Tommy hielt die Pistole mit beiden Händen. Er spähte über den Lauf und bemühte sich, sie ruhig zu halten, während er darauf wartete, dass der Indianer hinter dem Felsvorsprung hervorkam. Bei der Waffe handelte es sich um einen siebenzylindrigen kupferbeschlagenen 45er Colt mit einfacher Hahnspannung und einem verzierten Griff aus Elfenbein – das schönste Ding, das er je in den Händen gehalten hatte. Es war nicht einfach, den schweren Colt ruhig zu halten. Tommy hatte schon fünf Runden abgefeuert und jedes Mal daneben geschossen.
»Die Füße noch ein bisschen weiter auseinander«, sagte Ray Montane. »Und nicht den Atem anhalten. Nur langsam und tief einatmen. So ist es richtig. Jetzt kriegst du ihn, mein Sohn. Ziel auf die Brust, und vergiss nicht, sanft zum Abzug. Fertig?«
Tommy nickte.
»Okay. Hahn wieder spannen.«
Tommy spannte ihn. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Ray noch einmal den Stahlhebel umfasste.
»Eins, zwei, drei …«
Ray schob den Hebel nach vorn, und es gab ein krachendes Geräusch. Das Kabel spannte sich. Der Indianer tauchte hinter dem Felsen hervor und richtete die Rifle auf sie, als wollte er jeden Moment schießen. Tommy atmete tief durch und löste den Abzug. Der Rückschlag und der Knall erschreckten ihn nach wie vor. Er war sich sicher, dass er wieder nicht getroffen hatte, aber diesmal hörte es sich anders an. Ein lautes Klirren erklang. Ray und Diane jauchzten.
»Na also, Partner. Du hast ihn erwischt!«
|127|Diane saß auf einem Holzstuhl mit breiten Armlehnen hinter ihnen auf der Veranda. Sie sprang auf und klatschte in die Hände. Tommy drehte sich um, die Waffe noch immer in der Hand, und grinste.
»Hoppla, Cowboy«, sagte Ray. »Pass auf, wo du hinzielst.«
»Ist doch leer.«
»Ich weiß. Aber du musst immer nachsehen.«
Ray nahm ihm die Pistole ab, warf die leeren Patronenhülsen aus und legte sie auf den Tisch neben die großen Cocktailgläser und den Aschenbecher, in der Dianes Zigarette lag. Eine kleine Rauchsäule kräuselte sich in der heißen Luft. Die drei machten sich durch den von der Sonne heißen Sand auf, um den Indianer zu betrachten.
Tommys Sporen klirrten. Sein Blick war auf seinen eigenen Schatten geheftet. Die Krempe seines Hutes war vielleicht ein wenig groß, aber die Wirkung war beeindruckend. Der Schatten eines echten Cowboys. Er trug die Kluft, die ihm Ray am Morgen ihrer Ankunft in Los Angeles geschenkt hatte: die perfekte Kinderausführung von Ray McGraws aus Sliprock. Ray sagte, er habe sie speziell vom Studio anfertigen lassen, und sie sei viel besser als die, die man in Spielzeugläden kaufen konnte. Die Jacke und die Cowboy-Überhosen waren aus echtem, mit Fransen besetztem Hirschleder, und in dem ledernen Pistolengurt mit Silberschnalle steckten silberne Patronen, die richtig echt aussahen. Die dazu passende Pistole war natürlich nicht echt, nicht wie Rays, mit der er gerade geschossen hatte, aber sie hatte den gleichen Elfenbeingriff und sechs Kammern und Patronen, in die man Zündkapseln stecken konnte. Der Knall war laut und tat in den Ohren weh. Ray hatte ihm auch ein Daisy-Luftgewehr gegeben, das wie eine Winchester aussah. Sie hatte ein Unterhebelrepetierer und verschoss rote Schrotkugeln, mit denen man, so sagte Ray, sogar Vögel und kleine Tiere wie Streifenhörnchen töten konnte. Tommy hatte es versucht, aber bisher erfolglos.
|128|»Hey, gut geschossen, Sohn. Sieh her, genau in den Hals.«
Ray nahm den bemalten Pappindianer von dem Metallrahmen und hielt ihn so, dass sie ihn von nahem betrachten konnten. Das Gesicht über dem Einschussloch hatte Kriegsbemalung und blickte mürrisch.
