der Hand, sich wieder in den kraftstrotzenden Valentine zu verwandeln. Er ließ die Kette hin und her schwingen. Der Stein drehte sich, glitzerte ... verwirrte seine Gedanken ... und in diesem Moment begriff der Arzt, dass er die Kette nie mehr würde abnehmen können, wenn er sie jetzt anlegte.
Aber wenn er sie nicht anlegte, würde er Kate auf immer und ewig verlieren.
Der Stein leuchtete stärker, und der Moment der Besonnenheit verging.
Valentine zog die Kette über seinen Kopf und schob den Splitter unter sein Hemd. Der Kristall kam über seinem Herzen zu liegen - erzeugte ein Brennen und ein Frösteln. Der Arzt keuchte und knickte unter dem Ansturm der Macht ein, die ihn durchfuhr. Alles verschwamm vor seinen Augen, und er musste sich wieder am Sims festhalten. Dann war alles so schnell vorbei, wie es gekommen war. Er atmete tief ein, öffnete die Augen und konnte das Bein wieder bewegen.
Er nahm seinen Gehstock und schlug damit so lange auf die Kaminsteine, bis er zerbrach. Dann nahm er Lance' Brief, zerriss ihn und warf die Fetzen ins Feuer. Niemand würde ihm seine Kate wegnehmen. Und um diesen Victor würde er sich noch kümmern.