|7|SEMPER FORTIS

Der Junge folgte dem Wärter den Gang entlang, betrachtete den dicken, sich wiegenden Hintern, den Gürtel mit den Handschellen und dem Schlagstock und dem großen Schlüsselbund, das bei jedem Schritt rasselte.

Der blaue Hemdrücken des Mannes war verschwitzt, er wischte sich fortwährend mit der flachen Hand den Schweiß aus dem Nacken. In diesem Teil des Gefängnisses war der Junge noch nie gewesen. Die Wände waren nackt und weißgetüncht, es gab keine Fenster, nur fluoreszierende weiße Kästen an der Decke, die von innen mit toten Käfern gesprenkelt waren. Die Luft stand heiß, es roch nach Kohl. Er hörte entfernte Stimmen, jemand schrie, jemand lachte, das Klappern und Echo von metallenen Türen. Irgendwo im Radio liefen die Beatles, die neue Nummer eins, »A Hard Day’s Night«.

Normalerweise fanden die wöchentlichen Besuche in dem langen Saal neben dem Warteraum statt. Fast immer war er das einzige Kind dort. Die Wärter kannten ihn mittlerweile und plauderten mit ihm, während sie ihn zu einer Kabine führten. Dann musste er dasitzen, durch das Trennglas starren und darauf warten, dass sie seine Mutter durch die Stahltür in der hinteren Wand einließen. Immer waren zwei Wärter mit Gewehren da. Er konnte den Schrecken nicht vergessen, als er sie das erste Mal in dem hässlichen braunen Gefängniskleid und mit den Handschellen und Fußfesseln gesehen hatte, das Haar geschoren. Er hatte diesen Stich in der Brust verspürt, als würde sein Herz aufgebrochen, wie eine Muschel. Sobald sie eintrat, suchte ihr Blick seine Kabine, und sie lächelte, als sie ihn sah. Der Wärter |8|brachte sie herüber, setzte sie vor ihn hin und nahm ihr die Handschellen ab, und sie küsste ihre Handfläche und legte sie an die Glasscheibe, und er machte es auch so.

An diesem Tag jedoch war alles anders. Sie durften sich in einem separaten Raum treffen, nur sie beide, kein Trennglas. Sie würden sich berühren können, das erste Mal seit bald einem Jahr. Und zum allerletzten Mal.

Wo auch immer ihn der Wärter hinführte – es war ein langer Weg durch das Gefängnis. Ein Labyrinth von Betonkorridoren mit einem Dutzend oder mehr vergitterten und doppelt verriegelten Türen. Endlich aber standen sie vor einer Stahltür mit einem kleinen Drahtglasfenster. Der Wärter drückte einen Knopf in der Wand, und das Gesicht einer Frau erschien im Fenster. Der Türöffner summte, und die Tür sprang auf. Die Frau hatte schweißglänzende Pausbacken. Sie lächelte.

»Du musst Tommy sein.«

Er nickte.

»Folge mir, Tommy. Es ist gleich hier.«

Sie lief vor ihm her.

»Deine Mama hat uns viel von dir erzählt. Junge, ist sie stolz auf dich. Du bist dreizehn, stimmt’s?«

»Ja.«

»Ein Teenager. Wow! Mein Sohn ist auch dreizehn. Nicht ganz einfach.«

»Ist das hier der Todestrakt?«

Sie lächelte.

»Nein, Tommy.«

»Wo dann?«

»Denk jetzt nicht daran.«

Auf der einen Seite des Ganges befanden sich Stahltüren mit roten und grünen Lampen darüber. Vor der letzten Tür blieb die Frau stehen. Sie blickte durch den Spion, schloss auf und machte einen Schritt zur Seite, damit er eintreten konnte.

|9|»Geh nur, Tommy.«

Die Wände in dem Raum waren weiß, es gab einen Metalltisch, zwei Metallstühle und ein einziges Fenster, durch das die Sonne fiel und ein Quadratgitter auf den Zementboden malte. Seine Mutter stand in der Mitte, ziemlich still, schützte die Augen mit der Hand vor dem Sonnenlicht und lächelte ihn an. Statt der Gefängnisuniform trug sie eine weiße Bluse und eine Hose. Keine Handschellen oder Fußfesseln. Sie sah aus wie ein Engel. Als sei sie schon im Himmel.