»Du hast gerade deine erste Rothaut erledigt.«
Ray streckte seine Hand aus. Tommy grinste und schüttelte sie, vor Stolz errötend.
»Jetzt ist deine Mom dran.«
Diane lachte.
»O nein, ich glaube nicht.«
»Komm, Süße. Du musst es irgendwann einmal lernen. Was soll denn der alte Gary Cooper denken, wenn er herausfindet, dass seine Hauptdarstellerin nicht mit einer Waffe umzugehen weiß?«
»Ich spiele eine Lehrerin, keine Revolverheldin. Und er schert sich gewiss nicht darum.«
Ray, seine Hand an ihrer Taille, zog sie zu sich heran.
»Was meinst du, Tommy? Findest du nicht auch, sie sollte es einmal versuchen?«
»Ja! Mach schon, Diane!«
Er hatte noch nie Mom oder Mama zu ihr gesagt und konnte sich auch nicht vorstellen, es jemals zu tun. Ihm fiel es schon schwer genug, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie nicht seine ältere Schwester war. Es war wie ein Spiel, in dem plötzlich alle Regeln geändert worden waren und jeder raten musste, wer wer war.
Unheimlich oder verstörend war es einzig an jenem schrecklichen Abend gewesen, an dem alles auf den Kopf gestellt worden war. Tommy hatte nie den Blick seiner Mutter vergessen – oder besser gesagt, seiner Großmutter –, als Diane ihm die Nachricht beigebracht hatte. Oder wie sein Vater geschaut hatte, als sie sich am Gate verabschiedeten. Er war blass gewesen und |129|sah mitgenommen aus, und plötzlich waren ihm Tränen in die Augen gestiegen. Tommy hatte sich noch einmal umgedreht und gewinkt, er war erschrocken, wie alt und zerbrechlich der Mann, der in Wahrheit sein Großvater war, gewirkt hatte.
Tommy wusste auch nicht, wie er sie ansprechen sollte. Diane hatte gemeint, er solle sie Großmama und Großpapa nennen oder Joan und Arthur. Aber weder das eine noch das andere erschien ihm richtig. Als sie vor ein paar Tagen telefoniert hatten, hatte er ihnen bloß vom Flug von London erzählt und wie heiß und sonnig Los Angeles war und dass er bald in eine Schule gehen werde, die Diane und er ausgesucht hatten. Sie heiße Carl Curtis, und alle machten einen netten und freundlichen Eindruck, sogar die Lehrer. Tommy konnte seine Großeltern nicht gut hören, es rauschte in der Leitung, und sie fielen sich gegenseitig ins Wort. Trotzdem, sie klangen traurig.
Tommy glaubte, dass er vielleicht auch traurig sein sollte, aber das war er nicht. Merkwürdig, plötzlich keinen Vater mehr zu haben. Manchmal, vor dem Einschlafen, musste er an David denken, den Jungen, der sein richtiger Vater war. Er fragte sich, wo dieser David wohl lebte und was für ein Mensch er war. Vielleicht hatte er jetzt andere Kinder, Kinder, die Tommys Halbschwestern und -brüder waren. Er war nicht eifersüchtig; es war, als ob er jemanden vermisste. Doch wie konnte man jemanden vermissen, den man nie kennengelernt hatte? Oder auf Menschen eifersüchtig sein, die vielleicht gar nicht existierten?
Nein. Was geschehen war, war mit Sicherheit eigenartig, aber es hatte keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Diane hatte gesagt, sie alle seien noch dieselben, die sie immer gewesen waren. Und überhaupt, Ray würde jetzt sein Vater sein. Und wer konnte sich schon einen besseren Vater wünschen als ihn? Und wieso sollte er traurig darüber sein, dass er nicht wieder zurück nach Ashlawn musste, sondern nach Hollywood gezogen war und in Rays Garten mit echten Pistolen auf Indianer schoss?
|130|Vor zwei Wochen waren Diane und er angekommen. Sie hatten ein kleines Apartment in der Nähe vom Wilshire Boulevard gemietet, dort allerdings nur die eine oder andere Nacht verbracht, denn sie wohnten hier oben bei Ray. Tommys Zimmer war zehnmal größer als sein altes, und jeden Morgen, wenn er aufwachte, hielt er die Augen noch einen Moment geschlossen und fragte sich, ob es alles noch da sei, wenn er sie öffnete. Er stand auf, ging auf Zehenspitzen zu den geschlossenen Lammellentüren und trat auf seinen eigenen Balkon, dessen Holzbohlen sich unter seinen nackten Füßen heiß anfühlten. Der Himmel war immer blau, die Sonne warm auf seiner Haut, und die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Tommy ging ans Geländer, lehnte sich vor und blickte auf den Swimmingpool und die Palmen und die Stadt jenseits mit ihrem unermesslichen Netz aus Straßen und Palmen, die sich im Dunst verloren. Miguel, der Gärtner, mähte den Rasen und goss die Blumenbeete oder fischte Blätter aus dem Pool; er sah zu Tommy herauf, winkte und rief: »Guten Morgen, Mister Tommy! Wie geht es Ihnen heute?«
Das Haus war wunderschön. Das Dach hatte rote Ziegel, und an den rauen weißgekalkten Wänden rankten sich Pflanzen mit rosa und lila Blüten empor. Inmitten der Auffahrt, die rot gepflastert war, stand eine bronzene Statue, ein sich aufbäumendes Pferd. Im Haus waren die Wände weißgewaschen und vollgehängt mit ausgestopften Köpfen von Hirschen und Elchen und Buffalos. Es gab auch viele Gemälde mit Westernmotiven, jedes angestrahlt von einer Messinglampe. Der Boden im Erdgeschoss war aus poliertem Stein, auf dem Kuhfelle lagen oder indianische Teppiche. Im Wohnzimmer standen Stühle mit Lehnen aus echten silberbeschlagenen Sätteln. Der Fernseher war mindestens dreimal so groß wie die, die er aus England kannte, und das Ledersofa, auf dem er saß, wenn er fernsah, war so groß, dass er sich vorkam wie Alice im Wunderland, nachdem sie den Zaubertrank getrunken hatte.
|131|Ray zog einen neuen Indianer aus dem Stapel, der an der Wand der Schießanlage lehnte, und befestigte ihn am Rahmen. Danach gingen sie zurück zur Veranda, Ray in der Mitte, die Arme um sie beide geschlungen. Tommy durfte den Colt laden und machte es genau so, wie man es ihm gezeigt hatte: den Zylinder nach hinten ziehen, prüfen, ob die Waffe gesichert war, bevor er sie, Griff zuerst, Diane reichte.
»Okay, schwere Colts in zarter Hand«, sagte Ray. »Mal sehen, wie sie sich macht.«
Er zeigte Diane, wie man die Waffe halten musste, und stand hinter ihr, berührte sie an den Schultern und sagte all das, was er auch Tommy gesagt hatte. Der erste Schuss verfehlte sein Ziel, aber dann traf Diane den Indianer fünfmal hintereinander in den Kopf und die Brust. Tommy war gleichermaßen neidisch und stolz. Ray hob sie hoch und schwenkte sie herum, und dann nahm er sie in den Arm und küsste sie lange. Sie küssten sich wirklich oft. Tommy fand das ein wenig peinlich. Meistens sah er weg oder tat so, als wäre er mit etwas anderem beschäftigt.
Als sie fertig geküsst hatten, sagte Ray, er sei so hungrig, er könnte ein ganzes Pferd verspeisen. Also gingen sie zurück zum Haus, erst einen steilen, kurvenreichen Pfad entlang, dann zweiundvierzig Stufen hinauf und schließlich auf einem schmalen Kiesweg, der von Palmen, Eukalyptusbäumen und ein paar Dornenbüschen gesäumt war. Miguel hatte erklärt, die Büsche hießen yucker. Kleine grünbraune Echsen huschten über den Boden. Ray sagte, man müsse die Augen offenhalten, denn es gebe auch Klapperschlangen. Oben bei der Wiese waren die Rasensprenger angestellt, die Regenbögen machten, und Ray forderte ihn auf, hindurchzulaufen. Tommy rannte, wurde nass, aber es war egal, denn er brachte Diane und Ray zum Lachen. Außerdem war die Sonne so warm, dass er innerhalb von Minuten wieder trocken war.
Von der Wiese stiegen sie die letzten Stufen hinauf, liefen um |132|den Swimmingpool herum zur Terrasse aus weißem Marmor, wo Dolores, die Haushälterin und Köchin, das Mittagessen serviert hatte. Es gab Schinken und Pute, kaltes Roastbeef und Krabben und viele andere Dinge, auch den besten Kartoffelsalat, den Tommy je gegessen hatte. Der Tisch war mit rosa und weißen Blumen verziert und stand im Schatten einer großen alten Pinie, in der Hunderte Lichter versteckt waren, die abends, wenn es dunkel wurde, leuchteten, genau wie die Lampen im Pool und im Wasserfall, der wie ein echter Bergbach plätscherte. Ray bewohnte kein Haus, sondern einen Palast.