Sie breitete die Arme aus und drückte ihn an sich. Es dauerte, bis einer von beiden in der Lage war, zu sprechen. Er hatte sich geschworen, nicht zu weinen. Endlich schob sie ihn von sich, betrachtete ihn, lächelte dann und strich ihm durchs Haar.

»Du musst zum Friseur, junger Mann.«

»Alle haben jetzt lange Haare.«

Sie lachte.

»Komm! Wir haben nicht viel Zeit.«

Sie setzten sich an den Tisch, und seine Mutter stellte ihm die üblichen Fragen: Wie war es in der Schule, wie lief die Mathearbeit in der letzten Woche, war das Essen in der Cafeteria jetzt besser? Er versuchte nicht nur einsilbige Antworten zu geben, zu klingen, als sei alles in Ordnung. Er verriet ihr nie, wie es wirklich war. Nichts von den Prügeleien in der Umkleidekabine, nichts darüber, wie die älteren Kinder ihn verhöhnten, weil er eine Mörderin zur Mutter hatte.

Als ihr keine Fragen mehr einfielen, saß sie nur da und sah ihn an. Sie nahm seine Hände und hielt den Blick lange gesenkt. Er sah sich im Raum um. Er war nicht so furchterregend, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Er fragte sich, wo die Gasrohre und Ventile waren.

»Ist es hier?«

»Was denn, Liebling?«

»Du weißt schon. Ist das hier die Gaskammer?«

|10|Sie lächelte und schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Wo dann?«

»Ich weiß es nicht. Irgendwo da hinten.«

»Oh.«

»Tommy, ich wollte dir so vieles sagen … Ich hatte eine ganze Rede vorbereitet.«

Ihr kurzes Lachen war unecht. Sie lehnte den Kopf zurück, und eine Zeitlang schien es, als könnte sie nicht weitersprechen. Er wusste nicht, warum, aber es machte ihn wütend.

»Aber … ich habe alles vergessen«, fuhr sie fort.

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und schniefte, dann nahm sie wieder seine Hand.

»Ist das nicht komisch?«

»Du wolltest mir wahrscheinlich sagen, mich für den Rest meines Lebens zu benehmen. Gut zu sein, das Richtige zu tun und immer die Wahrheit zu sagen.«

Er zog seine Hand weg.

»Tommy, bitte –«

»Ich meine, was weißt du schon davon?«

Sie biss sich auf die Lippe und starrte auf ihre Hände.

»Du hättest ihnen von Anfang an die Wahrheit sagen sollen.«

Sie nickte, versuchte sich zu fassen.

»Vielleicht.«

»Natürlich hättest du das tun sollen!«

»Ich weiß. Du hast ja recht. Verzeih mir.«

Eine ganze Weile schwiegen sie beide.

Der Sonnenstrahl war an den Rand des Raumes gewandert. Goldene Staubkörner schwebten im Licht.

»Du wirst ein gutes Leben haben.«

Er lachte bitter.

»Doch, Tommy. Ich weiß es. Du wirst von Menschen umgeben sein, die dich lieben und die sich um dich kümmern –«

|11|»Hör auf damit.«

»Wie bitte?«

»Hör auf, mir ein gutes Gefühl geben zu wollen.«

»Es tut mir leid.«

Er würde es für immer bereuen, dass er an diesem Tag nicht liebevoller zu ihr gewesen war. Er hatte gehofft, dass sie es verstehen würde. Dass er nicht auf sie wütend war, sondern auf sich. Auf seine eigene Ohnmacht. Wütend darauf, dass er sie verlor und nicht mit ihr sterben konnte. Es war nicht fair.

Er hatte keine Ahnung, wie lange sie so saßen. Lange genug, dass die Sonne am Fenster vorübergezogen und der Raum schattiger geworden war. Schließlich öffnete sich die Tür. Die pausbackige Wärterin lächelte traurig und ein wenig nervös.

Seine Mutter presste die Handflächen zusammen.

»Nun«, sagte sie lächelnd. »Die Zeit ist um.«

Beide standen sie auf. Seine Mutter hielt ihn so fest an sich gedrückt, dass er kaum atmen konnte. Er spürte ihr Zittern. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf die Stirn. Er aber konnte ihr noch immer nicht in die Augen sehen. Dann ließ sie ihn los, und er ging zur Tür.

»Tommy?«

Er drehte sich um.

»Ich liebe dich.«

Er nickte und wandte sich ab und ging.