Tommy wusste nicht zu sagen, ob alle Stars in Hollywood so lebten, bisher war er noch in keinem anderen Haus gewesen. Aber er hatte ein paar Stars gesehen. Auf dem Flug von London nach New York (was wohl, abgesehen davon, aus einem echten 45er Colt geschossen zu haben, das Aufregendste war, was er je erlebt hatte), hatte ihn die Stewardess ins Cockpit mitgenommen. Der Kapitän und Copilot erklärten ihm die Knöpfe und Schalter, und Tommy durfte sogar einmal den Steuerknüppel halten. Auf dem Weg zurück zu seinem Platz erkannte er Charlton Heston. Der berühmte Schauspieler saß zwei Reihen vor ihnen. Es war komisch, ihn in einem Sakko zu sehen und nicht in dem Lendenschurz aus Wildleder wie in Ben Hur. Er lächelte Tommy an. Diane nervte ihn damit, hinzugehen und Mr. Heston um ein Autogramm zu bitten. Aber Tommy war zu schüchtern. Nicht einmal Diane durfte fragen, und er bereute es seither.
Nachdem sie den Jetlag überwunden hatten, hatte Ray sie in seinem Auto in Hollywood herumgefahren, einem blassblauen Cadillac Eldorado Cabriolet mit riesigen Heckflossen und Doppel-Rückleuchten, die aussahen wie kleine Raketen, und Ledersitzen, die so breit waren, dass sie zu dritt vorne sitzen konnten. Tommy saß in der Mitte und fragte sich, wo der Schaltknüppel war. Ray erklärte ihm irgendwann, der Wagen schalte von allein.
Ray stellte das Radio an, und sie hörten einen Sender, der nur |133|die neuesten Hits spielte. Sie fuhren in Richtung Osten auf dem Hollywood Boulevard und sangen so laut zu »Cathy’s Clown« von den Everly Brothers mit, dass die Leute ihnen nachschauten.
Sie hielten am Vorplatz von Grauman’s Chinese Theatre, wo die Filmstars ihre Hand- und Fußabdrücke in den nassen Zement drückten. Danach gingen sie zum neuen Walk of Fame, auf dem rosa und goldene Sterne in den Gehsteig eingelassen waren. Jeder trug einen berühmten Namen. Ray hatte noch keinen Stern, aber nur, weil die Veteranen zuerst drankamen, wie er sagte.
Während sie da standen, kam eine Gruppe von Jungen und Mädchen und bat Ray um Autogramme. Er plauderte mit ihnen und signierte Fotos, die er immer bei sich trug – für alle Fälle. Einer der Jungen fragte Diane, ob sie auch berühmt sei. Bevor sie antworten konnte, sagte Ray, sie werde bald berühmter sein als Marilyn Monroe. Also baten sie auch Diane um Autogramme. Tommy kam sich ungeheuer wichtig vor.
Sie gingen zurück zum Auto und fuhren langsam am Max-Factor-Gebäude vorbei. Das, so erklärte Ray, sei Hollywoods erster Wolkenkratzer. Das Haus hatte schwarzes Fensterglas. Tommy fand es unheimlich. Sie passierten die berühmten Tore von Paramount Pictures, wo Diane bald ihre eigene Garderobe haben sollte. Dann bogen sie wieder auf den Sunset Strip und hielten an Schwab’s Drugstore. Hier, so behauptete Ray, hingen jede Menge Filmstars herum. An diesem Tag war jedoch niemand da, aber Tommy trank einen Shake an der Ladentheke, und so kümmerte es ihn nicht weiter. Als sie gehen wollten, raste ein silberfarbenes Cabriolet heran, das geformt war wie eine Rakete, und hielt mit quietschenden Reifen. Der Fahrer sprang über die Tür heraus. Er hatte kurzes blondes Haar, trug eine Sonnenbrille, ein weißes T-Shirt und Jeans und grinste und winkte ihnen zu.
»Alles okay. Und dir?«
»Kann nicht klagen.«
Sie gaben sich die Hand. Der Mann nickte Diane und Tommy zu und lächelte freundlich, aber Ray schien sie einander nicht bekannt machen zu wollen.
»Hab gehört, die haben den Film jetzt doch mit dir in Mexiko gedreht«, sagte Ray. »Wie war’s?«
»Ach, weißt ja, ab und an ein bisschen kitzelig.«
»Wann kommt der Streifen raus?«
»Bald. Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber Sturges ist zufrieden, also …« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Und wie läuft’s bei dir? Noch mehr Sliprock?«
»Ja. Ein paar Filme sind auch geplant.«
»Kein Frieden für das gemeine Volk.«
»Ist wohl so.«
Eine unangenehme Pause entstand. Der Mann sah wieder zu Diane und lächelte.
»Hi.«
»Hallo.«
»Na ja, wir müssen los«, sagte Ray.
»Ich auch. Zigaretten kaufen. Man sieht sich.«
»Na dann.«
Der Mann senkte seinen Kopf und musterte Tommy über den Rand der Sonnenbrille. Seine Augen waren noch blauer als die von Ray. Der Mann zwinkerte und verschwand im Laden.
»Arschloch«, murmelte Ray.
Als sie zum Cadillac gingen, wollte Diane von Ray wissen, wer das gewesen sei. Ray sagte, der Kerl heiße Steve McQueen und spiele in einer Fernsehserie namens Wanted – Dead or Alive. Tommy hatte davon gehört. Ray sagte, das sei Scheißdreck, und Diane tadelte ihn, weil er vor Tommy solche Wörter benutzte. Ray entschuldigte sich, aber es sei wahr, der Typ sei ein miserabler |135|Schauspieler. Der Film, den er gerade abgedreht habe, sei bestimmt auch Scheißdreck.
»Ist nur ein Remake von irgendeinem zweitklassigen japanischen Film«, sagte er. »Mir wurde er auch angeboten, ich habe abgelehnt.«
Tommy fragte nach dem Titel des Drehbuchs, und Ray meinte, es sei so schlecht gewesen, er habe ihn vergessen. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass es um sieben Revolverhelden ging, die ein mexikanisches Dorf von ein paar abgeschmackten Bandoleri befreiten.
Tommy war schon aufgefallen, dass Ray offenbar nicht sehr viele andere Western mochte oder die Schauspieler, die darin mitspielten – abgesehen von John Wayne, James Stewart und natürlich Gary Cooper. Tommy hatte ihn gefragt, ob er je Robert Horton kennengelernt habe, den Schauspieler, der Flint McCullough darstellte. Ray verneinte, außerdem fand er, für einen Treckführer wirke er irgendwie schwul. Tommy wusste nicht, was er meinte, aber ein Kompliment war es sicherlich nicht.
Aus der Ferne hatten sie schon den bekannten Schriftzug in den Hollywood Hills gesehen. Auf dem Weg zurück zum Haus fuhr Ray einen kurvigen Canyon hinauf, sie parkten und liefen dann auf einem Pfad entlang, um einen besseren Blick darauf werfen zu können. Die Buchstaben waren riesig. Ray sagte, sie seien fünfzehn Meter hoch. Einst habe es HOLLYWOODLAND geheißen, bis jemand beschlossen habe, die letzten vier Buchstaben zu entfernen. Jetzt, aus der Nähe, hatte es etwas Trauriges. Die Farbe blätterte von den Buchstaben ab, und die Stützen waren zugewuchert und rostig. Ray sagte, vor ein paar Jahren sei Peg Entwistle, eine junge britische Schauspielerin, die keine Rollen mehr bekam, auf den Buchstaben H geklettert und habe sich in die Tiefe gestürzt.
»Ray, danke, dass du das mit uns geteilt hast«, sagte Diane.
|136|Ray lachte und legte seinen Arm um sie.
»Süße, ich habe es doch schon gesagt. Die ganze Welt wird dich lieben.«
Das Mittagessen auf der Terrasse war fast vorbei. Tommy hatte den Kartoffelsalat aufgegessen und sich eine zweite Portion Schokoladeneis gegönnt. Ray und Diane saßen am anderen Ende des Tisches, rauchten und lächelten zu ihm herüber.
»Haben sie dir in England nichts zu essen gegeben?«, fragte Ray.
»Nicht solche Sachen.«
Wie immer nach dem Mittagessen verschwanden Ray und Diane in Rays Schlafzimmer. Obwohl Tommy nicht müde war, sollte er auch auf sein Zimmer gehen und sich hinlegen. Draußen war es zu heiß, um irgendetwas anderes zu tun. Also machte es ihm nichts aus. Er lag auf seinem Bett und versuchte zu lesen. Das Buch hieß Wildfang und war gut, aber aus irgendeinem Grund kam er nicht in die Geschichte. Seit sie hier angekommen waren, drehte sich alles in seinem Kopf.
Die letzten zwei Wochen waren wundervoll gewesen. Nur mit Ray und Diane zusammen sein und Spaß haben. Aber so sollte es nicht bleiben. Morgen war Tommys erster Tag in der Carl-Curtis-Schule, und obwohl alle dort sehr freundlich gewesen waren, als er und Diane ihr einen Besuch abgestattet hatten, spürte er doch eine gewisse Nervosität. Es war albern, das wusste er. Schon lange hatte er nicht mehr ins Bett gemacht, und er kam nicht auf ein Internat. Trotzdem hatte er Angst, dass irgendjemand alles herausfand und ihn wieder Bettnässer nannte.
An diesem Abend waren Diane und Ray auf eine Party bei Herb Kanter eingeladen, dem Produzenten von Remorseless. Tommy hatte gefragt, ob er mitkommen dürfe, aber Diane hatte gesagt, dass sie erst losgehe, wenn er im Bett sei, und außerdem seien dort nur Erwachsene. Dolores sei da, um auf ihn aufzupassen. Tommy mochte Dolores. Sie war klein und sehr hübsch |137|und hatte große dunkle Augen. Zuerst hatte Tommy angenommen, sie sei mit Miguel verheiratet. Aber das war sie nicht. Sie bewohnte ein winziges Zimmer in dem Korridor zwischen Garage und Küche. Dort hing ein hübsches Bild von der Jungfrau Maria und ihrem Kind Jesus, daneben Fotos von ihrem eigenen Sohn, der komischerweise auch Jesus hieß. Dolores sagte, er lebe bei seinen Großeltern in Mexiko City. Tommy erwiderte, in England habe er auch bei seinen Großeltern gewohnt.
Als es Zeit war für Ray und Diane zu gehen, saß er schon in Schlafanzug und Bademantel im Wohnzimmer vor dem Fernseher, aß sein Abendbrot von einem Tablett und sah I love Lucy. Er hatte die Serie schon in England gesehen. So lustig wie das Publikum fand er die Sendung nicht. Die Leute schrien vor Lachen bei allem, was gesagt wurde.
Aus dem Flur hörte er ein Geräusch, und durch die große Doppeltür sah er Diane und Ray die weite Treppe hinunterkommen. Sie sahen toll aus. Ray hatte einen schwarzen Anzug mit langer Jacke an und eine Krawatte wie Bret Maverick, nur hatte er einen Totenkopf auf dem Knoten. Sein Haar hatte er mit Pomade zurückgekämmt. Er winkte Tommy zu und wartete im Flur. Diane kam herein. Sie trug ein trägerloses silberfarbenes Kleid, das bei jeder Bewegung schimmerte. Sie hatte das Haar hochgesteckt, ihre Lippen waren rot geschminkt. Sie fasste Tommy bei den Schultern und gab ihm einen Kuss.
»Gute Nacht, mein Liebling. Sei ein guter Junge.«
»Werden viele Filmstars auf der Party sein?«
»Ich denke schon.«
»Aber du bist die Allerschönste.«
Diane lachte und gab ihm noch einen Kuss.
»Du bist so lieb. Oh, Schatz, jetzt habe ich dich mit Lippenstift beschmiert.«
»Ist mir egal. Viel Spaß.«
»Gute Nacht, mein Schatz. Ich habe dich lieb.«
Die Tür fiel ins Schloss. Tommy ging ans Fenster. Eine lange schwarze Limousine wartete neben der Pferdestatue, ein Chauffeur hielt die hintere Tür auf. Diane blickte zurück, als wüsste sie, dass Tommy sie beobachtete, und warf ihm einen Kuss zu, dann stieg sie ein. Der Chauffeur schloss den Wagenschlag, stieg ebenfalls ein, und der Wagen fuhr langsam an. Die Fensterscheiben waren abgedunkelt. Tommy konnte niemanden mehr sehen. Er winkte trotzdem und wartete, bis der Wagen außer Sichtweite war.